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Wer kommt zu mir ins Stroh?
Wer kommt zu mir ins Stroh?
Endlich Wochenende, dachte Katrin. Endlich. Raus aus der Stadt und hinaus aufs Land. Die ganze Woche hatte sie diesen Augenblick herbeigesehnt. Mehr denn je. Fort vom freundlichen Chef, verheiratet, den sie regelmäßig dabei erwischte, wie er seinen Blick von ihrem Hintern auf ihr Gesicht korrigieren musste, wenn sie sich vorm Verlassen seines Büros noch einmal zu ihm umdrehte. Fort von den Smok durchströmten Straßen, von Menschenmengen und Beton. Und nicht zu letzt fort von Mama, verwitwet, die den ganzen Tag in ihrem Sessel auf sie wartete, um ihr von ihrem jungen Chiropraktiker, ledig, zu erzählen. Katrin wartete nur darauf, ihn eines Tages bei ihrer Mutter anzutreffen. Ganz zufällig. Natürlich. Dabei war die Sache mit Karsten gerade erst vor zwei Wochen zu Ende gegangen und sie wollte vor allem auch fort von ihm. Der Alltag hatte die Beziehung eingeholt. Mal wieder. Mama sagte, sie sei schon immer ein Beziehungschaot gewesen. Wieso mussten die Männer aber auch immer gleich einen auf ewig machen. Karsten war nicht der Erste gewesen, der nach wenigen Monaten mit einem Ring in der Tasche vor ihr niedergekniet war. Sie hatte es kommen sehen. Schließlich war es das naturgemäße Verhalten eines Menschenmännchens, dem der Sinn für Romantik und die spärliche Phantasie ausgegangen waren. Sie hatte für diesen Fall schon mal ihre Sachen einigermaßen griffbereit gehalten und ihn wortlos dort knien lassen. Seitdem rief er regelmäßig bei Katrin und ihrer Mutter an. Sollte er doch Ally McBeal einen Heiratsantrag machen.
Sie war direkt von der Arbeit losgefahren. Aus den Boxen dröhnten die No Angels, die Sonne strahlte und die Straße gehörte nur ihr allein. Mit der einen Hand lenke sie den Peugeot, mit der anderen griff sie nach der Colaflasche, die neben einer Plastiktüte auf dem Beifahrersitz lag. Sie hatte sie mit einem kleinen Schluck vom besten Überseerum verlängert. Nur für den Geschmack. Natürlich. Sie nahm einen kräftigen Zug und trommelte mit der anderen Hand im Rhythmus zur Musik auf ihre Beine.
Sie hatte es geschafft, den einsamen Bauernhof geheim zu halten, den sie vor ein paar Wochen auf der Heimfahrt von einer Messe entdeckt hatte. Sie war die Strecke schon einige Male gefahren, aber der Hof war ihr bis dahin nie aufgefallen. Er war aber auch verdammt leicht zu übersehen. Im Schatten des kleinen Eichenwaldes schimmerten die fahlen Flecken des Fachwerkes nur schwach durch die Stämme. Aus reiner Neugier war sie dem langen Feldweg durch das alte Holzgatter gefolgt. Sie war davon ausgegangen, das Gehöft sei verlassen, aber beim Durchstöbern konnte sie Geräusche aus einem der Löcher im Scheunendach hören. Durch einen Spalt der Stalltür konnte sie nach Drinnen spähen. Die Leiter zum Heuboden ächzte, als die Beine eines Mannes herabstiegen. Es folgte der bullige Rücken, der abgesehen von den Riemen der Latzhose völlig unbedeckt war. Als der Stallbursche sich umdrehte und Anstalten machte, zu ihr herüber zu kommen, zuckte sie zurück.
Erst als der Funkturm und die ersten Hochhäuser der Stadt in Sichtweite kamen hatte ihr Herz zu rasen aufgehört. Am folgenden Tag war sie sich nicht mehr ganz so sicher gewesen, ob sie vielleicht nur einen abenteuerlichen Traum gehabt hatte. So oder so musste sie immer wieder an diesen Kerl denken. Sie träumte mehr als einmal von ihm. Und dann war da plötzlich diese fixe Idee und sie begann ein gewisses Eigenleben zu entwickeln.
Ihr fiel auf, dass sie eigentlich schon eine ganze Weile musste. Sie hielt bei der nächsten Überholbucht am Straßengraben an und stieg aus dem Wagen. Sie blickte umher, aber außer dem Reiher am Rande des gegenüberliegenden Stoppelfeldes war keine Seele weit und breit zu sehen. Was die Männer konnten, das konnte sie schon lange. Also zog sie kurzerhand die Hose ihres Kostüms herunter und hockte sich hinter eine der Pappeln und schloss die Augen. Das Gras kitzelte über ihre nackte Haut, der Wind streifte ihr Gesicht und das leise Plätschern des klaren Baches ließ sie endgültig die Stadt vergessen.
