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Wenn wir uns küssen, und ich kaue Kaugummi, welchen Geschmack sollte er haben?
Meine Freundin und ich sitzen auf dem Balkon, der nach Nordwesten rausgeht, schauen uns den Sonnenuntergang an und trinken Calvados. Es ist immer noch ziemlich warm und wir sind beide schon ein wenig angeschäkert, was kein unangenehmer Zustand ist. Außerdem macht sie mich scharf, wie sie so dasitzt und raucht, barfuß, in Jeans und einem Oberteil mit Spagettiträgern. Ich würde es ihr gerne sagen, trau mich aber nicht, weil sie damit nicht gut umgehen kann. Sie möchte individualistisch sein und mehr als ein bloßes Ausstellungsstück im Museum meiner Geilheit.
Im Bett wiederum findet sie es im höchsten Maße anregend, wenn ich sie scharf nenne. Und sie rutscht jedes Mal ein wenig von mir ab nach dem Geschlechtsakt, wenn ich es nicht gesagt habe. In diesem Augenblick aber möchte sie es nicht hören. Stattdessen presse ich folgendes durch meine Lippen: „Du gefällst mir.“ Sie lächelt und fährt mir mit den Händen übers Gesicht, ganz kurz nur. Ich glaube, das soll heißen: „Du mir auch.“ Ich bin mir aber nicht ganz sicher, denn ich weiß oft nicht, was sie meint. Vielleicht liebe ich das an ihr, das Gefühl, sie nie hundertprozentig zu verstehen, es gibt einem so viele Interpretationsmöglichkeiten. Sie stellt die Füße aufs Geländer und lehnt sich in ihren Stuhl zurück. Ich beobachte sie und das Bedürfnis, ein wenig zu fummeln, wird übermächtig. Aber ich weiß, dass sie mir das nicht erlauben würde. Noch nicht. Erst will sie mir eine Frage stellen. Das ist immer so. Unsere Art von Vorspiel.
Sie fragt mich etwas, ich antworte. Unser allabendliches Ritual. Es ist die stille Übereinkunft zwischen uns, eine Form der Kommunikation betrieben zu haben, bevor wir intim werden, mag sie auch noch so gering sein. Das sieht in etwa so aus, sie fragt mich: „Wenn du mich küssen willst, und ich kaue gerade Kaugummi, welchen Geschmack sollte er haben?“ Das ist einfach. Also gebe ich zurück: „Kirsch.“ Sie grinst, ich grinse ebenfalls, wahrscheinlich weil sie es von mir erwartet oder weil ich es tatsächlich will. Dann erhebt sie sich, kommt schmerzhaft langsam zu mir herüber und setzt sich auf meinen Schoß. Für gewöhnlich bleibt mir kurzzeitig die Luft weg, weil ich überwältigt bin von Liebe und auch Begierde, was aber, wenn ich es recht bedenke, in diesen Momenten für mich ein und dasselbe ist. Dann küssen wir uns und treiben es irgendwann miteinander. Danach schweigen wir. Sie sagt nicht „Ich liebe dich“, lächelt aber. Ich fühle, dass ich sie liebe, habe es ihr aber bisher noch nie überzeugend anvertraut.
Aber so weit sind wir an diesem Abend noch nicht. Ich nippe an meinem Glas und schaue sie erwartungsvoll an. Ich giere nach der Frage, weil ich ungeduldig werde, sie zu küssen. Aber es passiert nichts. Sie sitzt einfach nur da, und in ihrem Gesicht meine ich eine Ernsthaftigkeit zu entdecken, die ich an ihr nicht kenne. Jedenfalls nicht, wenn wir hier draußen sitzen. Zu dem Verlangen nach ihr gesellt sich ein erstmaliges Gefühl der Unruhe. Und mir fällt auf, wie schön sie eigentlich ist. „Stell die Frage.“ möchte ich gerne sagen, aber stattdessen sage ich gar nichts.
Es ist merklich kühler geworden auf dem Balkon. Sie dreht sich zu mir. Endlich. Ich bin bereit und stutze. Sie sieht nicht glücklich aus. „Wovor hast du am meisten Angst?“ Die Frage verwirrt mich. Das ist keine der typischen Fragen, dafür ist sie viel zu bedeutend. Sie ist für Leute reserviert, die an Grabsteinen über den Tod nachdenken. Keine Frage wie: „Wenn du nur ein Foto von mir auf eine einsame Insel mitnehmen dürftest, welches würdest du aussuchen?“ Ich gerate in Panik. Sie ist wirklich atemberaubend schön. Meine größte Angst ist, sie zu verlieren. Aber das kann ich ihr nicht sagen, wie könnte man so etwas aussprechen. Ich wähle den abweichenden Weg, ich versuche witzig zu sein. „Meine größte Angst, meinst du? Also, wenn ich mich nach einer Frau umschaue, im Auto, während ich fahre – naja, und dann einen Unfall baue. Danach zu merken, dass die Frau hässlich ist.“ Sie kneift ihre Augen zusammen und blickt bewusst grimmig drein. Ich weiß, dass ihr das nicht gefallen hat. „Hätte sich nicht gelohnt“, füge ich hinzu und lächle ein wenig. Sie lacht, ich glaube sie hat verstanden.
Dann sagt sie: „Du Spinner.“ Kopfschüttelnd steht sie auf und kommt langsam näher, fast wie in Zeitlupe. Sie lässt sich sanft auf meinen Schoß fallen und guckt mich an. Diese grüblerische Ernsthaftigkeit ist aus ihrem Gesichtsausdruck verschwunden, alles scheint beim Alten zu sein. Aber ich vergesse nicht, dass er da war. Ich habe ihn gesehen. Und jetzt empfinde ich mehr als nur Unruhe, ich spüre Furcht. Ich streiche ihr durchs Haar. Sie wirkt dankbar. Ich liebe sie wirklich sehr. Wir küssen uns.
Später schlafen wir miteinander. Hinterher fühle ich mich orientierungslos. Diesmal habe ich sehr genau darauf geachtet, sie scharf zu nennen. Trotzdem ist sie von mir abgerückt. Das Schweigen ist diesmal viel gewichtiger. Ich blicke flüchtig zu ihr, sie tut so, als habe sie das nicht bemerkt. Sie lächelt nicht. Ich sage: „Ich liebe dich.“ Irgendwie hallt es in der Stille nach.