- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Werther-Tiraden
Ich saß neben ihr auf der dunklen Couch in dem dunklen Raum. Der Wodka stand in der Luft und irgendein Film lief, ich weiß aber nicht mehr, welcher. Das war mir vollkommen egal, denn ich hatte es beinah geschafft. Wir waren zu viert in dem Wohnzimmer, außer ihr noch Julian, Justus und ich. Nicht mehr lange, dann werde ich es ihr sagen, dachte ich da. Wir saßen eng nebeneinander, hielten Händchen und so. Julian und Justus spielten ihre Rolle gut, taten so als merkten sie nichts. Der ganze Wodka blieb an mir hängen, in mir. Nach einiger Zeit, als wir immer enger zusammenrückten, war der Film vorbei. Ein Schleier lichtete sich, das Licht ging an. Justus und Julian wollten fahren und taten es auch. Sie waren noch nicht aus der Wohnung raus, als ich fragte, ob ich bei ihr pennen könnte. Klar, sagte sie. Klar.
Während der Abschiedszeremonie ging ich runter in die Kellerräume und torkelte auf das Klo zu. Ich schloss mich ein. Von oben hörte ich, wie Julian und Justus sich eine gute Nacht wünschten. Dann brach es aus mir heraus. Ich war mittlerweile ganz gut darin. Sie kam die Treppe runter, merkte aber nichts. Glaube ich, denn ich kann beinah lautlos kotzen. Als ich alles weggemacht hatte und mir mal wieder geschworen hatte, nie wieder zu trinken, guckte ich in den Spiegel. Gerade 18, lange Haare, unrasiert. Ich klatschte mir das Wasser ins Gesicht. Die Mission stand mir bevor. Ich wollte meinen Schwur, es durchzuziehen, nicht brechen.
Als wir dann in ihrem Zimmer nebeneinander auf der kleinen Couch lagen, unter einem riesigen Wirrwar aus Schlafsack und Decken, lief nichts. Ich wollte, dass nichts lief. Sie auch. Mir war verdammt heiß, aber das lag nur an den vielen Decken. Durch übereilte Aktionen konnte man alles kaputt machen, oh ja, das wusste ich. Ich wollte nichts kaputt machen. Irgendwann sagte ich es ihr. „Ich weiß nicht, worauf das hier hinausläuft“, sagte sie mit ihrer Stimme, die in meinen Ohren immer ein wenig zu tief für eine Frauenstimme klingt, und drehte sich um. Ich tat es ihr gleich.
Am anderen Morgen, nach einer Nacht, die viel zu heiß war und in der ich keinen Moment geschlafen hatte, nach einer Nacht, in der ich tausendfach in ihr schlafendes Gesicht schaute und ihren warmen Atem auf meinen Lippen spürte, die viel zu spröde und zerrissen für das Küssen waren, sagte ich es ihr noch mal. In die Augen, nüchterner. Sie drehte sich um, beugte sich auf, lehnte sich über mich, bestieg mich regelrecht. Dann lehnte sie sich in mein Gesicht, starrte mich mit riesigen Augen an, jedes funkelnd wie ein Universum voller Lichter, und sagte mir: „Nein. Das wird nichts mit uns beiden. Ich bin momentan nicht in dich verliebt. Es ist ein komisches Gefühl.“
Die nächsten 3 Tage fühlte ich mich so, wie nach einer Pulle Wodka. Nur, dass ich nicht einen Schluck Alkohol trank. Statt dessen las ich immer und immer wieder diesen Werther. Goethe war wirklich ein Gott. „Die Leiden des Jungen Werther“ – wow. Das war dieses Buch, das wir im Deutsch-LK besprachen. Zweifelsohne genial. Der junge Werther verliebt sich in ein Mädel und beschreibt in den höchsten Tönen, wie sehr er sie doch liebt. Ich liebte dieses Buch.
Zum Glück war Wochenende. Ich habe noch nie so viel gelesen. Und irgendwie lief ich immer umher. In den Keller, hoch auf den Dachboden, und wieder hinunter. Ich glaubte beinah, ich sei verrückt geworden. Vollkommen verrückt.
Am Dienstag aber dann war es vorüber. Ich war ausgenüchtert, yeah. Sogar geheilt, könnte man sagen. Der Wodka verschwand, der Schnappsladengeruch verflüchtigte sich aus meinem Gemütszustand. Ich dachte mir, wenn nicht in diesen Tagen, dann halt später. Ich habe Zeit.
