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Wer zu spät kommt...
Es war ein verregneter Märzmontag, als ich in meinen rostigen Kombi stieg. Das ausgeleierte Zündschloss knirschte und es schien riskant, den Schlüssel noch weiter zu drehen. Alles durfte passieren, nur eines nicht: Ich dürfte heute nicht zu spät kommen! Mutig biss ich die Zähne zusammen, wagte die letzte Viertelumdrehung des Schlüssels und der Motor sprang mit einem Husten an. Das darauf folgende Schnurren der vier geölten Zylinder, die über meinen kalten Füßen vibrierten, beruhigte mich und Erinnerungen an einen roten Kater aus Kindertagen erwachten. Der Gedanke gefiel mir und lockte ein Blitzen in meinem Augenwinkel hervor. Fünf Minuten später startete ich in Richtung München.
München! Noch nie zuvor war ich in einer Großstadt gewesen und noch nie zuvor ängstigten mich Menschen. Warum auch? Ich kannte jede verknöcherte Seele in meinem Ostfriesischen Heimatdorf und jede Seele kannte mich seit meiner Geburt vor 30 Jahren. Unter ihnen, die längst den Herbst des Lebens erreicht hatten, stach ich hervor wie die falsche Zahl in einer aufgehenden Gleichung. Die Alten spotteten, ich habe den Absprung verpasst; ich scheue das Leben. Ihr Verdacht prallte seit Jahren an mir ab. Was mich all die Zeit unter ihren warmen Septembersonnen hielt, nannte sich Familie. Und nun blieb ich allein zurück, weil meine Mutter als letzte Bastion meiner Vorfahren vor sechs Wochen viel zu früh verstorben war. Meine Zukunft hieß München und mit dieser Stadt wartete ein gutdotierter Job in der Softwareentwicklung auf mich. Schon immer lockte mich das Versteck, das sich hinter einem flackernden Bildschirm auftat, magisch an. Es bot mir Schutz vor der Welt da draußen, wenn ich hinter der Plasmascheibe in andere, logische Sphären abtauchte. Diese Höhle hatte einen wahren Meister meines Faches aus mir werden lassen und genau das war es, was im Tausch für eine neue Zukunft stehen sollte. Ich dürfte heute nicht zu spät kommen!
Nach vier Stunden verflog die knisternde Anspannung; wurde hinweggetragen vom Singen der Reifen auf dem grauen Asphalt. Gleichsam summend setzte ich den Blinker rechts, wechselte die Autobahn und hypnotisiert vom Klang der Zukunft fuhr ich entspannt bis … bis ich begriff, dass meine Zukunft längst ohne mich abgebogen war, als ich die falsche Abfahrt genommen hatte. Den Tränen des Versagens nahe, steuerte ich meinen Wagen zur nächsten Raststätte, um nach dem Weg zu fragen. Niemand half mir. Inzwischen schien es aussichtslos, pünktlich zum Bewerbungsgespräch zu erscheinen; aussichtslos und sinnlos zugleich. Mein Innerstes zeigte aufgewühlt, dass ich der Welt da draußen tatsächlich nicht gewachsen war und ich sank auf einer hellbraungepolsterten Sitzbank im Imbiss der Raststätte nieder und heulte. Mehr tat ich nicht; mehr konnte ich nicht tun.
Es mussten etwa zwei Stunden vergangen sein. Die erbarmungslos tickenden Zeiger der Uhr verrieten, drei Manager warteten in München vergebens auf mich. Mit roten, verquollenen Augen sah ich auf und ein Mann stand vor mir. Er schwieg. Dann ging er so wortlos, wie er aus dem Nichts meiner trostlosen, einsamen Welt erschienen war. Zehn Minuten später saß ich ihm wieder gegenüber und führte das einzige Bewerbungsgespräch meines Lebens: die Bewerbung um meinen zukünftigen Ehemann und Vater unserer Kinder. Jetzt verstand ich es: Ich durfte heute nicht zu spät kommen!