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Wenn Wünsche wahr werden
Sina saß schweigend in der Mitte ihres Zimmers und starrte nach draußen. Der Schnee fiel dicht wie lange nicht mehr. Sie konnte die andere Straßenseite kaum noch erkennen. Von unten hörte sie die Stimmen der Eltern. Der Vater war gerade erst hereingekommen und die Mutter sprach schon wieder in einem Ton mit ihm, als ob er den ganzen Tag nur gefaulenzt hätte.
Und das nannte sich Weihnachten. Sina legte die Hände auf die Ohren. Sie konnte nicht mehr hören, wie ihre Eltern sich ankeiften, weil sie sich nicht einig werden konnten wer nun die größeren Arbeiten zu verrichten hatte. Wie konnte das Weihnachten sein? Sie hatte so viele Bücher mit Weihnachtsgeschichten und in allen war Weihnachten anders. Glaubten ihre Eltern denn, solange Geschenke unter dem Baum lagen, war Weihnachten Weihnachten? Vielleicht war es das ja, aber in Sinas Augen hätte es weit mehr sein sollen. Zumal nicht einmal „unter dem Baum liegen“ immer dem entsprach, was in den Büchern zu sehen und zu lesen war. Letztes Jahr hatte es der Vater fertig gebracht, den Tannenbaum einfach quer über den Tisch zu legen und die Geschenke unter den Tisch, weil es ihm einfach nicht gelingen wollte einen Ständer zu finden, der den Baum angenommen hätte.
Die Stimmen waren noch immer unüberhörbar. Es hatte keinen Zweck. Solange sie in ihrem Zimmer war, würde sie der „Weihnachtsstimmung“ ihrer Eltern nicht entkommen. Viele Alternativen gab es allerdings nicht. Sie hatte einmal vorsichtig angefragt, ob sie Heiligabend nicht bei ihrer Freundin verbringen könnte. Die Eltern hatten sie entsetzt angesehen und erklärt, dass doch die Familie dazu da sei an diesem Abend füreinander da zu sein. Füreinander da zu sein. Pah!
Unwillig stellte sie fest, dass der Schneehaufen in ihrem Zimmer keine rechte Größe annehmen wollte. Sie hatte die Balkontür weit geöffnet, um möglichst viel Schnee hereinzulassen. Aber der Schnee fiel nicht im richtigen Winkel und nur eine kleine Fläche auf dem Teppichboden war tatsächlich weiß geworden.
Sie stand auf und trat an die Türöffnung. Kälter als im Zimmer war es draußen auch nicht mehr, nur der Wind ließ sie im ersten Moment zusätzlich frösteln. Die Heizung hatte sie abgeschaltet, andernfalls hätte sie sich kaum wundern dürfen, wenn der Schnee im Zimmer nicht zunahm. Sie überlegte, ob sie einfach den Schnee ins Zimmer tragen sollte. Die Schicht auf dem Balkon war ansehnlich und wenn sie das alles im Zimmer verteilte, würde sie der Mutter bestimmt einen kleinen Entsetzensschrei entlocken. Aber damit ihr da auch eine richtige Weihnachtsüberraschung gelang, war es am besten, wenn sie den ganzen Schnee von der Garage auch noch mitnahm. Das Flachdach ließ sich von hier aus gefahrlos erreichen. Warum war sie nicht früher darauf gekommen?
Rasch kehrte sie ins Zimmer zurück und sah sich nach einem brauchbaren Transportmittel um. Sie fand die Kiste mit selten gebrauchten Spielsachen und leerte sie kurzerhand aus. Entzückt betrachtete sie den leeren Platz in der Kiste und kehrte damit auf den Balkon zurück. Am besten begann sie hier, bevor sie sich um das Garagendach kümmerte. Auf dem Balkon stand noch ein Besen. Wie praktisch. Damit war die gesamte Fläche schnell geräumt und der Schnee in die Kiste verfrachtet.
Abermals trat sie zurück ins Zimmer. Grinsend sah sie sich um. Sie stieg aufs Hochbett. Jetzt würde sie Frau Holle spielen. Nur die Mühe den Schnee erst ins Kissen zu stopfen, machte sie sich nicht – obwohl sie es für einen Augenblick in Betracht zog. Mit Genugtuung setzte sie die Kiste auf der Bettkante auf und kippte sie langsam um. Ein wenig Schütteln – mit einem Platschen landete der Schnee auf dem Boden und der Kommode. Perfekt.
Sie beeilte sich auf das Garagendach zu kommen. Es schneite immer heftiger. Wunderbar. Umso mehr würde es auch in ihrem Zimmer schneien.
Sie warf die Kiste auf das Flachdach, kletterte selbst über die Balkonreling und angelte sich anschließend noch den Besen herüber. Kurzentschlossen fing sie an den gesamten Schnee des Daches zu einem großen Haufen zusammenzufegen. So sollte es am schnellsten und einfachsten gehen.
Der immer dichter fallende Schnee und der heraufziehende Nebel machten es schwer etwas zu sehen. Und wenn schon. Wenn sie das Ende des Daches erreichte, würde sie es schon merken. Am besten fing sie schon am anderen Ende an, dann konnte es ihr nicht passieren, dass sie den Schnee vom Dach hinunter fegte. Also stiefelte sie durch den Schnee, fürs erste ohne ihn mitzunehmen, mit Bedauern über jedes Bisschen, das unter ihren Füßen zusammengepresst wurde. Aber sie machte große Schritte, also konnte es davon nicht allzu viel geben.
Allmählich begann sie sich zu wundern. Sie hätte erwartet das Ende längst erreicht zu haben. War ihr Orientierungssinn denn wirklich so schlecht? Damit wäre er ja noch schlechter als die Lehrerin behauptete und dabei stritten sogar ihre Eltern ab, dass das Urteil der Lehrerin zutraf.
