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Wer zuletzt lacht
Simon saß auf der Kirchenbank und weinte. So schlimm wie heute war es schon lange nicht mehr gewesen. Seine rechte Schulter schmerzte so sehr von den Schlägen, dass er kaum den Arm rühren konnte und zu allem Überfluss hatte er die schreckliche Befürchtung, dass all seine Schulbücher kaputt sein würden. Seine Tasche, die neben ihm auf dem verblichenen Mosaikboden der Kirche stand, war komplett durchnässt. Man hatte sie ihm heruntergerissen und versteckt. Als er sie, dem Hinweis eines Schülers folgend, mit dem er noch nie zuvor geredet hatte, im Duschraum der Turnhalle gefunden hatte, musste sie dort schon mindestens eine Stunde unter dem laufenden Wasser gelegen haben. Lieber Gott, bitte mach, dass das aufhört, betete Simon in Gedanken. Er hatte vor einiger Zeit damit angefangen, nach Schultagen wie heute, in die Kirche zu kommen und zu beten. Woanders konnte er sowieso nicht hingehen, wenn er weinen musste.
Wenn sein Vater mitbekommen würde, dass er weinte, weil er in der Schule gemobbt wurde, dann würde er zu Hause noch einmal Prügel beziehen. „Ich habe dich nicht zu einem verschissenen Weichei erzogen“, würde sein Vater dann wieder brüllen, während er auf seinen Sohn eindrosch. Seine Mutter, die schreiend und weinend danebenstand, war dabei auch keine große Hilfe. Im Gegenteil, das schien seinen Vater sogar zu beflügeln, noch kräftiger zuzuschlagen. Schließlich hatte er als guter Vater dafür zu sorgen, dass sein Sohn sich nicht so mädchenhaft verhielt, wie die Schlampe, die er geheiratet hatte.
Also kam Simon lieber in die Kirche, wo unter der Woche kaum andere Menschen anzutreffen waren. Messen wurden hier nur am Wochenende abgehalten. Lieber Gott, bitte mach, dass sie mich in Ruhe lassen, betete er weiter. Wenn man mit vierzehn Jahren einige Kilogramm zu viel auf die Waage bringt, und sich dann auch noch erlaubt, eine Brille zu tragen und modisch nicht auf dem neuesten Stand zu sein, dann ist es fast so, als würde man darum betteln, geschlagen zu werden. Dabei bekam man in der Schule so gut wie nichts von ihm mit. Simon hatte schnell gelernt, dass es in seiner Situation nicht ratsam war, aufzufallen. Weder positiv, noch negativ. Doch irgendeinen Grund schien es immer wieder zu geben, ihn boxen oder treten zu müssen. Immer noch rannen Tränen über Simons Gesicht. Dass heute ein Mädchen dabei gewesen war tat ihm am meisten weh. Wie konnten Menschen so gemein sein? Er hatte ihnen nichts getan. Nie. Der Gedanke daran, dass morgen jeder wissen würde, dass der unnütze, fette Simon sich von Mädchen schlagen ließ, drehte ihm den Magen um. Kurz hatte er das Gefühl, sich auf die Kirchenbank übergeben zu müssen. Er war es so leid, dass alle immer gegen ihn waren.
Und dann betete er. Doch nicht zum lieben Gott, wie er es schon hunderte Male getan hatte. Ihm war plötzlich ein Gedanke durch den Kopf geschossen. Gott schien offenbar keinerlei Interesse daran zu haben, Simon zu helfen. Stattdessen betete er zu den Toten. Er wusste selber nicht, ob er daran glaubte, dass irgendjemand ihn hören konnte, aber was hatte er schon zu verlieren? Auf der ganzen Welt gab es Menschen, die sich das Leben genommen hatten, weil sie gemobbt worden waren. Menschen, die ähnliches durchgemacht hatten, wie er selbst und irgendwann keinen Ausweg mehr gewusst hatten. Menschen, die verstehen mussten, wie es ihm ging. Simons Mutter hatte immer gesagt, Selbstmord sei Sünde. Nur der liebe Gott selbst dürfe entscheiden, wann Menschen aus dem Leben schieden. Wenn man ihm diese Entscheidung abnahm und Selbstmord beging, kam man in die Hölle. Simon wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und begann leicht zu zittern. Er hatte eben einen Entschluss gefasst. Er wollte sich nicht mehr alles gefallen lassen. Er wollte Rache. Also betete er zu allen Selbstmördern dieser Welt, die wissen mussten, wie es ihm ging, die ihn verstehen mussten. Und er hoffte, dass sie ihn hörten. Und vor allem hoffte er, dass Selbstmord Sünde war, denn die gestraften, gepeinigten Toten sollten sein Hilfegesuch spüren und sie sollten blutrünstig und böse sein und an seiner Seite, wenn er zur Schule musste. Solang er nicht wieder ganz alleine war, war ihm jede Hilfe recht. Jede.
