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Wer zum Teufel ist eigentlich Habermass? - Habermass in Locarno
Die ganze Geschichte beginnt eigentlich nicht mit Habermass, sondern mit einem gewissen Halbeisen, und der ist, mit Verlaub gesagt, ein ziemliches Arschloch.
Dies vorweg.
In der Schule zum Beispiel prahlte er damit, auf einem Kopfkissen gefüllt mit Kuhaugen zu schlafen; denn dies sei besonders in heissen Sommernächten sehr angenehm. Oder er stellte ein Einmachglas mit Bandwürmern aufs Pult und behauptete, dass sie, wenn nur kurz blanchiert, exakt wie Spaghetti schmecken würden. Oder aber er trumpfte mit einer frisch überfahrenen Katze auf, die er zur genüsslichen Untersuchung auseinander schraubte. Und wenn er dabei seine langfädigen Erklärungen abgab und beiläufig mit früheren, noch viel spektakuläreren Sektionen angab, stank er aus dem Maul, als hätte er eben eine vertrocknete Ratte durchgespeichelt. Da halfen auch seine Läkerol nicht viel, die er wie Erdnüsschen zu verspeisen pflegte.
Besonders gern redete er mit den Mädchen, für die er auch immer einen müden Reim auf der Lippe hatte, denn dichten war, wie er damals immer wieder betonte, seine Leidenschaft und seine eigentliche Berufung. Wenn sich die Mädchen dabei leicht kötzerig abwandten, griff er sich mit dem kleinen Finger triumphierend in die Nase und zog sich eins seiner immer vorhandenen Schleimküchlein heraus. Natürlich in der Meinung, dass, wenn die Mädchen nicht schauen, er unbeobachtet sei. Das war er aber nicht, und alle wussten genau, wohin er damit ging. Man sah es Tage später noch.
Nicht nur der Dichtkunst war er damals zugetan, sondern auch dem Theater, und, was man ihm nicht gegeben hätte, dem Kindertanz, wie er es nannte, sowie dem klassischen Ballett. Er steckte sich beispielsweise tote, aber noch weiche Frösche an die Finger, die er knapp an der Tischkante einen Pas-de-deux oder auch mal mit mehreren eine Sarabande tanzen liess. Dabei pfiff er lässig durch die Zähne und prüfte mit verstohlenem Blick seinen Erfolg beim Publikum. Gerne zeigte er diese Kabinettstücklein auch, wenn man wegen irgendeiner Dummheit zum Beispiel allein mit ihm in der Pause nachsitzen musste. Damit fing wahrscheinlich auch alles an.
Was genau, wurde uns nie gesagt. Jedenfalls kam eines Tages Grädel - der Rektor - in die Klasse und meldete beiläufig, dass Halbeisen heute unpässlich sei und ziemlich sicher auch noch einige Monate unpässlich bleiben werde und dass der Biologieunterricht deshalb vorläufig mit der Lüthi stattfinden werde, die just bei diesem Satz hereinkam, während Grädel sich unauffällig dünn machte. Der Unterricht fing an und ging weiter wie wenn nichts geschehen wäre. Mein Vater schien dies ok zu finden, jedenfalls musste er etwas davon wissen, auch nur weil er ja im Gemeinderat war, aber er sagte nichts dazu.
Danach traf ich ihn, etwa zwanzig Jahre später, abends im 'Sport', einer versifften Szenebar in Locarno durch Zufall wieder. Die Haare immer noch länglich und fettlich, aber in einer schicken Kleidung und mit echt sauberer Hose, und er war immer noch gleich hager, aber neuerdings ziemlich braun. Erst erkannte ich ihn gar nicht, aber er mich. Er haute mir wie einem alten Kumpel auf den Rücken, wusste sogar noch fast meinen Namen, und stellte mich seinen Leuten vor. Zwei Typen mit schwarzrotblauen Nylontrainern mit Bügelfalten und Goldkettchen, und einem enorm dicken, älteren Herrn in Anzug, der Hochdeutsch sprach und dessen Namen ich nicht richtig verstand.