Als sie wieder im Auto saß, griff sie nach der Plastiktüte, die sie für ihre Landpartie vorbereitet hatte. Sie war ein wichtiger Bestandteil ihres Planes. Sie kletterte mit der Tüte in der Hand hinüber auf den Beifahrersitz. Dann entnahm sie ihr die Dose mit den Kontaktlinsen, öffnete sie und stellte sie auf das Armaturenbrett. Danach kramte sie einen Lippenstift hervor. Sie hatte ihn extra noch nicht benutzt, aber jetzt war es so weit. Ein kritischer Blick durch ihre Brille in den Beifahrerspiegel, ein erneutes Gegeneinanderreiben der Lippen und der erste Schritt der Verwandlung war vollzogen. Eigentlich könnte sie ja auch gleich zu ihrer Hauptattraktion übergehen. Es war jeden der fünfzig Cent wert gewesen. Sie hatte es ganz unten aus einer Grabbelkiste in der hintersten Ecke eines Secondhand-Ladens gefischt. Die weiße, halbdurchsichtige Kunstseide war mit einem Blütenmuster bedruckt, auf das Mama stolz gewesen wäre. Ihr hatte Katrin das viel zu kleine Kleid trotzdem nicht gezeigt. Natürlich nicht.
Während sie sich aus dem engen Kostüm befreite stieß sie gegen den Behälter mit den Kontaktlinsen, welcher seinen Inhalt über den Schaltknüppel ergoss. Mist! Und keine Reinigungsflüssigkeit dabei. Aber daran sollte ihr Vorhaben nicht scheitern. Dann würde sie halt die Brille aufbehalten, denn ohne würde sie sich ihren Weg ertasten müssen und hätte keinen Meter weit gucken können. Sie holte das Kleid aus der Tüte und zog es über den Kopf, bedacht darauf es nicht mit Lippenstift zu verschmieren. In der Tüte befand sich jetzt nur noch das Parfüm. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wieso sie ausgerechnet dieses, Blütenzauber, eingepackt hatte. Irgendwie erinnerte es sie an den Bauernhof. Karsten war es viel zu süß gewesen. Sie musste lachen, als sie sich vorstellte, was er für ein Gesicht machen würde, wenn er davon erführe. Sie blickte an sich herab. Dann stellte sich vor, wie er sie finden würde. Wenn sie ganz verwegen wäre, würde sie den BH drunter weglassen. Nur schade, das mit der Brille.
Sie fand die Kontaktlinsen und die Dose und verstaute beides im Handschuhfach. Als sie den Schlüssel wieder ins Zündschloss steckte, wurde ihr mit einem Mal klar, dass dies schon lange kein Traum mehr war. Sie war im Begriff es tatsächlich zu tun. Wie lange würde sie auf dem Heuboden auf ihn warten müssen? Würde er überhaupt mitspielen? Was ist, wenn er nicht da ist? Sie musste es versuchen. Es gab ja nichts zu verlieren. Natürlich nicht. Vielleicht würde sie die Brille doch noch abnehmen.
Es waren seine Freunde. Und er mochte sie sehr gerne, dachte er und kaute auf einem Stück Fleisch. Es waren große Freunde und kleine. Manche sehr dick, andere ganz dünn. Die Dicken waren schwer und manche von den Dünnen konnte er mit einer Hand hochheben. Und er hatte sie alle gern. Ihm hörten sie immer zu, wenn er zu ihnen kam um ihnen etwas zu erzählen. Früher, als er noch keine Freunde gehabt hatte lachten die Menschen über ihn, wenn er etwas erzählte. Nur seine Mama lachte nie. Seine Mama war sein erster Freund gewesen. Und danach wurden es immer mehr. Er hatte sogar einen mit Pistole. Er war er zu ihm gekommen und hatte ihm Fragen gestellt. Und dann ist er sein Freund geworden. Er spielte gerne Verstecken und Packen mit seinen Freunden. Er fand sie alle und er war immer der Schnellste. Und er nahm sie in den Arm. Manchmal konnte er gar nicht damit aufhören.
Seine Freunde mochten ihn auch. Sie sorgten dafür, dass er immer etwas zum Essen hatte. Seine Mama hatte ihm sonst immer etwas gemacht, aber jetzt war sie ja seine Freundin und da reichte das Essen nicht lang. Mama war schon alt und dünn. Deshalb war er froh, dass er seine Freunde hatte. Oft musste er lange gehen um neue Freunde zu finden, bis zu den großen Häusern und dem riesigen Baum aus Stein. Das machte ihm nichts aus. Für seine Freunde tat er alles. Er versteckte sie auf dem Heuboden. Unter dem Stroh war es schön trocken und warm. Wie es seinen Freunden wohl ging? Er wollte aufstehen und nachsehen. In der Hofeinfahrt stand ein Auto. Das war ungewöhnlich. Und die Stalltür war offen. Ein seltsam süßer Duft lag in der Luft. Er ging hinüber. Da schrie jemand vom Heuboden. Wer konnte das sein? Wer kommt zu mir ins Stroh? Vielleicht ein neuer Freund.
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Anmerkung:
Den Text habe ich für ein Schreibseminar in der Uni geschrieben.
Die Aufgabe: Schreibe eine Nacherzählung einer Titelstory der BILD vom 22. Oktober. Die Geschichte, die ich gewählt habe stand neben dem Bild einer barbusigen Frau im Stroh.
Der Artikel ging wie folgt:
Wer kommt zu mir ins Stroh?
Katrin ist ein echter Landfreak. Jede freie Minute düst sie auf den Bauernhof. Und ihr absoluter Lieblingsplatz ist der Heuboden. Besonders gern mag sie es, wenn Stroh über ihre nackte Haut kitzelt. Deshalb hat das süße Naturkind flugs ihr Kleid gelupft. Ausgerechnet dann kam dieser gutgebaute Knecht vorbei. Für den schwärmt Katrin doch schon ewig.