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Wer zum Teufel ist eigentlich Habermass? - Habermass in Bandul?
Habermass? Den Namen kenne ich. Er ist mir vor dreieinhalb Jahren, als wir mit dem Aufbau des Tourismuscenters auf Nau begannen, per Zufall begegnet. Ich hatte keinen Direktflug mehr buchen können, sondern im Gegenteil, ich hätte via Moskau-Algier-Casablanca fliegen müssen - ein Witz in dieser Situation und meinem engen Terminplan; Ich hätte Minbao erst in vierzig Stunden, nach einer Zwischenlandung in Dakar erreicht. Das hätte viel zu lange gedauert, denn es standen wirklich dringende Probleme an.
Nur mit Glück gelang es mir, einen Feriencharter von Genf nach Bandul zu buchen, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie und mittlerweile beliebten innerafrikanischen Umsteigedestination. Natürlich wusste ich, dass ich von dort aus selber weiterschauen musste.
Als ich ankam erkundigte ich mich gleich nach Verbindungen nach Nau oder wenigstens nach Ilha da Ñdwenda. Der Herr am Schalter wälzte Unmengen von Büchern, Tabellen und abgegriffenen Computerlisten und beschied mir nach gut zwanzig Minuten Studium, dass es nur die Möglichkeit zurück nach Genf, Genf-Kloten-Frankfurt-Moskau-Algier-Casablanca-Dakar-Nau geben würde. Keine Möglichkeit, die knapp vierhundert Kilometer Luftlinie direkt zu fliegen. Das kannte ich schon. Ziemlich ratlos suchte ich mir ein Taxi und fand mich schon mit dem Gedanken ab, ein Hotel zu nehmen und morgen wieder nach Zürich zurück zu reisen. Unverrichteter Dinge. Ich dachte an meinen Chef. In meiner Verzweiflung brüllte ich den Taxifahrer an, wie ich ihn in Zürich nie angeschriehen hätte, er solle mich unverzüglich nach Nau fahren. Er grinste mich an und kaute den wohl einzigen Wrigley's von Westafrika. „Jah Man“, surrte er, nur zwischen Bandul und Nau gebe es zu dieser Jahreszeit ziemliches Aquaplaning, „agh agh agh“, sein Wagen sei zwar gut, aber die Luft in den Reifen würde kaum zum Schwimmen reichen. Doofes Arsch. Seine Stimme kippte und dabei grinste er mich unverschämt an und hielt mich wohl für einen durchgedrehten Touristen. Trotzdem behielt er Anstand. Während er mit sechzig Sachen durch den Abendverkehr raste, schaute er mir beim Sprechen stets in die Augen.
Am Hafen lud er mich aus und wies auf einen Hofeingang, der zu einem mehrstöckigen, heruntergekommenen Backsteinhaus führte. Im ersten Stock gebe es ein Büro, das Überfahrten mache. Und richtig, ein schäbiges Papierfetzchen an der Tür liess mein Herz Salti schlagen: Ilha Ñdwenda Sailing Ltd. Das war es. Ich wollte mir einen Skipper nehmen um Nau in gut zehn Stunden zu erreichen.
Nichts zu machen. Den einzigen, den sie vor Ort haben, sei gebucht, war die Auskunft eines grauhaarigen Alten. Alle anderen seinen unterwegs. Unmöglich. Ich implodierte. Nachdem ich mich einigermassen erholt hatte, winselte ich „wirklich, wirklich, wirklich nichts zu machen?“, doch der Agent hatte sich schon wieder mit wissenschaftlichem Ernst einer abgehalfterten Telefaxmaschine zugewandt. Die Jacht sei gross, nuschelte er noch, „big boat, big boat“, und laufe morgen früh nach den Ilha Ñdwenda aus. Aber der Skipper sei, wenn einmal an Land, nicht zu sprechen.