Sie waren blutrünstig und böse und fuhren unaufhaltsam in seinen Körper, nisteten sich ein in seinem Inneren und vergifteten jeden Funken Gutes, der noch in ihm schlummerte. Gepeinigte Seelen kreischten ihre Klagelieder unter seiner Haut und verfluchten die Überreste seiner Seele. Alles Reine in seinem Körper war verpestet, Hoffnung und Liebe auf ewig erloschen.
Es musste inzwischen ein oder zwei Uhr morgens sein. Simon lag in seinem Bett, doch er schlief nicht. Er hatte die Augen weit aufgerissen und schrie aus Leibeskräften, doch außer einem grässlichen, erstickten Gurgeln entwich seiner Kehle kein Ton. Er hatte das schreckliche Gefühl, zu ersticken. Sein Mund war so trocken, dass seine Zunge brannte. Doch den verfluchten Schluckreflex konnte er nicht unterdrücken. Noch nie in seinem Leben hatte Simon sich so sehr nach Flüssigkeit gesehnt. Jedes Mal, wenn seine Zunge und sein Hals, beide so trocken wie Wüstensand, sich erneut ihrer Tätigkeit hingaben und der Schluckreflex einsetzte, hatte er das Gefühl tatsächlich ersticken zu müssen. Die Kehle schien aufgrund des fehlenden Speichels beim Schlucken zuzukleben und er konnte nichts dagegen tun. Die Kontrolle über seine Gliedmaßen hatte er verloren. Seine Beine zuckten unkontrollierbar und die Arme waren in die Höhe gestreckt, als versuchte er, sich an einer unsichtbaren Reckstange hochzuziehen. So lag er da. Hilflos und in Todesangst und fungierte als Wirt für die grässlichsten Parasiten, die die Welt hervorbringen konnte. Immer mehr Dämonen fanden den Weg in sein Inneres, ernährten sich von der wunderbaren, süßen Panik, die von ihm ausging, labten sich an der Todesangst, die, wie Pheromone, eine so betörende, unwiderstehliche Wirkung auf sie hatte. Und dann hörte es schlagartig auf. Simons Arme plumpsten herunter, seine Beine hörten auf zu zucken und es war totenstill, bis auf sein eigenes Keuchen und Schnaufen. Sein Kopf war nicht mehr, wie zuvor, gefüllt mit zusammenhanglosen Wortfetzen, die nicht seine eigenen gewesen waren. Eine wohltuende Welle nüchterner Überlegungen flutete jetzt seinen Kopf. Er wusste genau, was jetzt zu tun war. Es war fast so, als hätte er es gar nicht entscheiden müssen. Sein Gehirn hatte die Entscheidung bereits getroffen, noch bevor er daran gedacht hatte. Wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden stieg er aus dem Bett und griff sich, was er brauchen würde.
Marco Romano stand das blanke Entsetzen in den Augen. Keine Spur mehr von seiner Überlegenheit, die er in der Schule so gerne zur Schau stellte, wenn er vor möglichst vielen Schaulustigen Simon schubste und schlug und nach ihm trat. Der Trottel mit dem lächerlichen italienischen Namen fixierte Simons linke Hand.
„W… w……“. Er versuchte zu reden, doch konnte keine richtigen Worte formen.
„Fresse“, sagte Simon nur. „Wenn du schreist, stech‘ ich zu. Alles klar?“
Marco nickte nur und Simon packte das Messer in seiner Hand etwas fester.
„Du bist ein Idiot, weißt du das?“
Marco nickte wieder. Noch nie im Leben hatte Simon etwas so dermaßen genossen, wie dieses Gefühl der Überlegenheit. Er hatte seinen Peiniger unter Kontrolle. Und dann stach er zu.
Simon rammte ihm das Messer seitlich in den Hals und zog es gleich wieder heraus. Blut spritzte aus der Wunde. Mit jedem Herzschlag eine weitere Fontäne. Der Schreibtisch, die Wand, das Bett, alles war voller Blut. Auch die Katze, die auf dem Bett geschlafen hatte, wurde getroffen. Simon packte sie beim Schwanz noch bevor sie davonlaufen konnte und rammte auch ihr das Messer in die Seite. Dafür gab es keinen Grund, aber es war ein so gutes Gefühl, als das Messer das Fleisch durchbohrte. Dann legte er die Mordwaffe beiseite und setzte sich aufs Bett. Ein leichter Wind wehte durch das offene Fenster, durch das er gekommen war und zerzauste ihm die Haare. Er hatte gespürt, dass das Fenster offen sein würde, hatte gewusst, dass alles reibungslos funktionieren würde. Gerade so, wie er es sich vorgestellt hatte. So saß er da, in Gedanken versunken und wartete darauf, dass jemand ihn fand.