Dieser hatte eine ungleich jüngere, sehr sympathische Dame am Arm und ausserdem noch ein paar aufgekratzte Mädchen um sich, die feixten und faxten und kicherten, von denen ich aber nicht wusste, ob sie wirklich zur Gesellschaft gehörten oder eben nur einen Drink spendiert bekommen hatten. Halbeisen war auch schon ziemlich... Offenbar war er gar nicht erst zur Piazza ans Filmfestival, sondern direkt ins 'Sport' gegangen und hatte sich, schien's, schon reichlich Feuchtigkeit reingeschüttet, während ich noch schlotternd draussen in der Pisse stand und wartete, ob die Vorführung vielleicht doch noch stattfinden würde. Natürlich fand sie nicht satt. Jedenfalls, Halbeisen haute mir in seiner Gemütlichkeit fast das Bier aus der Hand, und es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, dass ich eigentlich mit ein paar Freunden hier war. Ein ziemliches Gedränge verhinderte, dass ich anständig zu meinen Leuten zurückkehren konnte. Der Dicke hatte mich ebenfalls gleich ins Herz geschlossen, und laberte in einer Vertrautheit auf mich ein, als wenn wir eben von einer gemeinsamen Weltumsegelung zurückgekehrt wären. Halbeisen reichte mir einen orangefarbenen Drink. Ich, den Schirm und die klatschnasse Jacke unter dem Arm geklemmt, das Bierglas in der linken Hand, den Drink, ohne die durchfeuchtete Camel fallen zu lassen rechts entgegennehmend, stand unbequem eingekeilt zwischen meinen Gastgebern. Dabei hörte ich zum ersten Mal den Namen Habermass. Der Dicke redete unablässig und überlaut von ihm, und die Mädchen kicherten dazu. Dabei war mir unklar, ob er von sich selbst redete oder von Halbeisen, denn bei den kurzen prahlerischen Anekdoten, die er prustend und wohl einstudiert vortrug, war er peinlichst darauf bedacht, dass der Applaus gerecht auf sie beide verteilt wurde. Hier ein Zwinkern und dort ein Puff an seine Schulter, ein vorgeschobenes Kinn in seine Richtung, aber auch mal drei Finger an die eigene Brust, ein Blick wie "Was-hätte-ich-den-anderes-tun-sollen", und immer wieder triumphierendes Gelächter und so weiter. Dabei ging es ausnahmslos um Geld, Autos, Mädchen oder Geschäfte, wie er es nannte. Jedenfalls war er, respektive eben Habermass, anfangs immer der Lackierte, zog aber letztlich trotzdem das grosse Los und die Affen, die ihn linken wollten, verloren schlussendlich selber all ihr Geld oder ihre Mädchen oder was auch immer.
Manchmal brach er eine Geschichte auch kurz vor Schluss ab, und Halbeisen durfte die Pointe geben. Dies, wohl um der Geschichte einen erhöhten Wahrheitsgehalt zu geben. Darauf folgte immer wieder aufgekratztes Gelächter und die Herren in den Trainingsanzügen grinsten bedeppert, obwohl sie wahrscheinlich nicht allzu viel davon verstanden hatten. Dafür suchten sie in ihren Hosentaschen nach irgendetwas zum Kneten.
Ich suchte derweilen Blickkontakt zu der überaus hübschen Begleiterin, einer Brünette, die den Dicken um mindestens einen Kopf überragte und sich eventuell etwas langweilte und mir bald auch bei meinem Gläser-, Garderobe- und Zigarettenproblem zur Hand ging, auch nur weil sie ja eh näher bei der Theke stand als ich. Ihr Name war irgendwie Brigitta, Britta, Birgit oder so ähnlich. Wir kamen alsbald ins Gespräch miteinander. Serge, Lina und Anne drängten sich zu mir durch und machten mich darauf aufmerksam, dass im Cosmos in dreissig Minuten der Abdulkadir-Streifen anlaufen würde, ein algerischer Newcomer, der so gut wie preisgesetzt war, aber ich hatte plötzlich kein Interesse mehr. Irritiert zogen sie davon und im Augenwinkel sah ich Anne noch einen Moment neben mir warten, ging dann aber den Andern nach.
Wir setzten uns an eines der kleinen runden Marmortischchen und sie fragte mich nach meinem Namen. Dazu schlug sie ihre wundervollen Beine übereinander und schaute mich mit ihren braunen, weit auseinander stehenden Mandelaugen an. Da wir eben von Namen sprachen, fragte ich meinerseits, welcher der beiden Herren denn nun Habermass sei. Inzwischen hatte ich nämlich das Gefühl bekommen, dass Halbeisen gute Gründe haben könnte, sich ein Pseudonym zuzulegen. Damals war ja auch so einiges über ihn in den Zeitungen gestanden, die ich aber nicht gelesen hatte, weil mein Vater sie immer gleich weggelegt hatte, und sie nicht noch Wochenlang unter dem Tischchen liegen liess, wie sonst immer.