Ich ging also zur Pier und suchte nach einem Hinweis auf die Ilha-Ñdwenda-Sailing-Jacht, fand sie aber nicht. Nur ein riesiges Motorboot, etwa fünfzehn Meter lang und mit dem mir so vertrauten Logo über dem Schiffsnamen. Das musste sie sein. Ich lauerte wie ein Hund unter der Schlachtbank und dachte, dass ja irgendwann jemand auftauchen müsse. Entweder der Skipper oder der Passagier.
Es war der Skipper, der kam. Ein schmieriger Deutscher, strohblond, ledrig und betrunken, aber guter Laune. Nur: mitnehmen dürfe er mich leider nicht. Der Törn sei exklusiv gebucht. „Oh!, hohoo!“. Er fuchtelte mit seinen eineinhalb Zeigefingern vor meiner Nase herum und glotzte mich mit roten Augen beschwörend von unten an: Das sei ein guder Gunde von ihm. Da schei n-nischtz zu machen, er sei schon oft mit ihm auf Scheeh geweschen 'nd kenne scheine Launen. Ein reicher Europäer halt. Belzer, Anton Belzer heische er, ein schubber Typ, gansch, g'nsch spr Tp und torkelte an mir vorbei. Er müsse jetzt pennen gehen. Es war ja mittlerweile auch schon halb acht, die Sonne stand zwar noch immer hoch am Himmel, aber langsam kam die Abendbrise auf. Meine letzte Chance war jetzt, diesen Belzer abzuwarten, um ihn zu bitten, mich mitzunehmen.
Ich setzte mich unter ein dünnes Bäumchen nahe der Jacht, die weiche Reisetasche im Rücken, und schaute aufs Meer hinaus. Dabei schlief ich ein.
Ich erwachte von einem Motorengeräusch. Meine Uhr zeigte Mitternacht. Merkwürdigerweise brannten bei der Jacht die Positionslichter und das Geräusch schien von ihr zu kommen. Ein kehliges, rhythmisch wippendes, von tiefem Brummen unterlegtes Hämmern. Ich rappelte mich auf und ging hin. Der Skipper stand im Cockpit und sah mich erst gar nicht. Er erschrak, als er mich bemerkte, war aber offenbar wieder nüchtern. Ich rief ihm zu, ob er denn schon auslaufen wolle. Der Passagier habe abgesagt, weil er den Dünnpfiff bekommen habe, schrie er über die Schulter zurück. Da spiele es keine Rolle, wann er zurückfahren würde. Ich glaubte ihm kein Wort, rief aber, dass er ja mich als Passagier mitnehmen könne. Ich müsse nämlich wirklich dringend nach Nau. Dies schien ihn in Verlegenheit zu bringen.
Nach langem Hin und Her hiess er mich widerwillig, an Bord zu kommen. Ich solle unter Deck gehen, was ich auch tat. Entgegen meiner Vermutung war der erwähnte Herr Anton Belzer nicht an Bord, und offenbar konnte der Skipper die Leinen alleine lösen. Jedenfalls liefen wir gleich darauf aus und gewannen rasch an Fahrt. Ich ging wieder an Deck und war erstaunt, dass wir schon so weit von Land entfernt waren. Der Skipper hantierte irgend etwas an Heck. Ich sah, wie er drei Aluminiumkoffer an dünnen Nylonseilen befestigte und über Bord warf. Was er da tue, rief ich gegen den Motorenlärm und den Fahrtwind an. Ich solle unter Deck bleiben, schrie er wütend zurück. Das seien Schleppleinen gegen Piraten.
