Wer kann mir das erklären?
Mein Herz pocht bei ihrem Anblick und ich weiß, warum. Ein guter Tröster, hatte ich mir gedacht, ein Lückenfüller, ein Krumen Leben, gestreut in mein tristloses Einerlei, seitdem Anni fort war. Erst drei Wochen her? Egal, nach ein paar Bier vergisst man dergleichen. Sie wankt heran. Nicht Anni, Anni trank nicht! Gute Party, denke ich, der ganze Mist vorher (Vorglühen, Schwachsinn reden, unnütz Geld ausgeben) hatte sich gelohnt. Es macht Spaß, alleine zu sein. Nein, auch das ist falsch: Es tut bloß für einen Moment nicht weh, zu wissen, dass niemand zu Hause wartet. Sie wankt heran und fragt mich, warum ich nichts zu trinken hätte. Wo gibt’s denn was, erwidere ich. Sie bringt ein Oettinger aus der Badewanne, dessen Etikett abgeblättert sein musste: Die Badewanne ist zwecks Kühlung gefüllt. Wir trinken ein wenig, sie zieht fort.
Stunden später, Aufbruchstimmung. Der Freundeskreis trommelt sich selbst zusammen. Im Treppenhaus steht ein Grüppchen. Einer fehlt. Ich gehe ihn suchen und finde nur sie, reichlich angetrunken. Sie folgt mir, zieht sich die Jacke an. Ich frage, wohin sie möchte. Mal schauen, was ihr so treibt, sagt sie.
Wir brechen auf. Es geht nur langsam vorwärts. Die Stadt liegt kühl und starr danieder, denke ich noch, wie der See im Weihnachtslied. Sie wankt stark. Ich laufe neben ihr. Vor uns ein Half-Night-Pärchen (sie lässt ihn später sitzen), hinter uns der Rest, der sich viel zu erzählen hat. Das Pärchen knutscht etwas. Es sieht nicht sehr pathetisch aus, denke ich, als sie plötzlich noch mehr ins wanken gerät. Ich halte, stütze sie. So gehen wir weiter.
Endlich wieder Wärme. Ein Arm um die Hüfte, der – Vorsicht, Exposition – nicht glaubt, mangels Liebe Beziehungsinsolvenz anmelden zu müssen. Vom Gegenteil wage ich nicht zu sprechen, aber die Hüfte – und das ist das wesentliche – wird gebraucht. Endlich wieder etwas zu verschenken, zu geben. Wann brauchte mich Annika zuletzt? Ich löge, würde ich behaupten, diesen Gedanken nicht nachträglich eingezimmert zu haben. Im Präsens spielt er keine Rolle.
Das ganze klingt ohnehin nach abgeschmackter lovestory, die sich in Alkohol eingelegt etwas zerfasert zeigt, jedoch nichts von ihrer ekelhaften Emphase verloren hat. Das ist so nicht richtig. Es steht: Lückenfüller, Krumen Leben. Nicht Lebensfüller. Sie ist ein Flittchen und ich wünschte, das Deutsche böte mir einen Ausdruck, der zwar das Verhalten eines Flittchens, einer Schlampe zu beschreiben verstünde, jedoch ohne den wertenden Tonfall. Denn moralisch sehe ich nichts zu beanstanden, sich manchmal derart im Alkohol zu ergehen, dass die Partner schneller gewechselt werden, als die Drinks. Es spricht ja niemand von Liebe. Handelt ein Mann derart, mag er für einige ein Arschloch sein, doch für die meisten kaum mehr als ein Schwerenöter mit Talent. Ein Casanova.
Wir wanken gemeinsam. Sie erzählt mir Mist, den der schlechteste Regisseur nicht schlimmer zur Rolle einer Klischeebesoffenen hätte kleistern können. Ich könnte ihr ewig zu hören. Es folgt eine Ecke, das Pärchen ist weg, irgendwo zwischen Häuserfassaden versteckt. Die Menschentraube ist fern. Sie bleibt stehen, sieht mich an. Es ginge so nicht weiter, sagt sie, und noch etwas. (Ich weiß es leider nicht mehr.) Sie umarmt mich, sie küsst mich – auf die Wange. Ich fahre den gewählten Modus blitzschnell runter, ergehe mich in einem etwas feuchten Wangenkuss, den sie wohl vergessen haben wird. Nicht mehr alleine sein, denke ich mir. Sie wankt wieder, ich greife ihre Hüften. So geht es noch ein paar Meter, dann treffen wir das Pärchen wieder. Sie setzt sich hin. Die Traube folgt schnell.
Schneller ist bloß sie. Sie sagt: Ich muss weg, erledigen. Komme dahin wieder. Sie wankt fort. Soll ich sie halten? Mein Blick verrät mich. Man schärft mir ein: „Einen guten Rat gefällig? Lass es!“
Ich beteuere nicht zu wissen, wovon er spricht (wo doch selbst der Kuss ausblieb). Er sagt bloß: „Du weißt ganz genau, was ich meine.“ Man stimmt ihm zu.
Wieder alleine, die Nacht nicht weniger starr. Das Pärchen vor mir, die Traube hinter mir, ich stets bemüht, dem Paar nicht allzu sehr den Schritt zu halten. Wir durchqueren eine Einkaufsstraße. Es ist kalt und kein inneres, noch so künstliches Licht glimmt. Die Flaniermeile endet. Ich sehe sie wieder. Wie reagieren? Ich fühle mich beobachtet. Gehe ich hin, ist es falsch, weil andere es für falsch halten. Mein Moralsensor fährt herunter, wie ihr Gleichgewicht. Die Balance verlierend fällt sie in einen Mann ohne Alter, von dem ich bloß sagen kann, dass er so aussieht wie jemand, dem man nachts um halb vier nicht auf einem urbanen Asphaltgehege auf den Mund stolpern möchte. Sie küsst ihn. Paralysiert weise ich den männlichen Part des Pärchens darauf hin. Er spottet: „Ja wohl, wieder einer im Club.“ Aber sie kennt ihn doch gar nicht. „Ei jo, ist halt immer so.“ Aber man muss ihr doch helfen. „Sie will es ja nicht anders.“ Aha.
Es kann nicht gut sein, jemanden küssen zu wollen, der derlei Dinge im Suff vollbringt. Es ist fraglich, warum der Unbekannte einen Kuss bekam, nicht ich. Es bleibt die Scham, Gedanken Dritter evoziert zu haben, die nun doppelt nicht stimmen. Die Zeit verstreicht, ich liege im Bett. Und bei mir liegt die Wärme, wie eine zweite Decke, zart über meinem Körper. Gefühlsstrippen baumeln verknotet im Kopf. Wen schickt die Seele, sie neu zu stricken? Liebe?
Wer kann mir das erklären?