Doch leider erwies sie sich bei diesem Thema als nicht sehr gesprächig. Mit Habermass sei das so eine Sache, wich sie aus. Eigentlich kenne sie ihn ja gar nicht. Jedenfalls der Doktor - wie sie den Dicken nannte - sei es nicht, und sein Partner - damit musste Halbeisen gemeint sein - auch nicht. Sie würden lediglich mit ihm geschäften. Langsam fing mein Interesse an Habermass an auszulaufen und ich brachte das Gespräch erfolgreich in eine andere Richtung, als der Doktor und seine zwei Trainertypen zu uns traten. Was wir zwei denn zu besprechen hätten, fragte er seine Begleiterin, und die aufkeimende Stimmung war dahin. Ich dachte an Anne und bereute, dass ich nicht den Abdulkadir schauen gegangen war. Er setzte sich waghalsig auf eines der zierlichen Bistrostühlchen, das er dabei förmlich unter sich begrub, und glubschte mich schwitzend an. Woher er eigentlich diesen Habermass kenne, und wer Habermass eigentlich sei, fragte ich ihn, und seine Reaktion war sehr erstaunlich.
Er griff sich aufgeregt ans Jackett, wie wenn er einen Ausweis hervorholen wollte, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiss von der Stirn und schaute sich unsicher um. Ich solle raus kommen, hiess er mich, hier drinnen sei es ihm zu heiss, wobei ich „heiss“ in seiner Zweideutigkeit leider nicht begriff.
Unterdessen hatte es aufgehört zu regnen und einer der Trainertypen, der hinter ihm stehen geblieben war, kam mit uns raus und führte uns zu einer knallroten Mercedeslimousine mit Heckspoiler und extrabreiten Rädern. Er liess die Türen funkgesteuert aus ein paar Metern Entfernung aufschnappen und der Doktor und ich setzten uns auf die Rücksitze, der Trainertyp sich auf den Beifahrersitz.
Was ich von Habermass wolle, wollte er keuchend wissen. Und wenn ich etwas brauche, sei ich bei ihm - und nur bei ihm - an der richtigen Adresse. Er war sehr tatterig und erregt. Ich dachte an einen Irrtum und verstand die Aufregung und die plötzliche Konspiration nicht, nachdem er vorher die längste Zeit die ganze Bar mit dem Namen Habermass beschallt hatte. Im Nachhinein muss ich sagen, dass er offenbar meine Beziehung zu Halbeisen völlig falsch eingeschätzt hatte.
Ob ich das ganze Paket wolle, fragte er mich, oder nur den Neuen, ich müsse mich jedoch rasch entscheiden, denn er habe noch andere Interessenten. Ich verstand überhaupt nichts mehr und schüttelte ratlos den Kopf. Nein, ich sei nicht geschäftlich tätig, sondern habe rein konversationshalber nach Habermass gefragt, erwiderte ich, was ihn in ein schockartiges Misstrauen versetzte. Der Trainertyp, der offenbar mehr verstand, als ich gedacht hatte, stieg aus und ging zur Bar zurück. Zurück kam er mit dem Zweiten und mit Halbeisen. Halbeisen öffnete die Tür auf meiner Seite, beugte sich herunter und rülpste mir etwas ins Gesicht, das tönte wie: ich sei es ja wohl gewesen, der ihn damals verpfiffen habe, ich Sauhund. Milan, der Zweite, riss mich aus dem Fond und stellte mich zwischen sich und seinen Kollegen.
Der erste Schlag erstaunte mich, tat aber gar nicht weh. Ich fühlte mich nur plötzlich sehr betrunken. Irgendwie hielt ich mich an Halbeisen fest und wollte etwas Nettes zu ihm sagen. Er stiess mich jedoch grob zurück, und ich versuchte instinktiv die Uhrzeit zu lesen, um mich mit einem plausiblen Grund verabschieden zu können. Dann kam ein Fusstritt, der mich in die Knie gehen liess. Ich fragte Halbeisen gepresst und am Boden vornübergebeugt, ob er eigentlich noch immer im Bildungsbereich tätig sei, nur um etwas zu sagen, blutete aber wahrscheinlich schon stark aus Mund und Nase. Er antwortete nicht sondern lächelte mir lediglich aus gut eineinhalb Meter Höhe zu. Dann folgten sehr, sehr harte Schläge und Tritte, auch von ihm, und die liessen mich die Besinnung verlieren.
Das war Alles und Nichts, was ich an jenem Abend über Habermass erfuhr. Doch nachdem ich am nächsten Morgen im Ospedale Centro ein sehr flüssiges Müsli gefrühstückt hatte und entlassen werden konnte, schwor ich mir, dieser Sache nachzugehen.