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Westwallbunker
„Was grinst du so?“, fragt Stefan, der mich auf dem breiten roten Sofa liegend beobachtet und erwartungsvoll sein Buch in den Schoß legt.
„Ich bin grade an einem Artikel über die alten Westwallbunker. Für 35 Millionen Euro sollen die noch übrigen abgerissen und beseitigt werden“, gebe ich ihm zur Antwort. „Denkmalschützer sind dagegen, aber es wäre wohl auch ein Sicherheitsrisiko. Das Geld könnten sie sich wirklich sparen.“
„Und was gibt es da zu grinsen?“, will er von mir wissen.
„Ich dachte an meine erste Liane, die ich rauchte. Unser Kinderspielplatz war ein von den Franzosen 1947 gesprengter Westwallbunker. Mein Vater hat mir schon oft von der Detonation erzählt. Die Leute im Dorf hatten es langsam geschafft, die vom Krieg zerstörten Fenster zu richten, aber diese Sprengung hatte so eine Druckwelle, dass alle wieder zerborsten sind. Der Bunker sah danach wie ein aufgeschüttener Berg von großen Betonplatten aus.“
*
Ich stand am Rande der Betonplatte und rieb mir nervös die Schläfe.
„Hey Karin, weiter rüber darfst du aber nicht, sonst lassen wir es nicht gelten“, warnte mich Markus, der Bandenchef, als er meinen Blick zur Seite bemerkte, wo die Spalte schmaler wurde.
Drei riesige Betonplatten lagen wie ein spitzwinkliges Dreieck zueinander, zwei der Länge nach, sie bildeten den Spalt, und eine quer. Darunter stapelten sich zwei Meter tiefer kreuz und quer viele andere Betonbrocken in quadratmetergroßen Stücken.
Unterhalb der Kante, die ich überspringen mußte, um dazuzugehören, ragten überdimensionalen Würmern gleich verrostete Eisenstäbe heraus. Ich stierte mit ängstlichem Blick in das Dreiecksloch. Mein Magen zog sich auf Pflaumengröße zusammen.
Acht Augenpaare beobachteten mich. Jule, ein Mädchen mit langem roten Zopf und Sommersprossen schluckte trocken, ein anderes mit dreckverschmierter Latzhose und Bubenhaarschnitt bohrte vor Aufregung wild in der Nase. Die Jungs, die sonst bei jeder Gelegenheit mit vorlauten Sprüchen auffielen, standen mir still mit verschränkten Armen und abschätzenden Blicken auf der anderen Plattenseite gegenüber.
Das ferne Rauschen der Autobahn schien plötzlich ganz nah.
Ich ging einige Schritte zurück und holte tief Luft. Dann legte ich den Kopf in den Nacken und bat meinen Schutzengel mit atemleisen Worten, gut auf mich aufzupassen.
Ich nahm kurz Anlauf und stieß mich mit dem rechten Fuß mit aller Kraft ab. Während der kurzen Zeit, die ich in der Luft war, stierte ich, anstatt auf einen möglichen Landepunkt, gebannt auf ein paar Akazienäste. Trotzdem landete ich heil auf der anderen Seite, ohne mich auch nur mit den Händen abfangen zu müssen. Voller Übermut streckte ich den immer noch kritisch blickenden Jungs frech die Zunge heraus. „Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft“, schrie ich befreit in Richtung Markus, der auf mich zukam und mir feierlich die Hand reichte.
„Hiermit bist du in die Bunker-Bande aufgenommen. Schwöre, dass du uns die Treue hältst und der Bolzplatz-Bande keine Geheimnisse von uns verrätst.“
„Ich schwöre“, antwortete ich feierlich mit fester Stimme und strahlte meine Bande an.
„Und jetzt machen wir ein Freudenfeuer“, rief das Mädchen in der Latzhose und kletterte flott ein Stück des Plattenbergs hinunter.
„Ihr zwei geht auf den Aussichtsplatz und haltet Wache“, bekamen die zwei größten Jungs zu hören, „die anderen suchen trockenes Brennholz und bringen es zum Lagerplatz“, dirigierte Markus alle sieben zur Arbeit. Mich führte er in die Bandengeheimnisse ein.
„Schau“, wies Markus mich ein und zeigte mir an einer anderen Stelle eine Öffnung, „der obere Spalt sieht zwar klein aus, aber wenn du reingerobbt bist, wird er hinten breiter und es haben drei Leute Platz. Das ist ein gutes Versteck, wenn die Bolzplatzbande uns überfallen will und wir sind zu wenig, um gegen sie zu kämpfen. Aber pass ja auf beim Reinkriechen: Überall stehen die Eisen weg!“, erklärte er mit ernstem Gesicht und fuhr fort: „Dort links unten, das ist unser größter Spalt, unsere Feuerstelle, fast alle haben drumherum Platz. Aber da meistens zwei Wache stehen müssen, geht’s eigentlich ganz gut. Hinten oben in der Spalte liegen Streichhölzer. Die liegen aber immer dort und sonst nirgendwo, verstanden?“ Ich nickte.
Mir war ganz besonders zu Mute. Ich hatte es geschafft, in Markus’ Bande einzusteigen.
Zwar musste man auf dem Bunkergelände gut auf sich aufpassen, aber hier konnte kein Erwachsener beobachten, was wir Kinder alles anstellten, da das ganze Areal von einem dichten Akazienwald eingewachsen war.
Rasch war das Holz gesammelt und zur Feuerstelle gebracht. „Markus, darf ich anzünden?“, bettelte der kleinste der Jungen.
„Klar, Jojo, hol’ dir die Streichhölzer aus dem Versteck“, erlaubte ihm der Chef.
„Boah, guckt mal, wie das schon brennt“, strahlte Jojo kurz danach in die Runde. Nicht jeder Prügel war knacktrocken und so entstand auch noch eine ansehnliche Rauchwolke, die durch die verwinkelten Gänge der Betonscheiben den Weg nach oben suchte.
„Ich habe noch ein paar trockene Lianen gefunden“, verkündete das Mädchen mit dem Bubenschnitt stolz, „die rauchen wir auch gleich zur Feier des Tages“, und schaute mich dabei grinsend an.
***
“Von einer dieser Liane bekam ich damals umgehend Dünnpfiff und musste mit voller Hose nach Hause“, erzähle ich unter Lachen und wische mir ein paar Tränen aus den Augen.
Stefan grinst nun ebenso: „Da war wohl auch daheim die Kacke am Dampfen, oder?“
„Nein“, kläre ich ihn auf, „als sie hörten, dass ich in die Bande aufgenommen worden bin und die Mutprobe das Lianerauchen war, lachten sie sogar. Das war zwar nicht ganz wahrheitsgetreu, aber diese klitzekleine Lüge habe ich dann natürlich auch dem Pfarrer gebeichtet“, und bei diesem letzten Satz versuche ich, einen betont ernsten Gesichtsausdruck anzunehmen, „und übrigens - passiert ist auch nie etwas“, setze ich noch nach. Ich denke an das triumphierende Gefühl, das sich damals übermächtig in mir ausbreitete, als ich den Sprung über das Dreieck gemeistert hatte.