Am dem einen Sonntagmorgen ereilte es mich im Chatroom. „Weißt du schon, dass sie jetzt mit Jan zusammen ist?“
Ich schluckte nur. Klar, sie sind zusammen. Stimmt.
Dann schrie das Telefon. Jan war dran. Außer den normalen Floskeln “Na, ausgenüchtert”, oder Ähnlichem, sagte er nichts. Er sagte nichts. Fuck, warum sagte er nichts? Jedenfalls sprach ich ihn drauf an. Nein, wir sind nicht zusammen, sagte er. Rumgemacht haben wir zwar, den ganzen Abend lang, aber wir sind nicht zusammen. Es ist alles etwas komisch. „Ein komisches Gefühl.“
Nach viel Wodka und viel Werther dann, einige Tage später, wurde mir langsam klar, wie Recht doch der hat, der nach dem Motto „Alles Bitches außer Muddi" lebt. Ich war gut im Verdrängen. Irgendwann schmiss ich Werther in die Ecke und las wieder Perry Rhodan. Da war alles gut. Die Guten gewinnen immer, dachte ich.
Dann hatte Jan Geburtstag. Klar kam ich, war ich doch einer seiner besten Freunde. Sie kam auch, klar. Ich trank wieder viel, um es auszuhalten. Dann waren sie verschwunden. Ich ging hoch in sein Zimmer, horchte. Es war Jans Stimme und die Stimme von ihr, mal wieder ein wenig tiefer als der Standard. Besser irgendwie. Sie küssten sich. Ihre Frage, ob Jan und sie jetzt zusammen seien, bejahte er. Er war sturzbesoffen. Ich schluckte und schloss die Augen. Als ich wieder runter kam, fürchtete man um mein Leben. Nie wurde ich so bemuttert. „Das ist eine schwere Zeit für dich.“ Alle wussten natürlich, dass ich sie liebte. „Du schaffst das schon.“ Klar. Ich blieb cool, und nach einigen Bier mehr und viel Musik schaffte ich es, ohne Tränen von der Party nach Hause zu gelangen. Ganz große Leistung, wenn ich mir das so recht überlege.
Dann legte ich mich ins Bett. Das Wodkagefühl kam wieder, die alte Nummer wollte wieder gespielt werden. Ich zog meinen Papierkorb ans Bett, der praktischerweise direkt daneben stand, und begoss ihn mit Körperinnerem und mit Tränen. In welchem Verhältnis weiß ich nicht mehr. Als ich dann irgendwann wieder sehen konnte und mir den Mund abgewischt hatte, machte ich das Licht aus.
Nach einer kurzen Analyse, die zu nichts führte als zu noch mehr Tränen, versuchte ich mir einzureden, dass es alles gar nicht so schlimm sein konnte. Ich grinste in die Dunkelheit, die bescheuerten, schwach schimmernden Leuchtsterne an der Decke an. Als ich das Licht anstellte, um die dritte Packung Tempos zu entjungfern, sah ich plötzlich das Buch.
Da, wo vorher der Mülleimer stand, lag die kleine, gelbe Ausgabe von good old Werther. Beim Lesen lief ich wieder umher, wie immer. Ich liebte dieses Buch. Meine Mutter dachte sicherlich, ich würde schlafwandeln, als ich in den Keller ging, besoffen, heulend, lesend. Und als ich den Dachboden hinaufging, knartschte die Treppe wie wild, aber ich hörte nichts. Werther war ja da, er weinte ja auch. Wirklich heftig, was für eine Wirkung dieses Buch bei mir immer entfaltete. Ich hätte schwören können, ich sei verrückt. Werther liebte und sang, weinte und sprang, tanze und parodierte, und das alles in dieser unglaublich intensiven Sprache. Es war ein Briefroman, nicht allzu lang, und ich glaube, an diesem Abend auf dem Dachboden las ich ihn erneut komplett durch.
Ich weiß nicht mehr, warum dieses dicke Tau auf dem Dachboden lag. Wie zum Spaß band ich es um den Holzträger an der Decke. Ich hatte Spaß daran, den kleinen Hocker herbeizuziehen. Mittlerweile las ich laut und ich hatte aufgehört zu weinen. Werther half mir dabei. Ich konnte ihn beinah sehen. Ich stellte mich auf den Hocker und legte mir das Seil um.
„Ich leide viel, denn ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war, die heilige, belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin!“
Es war der Brief vom 03. November. Ich riss die Seite raus, zerknüllte sie und steckte sie mir in den Mund. Kurz nachdem ich starb, spuckte ich reflexartig das Papier wieder aus. Ich glaube, es schmeckte mir nicht.