Davon hatte ich schon gehört. Die Fischer pflegten in dieser Region nach erfolglosen Fangnächten Segeljachten auszunehmen, um wenigstens etwas nach Hause zu bringen. Dagegen halfen nur Leinen die man nach sich zog und die sich bei einer Verfolgung in den Schiffsschrauben der Fischerbote verfingen. Wie ein Fischerboot jedoch eine solche Motorjacht verfolgen konnte, war mir schleierhaft. Auch die Koffer an den Leinen waren nicht unbedingt üblich. Ausserdem fiel mir auf, dass die Leinen am Boot unter der Wasserlinie befestigt waren. Sehr unpraktisch, wenn man nach erfolgreicher Sabotage schleunigst die Leinen kappen und das Weite suchen sollte. Ich sagte aber nichts und ging wieder unter Deck. Dort legte ich mich in eine Koje, konnte aber nicht mehr einschlafen.
Schwankend und auf dem Rücken liegend kam mir Dickie Greenleaf in den Sinn. Dickie, mit Tom auf seiner letzten Fahrt. Ins Meer geworfen und erschlagen mit einem Ruder. Obwohl ich keine Parallele zu meiner Situation feststellen konnte, war mir nicht mehr sehr wohl. Vieleicht doch besser Zürich? Ich ging wieder an Deck.
Der Skipper stand jetzt im halboffenen Cockpit und überprüfte die Position. Das Schiff war luxuriös eingerichtet und verfügte über ein Sateliten-Navigationssystem. Soviel konnte ich auch als Laie erkennen. Und er war plötzlich überhaupt nicht mehr nervös, sondern erklärte mir lang und breit die Position, den Kurs, die Instrumente und so weiter, und stellte sich als Jürgen Röchow vor und wurde von Minute zu Minute gesprächiger. Er komme aus Berlin. Gelernt habe er an der Ostsee. Aber erst vor ein paar Jahren. Alles vorher sei ein schwarzes Loch, sagte er lachend. Dazu verdrehte er geheimnisvoll die Augen und fragte, was ich denn so mache. Ich erzählte ihm von unserem Tourismusprojekt auf den noch unerschlossenen Inseln. Nun, dann würden wir ja sicher ab und zu zusammenarbeiten, er sei ja quasi auch in der Tourismusbranche tätig. Er schien sich zu freuen und trank aus einer Flasche Schnaps, die er neben sich stehen hatte. Ich freute mich weniger, aber trinken tat ich anstandshalber trotzdem. Irgendwie kam er mir verlogen und verschlagen vor. Er war auch gar kein richtiger Skipper, dachte ich, ohne zu wissen warum. Trotzdem dankte ich ihm, dass er mich mitgenommen hatte. Wir wurden uns auch noch über den Fahrtpreis einig, der ihn aber gar nicht zu interessieren schien.
Ich blieb neben ihm stehen und schaute in den schwarzen Nachthimmel, und er begann plötzlich von sich zu erzählen und wurde trinkenderweise immer privater. Oh Gott. Sein Leben. Zuerst böser Stiefvater, Schläge, Kinderheim und die ganze Scheisse. Seine Mutter starb an einer Alkoholvergiftung, als er auf ein Wochenende zu ihr musste. Dann Pflegefamilie. Reiche Pinkels, sie nannten ihn Die Spargel, weil er dünn und weiss und nur zum fressen bei ihnen sei. Der Hausherr, von Beruf Chemiker, beschäftigte sich mit Gleitmaterialien, die aufeinander in eine Seite glitten, und in die andere Seite bremsten, sehr interessantes Gebiet, nur leider brannte seine Fabrik eines Tages ab und er auch. Seine Frau packte daraufhin ihre Kinder und warf sich vor den nächst besten Zug, ohne ihn mitzunehmen. Dann kam er in eine Landwohngruppe mit Sandalen bewehrten Sozialpädagogen, es gab Vergewaltigungen in einem Benediktinerkloster, zwei mal Städtisches Waisenhaus, dann Jugendarrest in einer Fischzuchtanstalt und schlussendlich irgend eine Verwahrung in einer Züchtigungsanstalt für Saupack, wie er sagte. Aber eben, er habe es trotzdem zu etwas gebracht, heute sei er ein gemachter Mann! Als Skipper? fragte ich mich, als Skipper, der nicht einmal fixe Preise verlangte? Mittlerweile wurde der Himmel heller, die Luft kälter, und bald sahen wir Land vor uns.
Er konnte nicht mehr weiter erzählen, obwohl er mich langsam zu interessieren begann, denn eine solche Häufung von makaberem Pech hatte ich bisher noch nie gehört. Er schaute immer öfter auf die Karten, den Kompass und die diversen Navigationshilfsmittel, und wurde zunehmend nervöser. Wir fuhren auf ein Zollboot zu, das uns zu erwarten schien. Jürgen wollte, dass ich wieder unter Deck ging. Ich ging, blieb jedoch bei der Luke stehen und beobachtete die Szene. Beide Boote bremsten ihre Fahrt und gingen motorlos und mit schlafwandlerischer Sicherheit längsseits.
Ein uniformierter Zollbeamter kam an Bord und begrüsste Jürgen freudig und deutlich in die plötzliche Stille hinein mit Senhor Habermass! Sie schienenen sich schon länger zu kennen. „Coisa a declarar?“, fragte er, doch die Frage war wohl nur als Scherz unter Freunden gemeint. Sie klopften sich vertraut auf die Schultern und Jürgen erwiderte: „não, nada, só alguns presentes.“ Dazu lachten sie und schienen sich über irgend etwas zu freuen. Habermass?, dachte ich nur, er hatte sich doch als Röchow vorgestellt. Ich mass dem jedoch keine grosse Bedeutung zu weil ich dachte, dass es zu Jürgen passe, verschiedene Namen zu tragen. Als ich mich umdrehte und ganz unter Deck gehen wollte, entdeckte mich der Zollbeamte. Er wurde furchtbar aufgeregt und fuchtelte mit seinem Funkgerät herum. Ein zweiter Zöllner kam an Bord und legte mich kurzerhand in Handschellen, während Jürgen beschwichtigend auf seinen Freund einzuwirken versuchte. Ich musste auf das Zollboot umsteigen und wurde auf die Präfektur gebracht.
Zwei Tage verbrachte ich in einer Zelle, ohne Kontakt mit meiner Firma aufnehmen zu können. Danach wurde ich endlich einvernommen. Ich wurde durchgehend und allen Protesten und Erklärungsversuchen zum Trotze mit Mister Belzer angesprochen, und es wurde mir ein perfekter deutscher Pass mit meinem Foto und eben diesem Namen vorgelegt. Einmal musste ich mich in eine Reihe von sechs oder sieben anderen Männern stellen und wurde von einem dicken, europäisch wirkenden Herrn begutachtet. Ich las von seinen Lippen 'dois' ab; meine Position.
Danach verbrachte ich fünf Monate in einer stickigen dreckigen Zelle und wurde dann eines Tages wie ein Hund kommentarlos vor die Mauern gestellt. Ohne mein Gepäck, ohne mein Geld und ohne meinen Pass. Auf meine Nachfrage wurde mir lediglich ein Gewehrkolben vor’s Gesicht gehalten. Meine Stelle war natürlich futsch, längst neu besetzt, und ich konnte nur dank der Grosszügigkeit der portugiesischen Botschaft nach Zürich zurück reisen. Dort wurde ich gleich wieder hops genommen und wegen Passfälschung angeklagt. Scheisse! Belzer sei vor zwei Jahren nachweislich bei einer Razzia in einem römischen Puff erschossen worden. Er habe die Waffe zuerst gezogen. Item, ich würde diesem Habermass-Röchow-Belzer oder wie er auch immer heisst, ganz gerne mal die Fresse polieren. Und vor allem würde mich interessieren, was er mit diesem verdammten Habermass zu tun hat. Denn Habermass selber war er, wie ich unterdessen weiss, bestimmt nicht.