Tapfer schritt sie weiter. Die Kälte spürte sie kaum noch, auch wenn sie über ihrem Elchpullover keine Jacke trug. Der Wind zog eisig an ihr vorbei, aber sie hatte ihr Ziel vor Augen und von diesem würde sie sich nicht abbringen lassen. Außerdem hätte sie dieses Ziel ohne Kälte nicht erreichen können. Insofern musste sie die Temperatur zwangsläufig als ihren Verbündeten und Freund betrachten.
Irgendwann blieb sie doch stehen. Es musste mehr als eine Minute vergangen sein, seit sie losgegangen war und sie hatte die Richtung nicht verändert. War sie abgestürzt und tot und merkte es nur nicht? Blödsinn. Aber eine Erklärung, die weniger blöd gewesen wäre, mochte ihr nicht einfallen.
Sina starrte durch Schnee und Nebel und versuchte etwas zu erkennen. Je länger sie starrte, desto besser konnte sie tatsächlich sehen. Der Schnee fiel mit der Zeit wieder weniger dicht und der Nebel verzog sich – und Sina traute ihren Augen nicht.
Vor ihr lag eine weite verschneite Ebene, doch nicht so eben wie das Garagendach. In der Ferne erhoben sich glitzernde Berge und aus dem Schnee ragten eindrucksvolle Bäume hervor, an denen statt Früchten oder Blüten riesige Eiskristalle hingen. Erschrocken blickte sie in alle Richtungen um sich, aber da war kein Dachrand. Nur eine endlose verschneite Landschaft. In der Richtung, aus der sie gekommen war, lag ein See, in dem sich trotz des weiterhin fallenden Schnees eine schwache Wintersonne spiegelte. Von der Hauswand, dem Balkon oder ihrem Zimmer war nichts zu sehen.
Vollkommen verwirrt sah sie ein ums andere Mal zwischen den Bergen und dem See hin und her und mehrfach schloss sie die Augen und öffnete sie wieder. Aber nichts änderte sich. Dann sah sie plötzlich, als sie sich gerade wieder umdrehte, ein Mädchen vor sich stehen. Sie erschrak, aber ihre Überraschung hielt sich diesmal in Grenzen. Irgendwie war ihr die Situation vertraut, wie ihr auch das Mädchen vertraut war. Es ähnelte ihr, doch hatte es Haare und Augen von schillerndem Gold.
„Wer bist du?“ fragte sie. „Bist du ein Engel?“
Das Mädchen grinste sie freundlich an. „Ist es wichtig?“
Sina überlegte einen Moment lang. „Ich glaube nicht.“
„Dann glauben wir das gleiche“, erklärte das andere Mädchen und behielt sein Lächeln bei. „Ich heiße Dela. Oder jedenfalls kannst du mich Dela nennen.“
Sina grinste ebenfalls. „Gut“, sagte sie und das meinte sie auch.
„Hast du Lust, dass ich dir etwas zeige?“, bot Dela an.
„Gerne. Was denn?“
„Den Zauber von Weihnachten“, meinte Dela geheimnisvoll.
„Wenn der nicht aus Geschenken unter einem Baum besteht“, dachte Sina und sie fühlte sich so ungezwungen, dass sie den Gedanken gleich aussprach.
Dela schien zu verstehen, was sie meinte. Sie lächelte weiterhin und nickte. Dann befeuchtete sie die Lippen und lief einen Pfiff erklingen, der wie viele geheimnisvolle Melodien klang.
Sina wartete gespannt, was geschehen würde. Einen Augenblick später konnte sie beobachten, wie sich ein brauner Fleck im weißen Landschaftsbild auf sie zu bewegte und letztlich als Rentier vor ihnen stehen blieb.
„Das ist Zumag“, stellte Dela vor. „Zumag, das ist Sina.“
Sina erinnerte sich, ihren Namen noch nicht genannt zu haben. Sie fragte jedoch nicht nach. Sie ahnte, dass sie als Antwort nur geheimnisvolle Worte oder auch nur ein geheimnisvolles Lächeln erhalten würde. Und sie hatte gar nichts dagegen, dass vieles geheimnisvoll war. Manche Dinge waren schlicht und einfach besser, solange sie Geheimnisse waren und blieben.
Zumag legte sich in den Schnee und Dela bedeutete Sina auf seinen Rücken zu steigen. Als sie zögerte, machte Dela es vor und als Dela es vorgemacht hatte, zögerte Sina nicht mehr.
Es war ein seltsames Gefühl als das Rentier aufstand und sie davontrug. Aber es war ein schönes Gefühl. Der Schnee fiel noch immer in großen Flocken, aber die Kälte hatte nun wirklich abgenommen. Gut, das mochte auch daran liegen, dass Dela dicht hinter ihr saß und die Arme um ihre Hüfte geschlungen hatte.
Das Tier legte keine Hektik an den Tag. Würdevoll schritt es durch den Schnee, über Hügel und durch Täler und Sina genoss diesen Ritt – obwohl er nichts aufregendes war, obwohl niemand bei ihr war, den sie wirklich gekannt hätte und obwohl er nichts kostete. Aber vielleicht, dachte Sina bei sich, während sie das Gefühl nicht losließ Dela doch zu kennen, selbst wenn sie ihr vor wenigen Minuten zum ersten Mal im Leben begegnet war, vielleicht war Obwohl nicht das richtige Wort. Vielleicht musste es Weil heißen.
Irgendwann – die Zeit hatte keine Bedeutung – kamen sie in ein großes Tal auf der Rückseite der Berge. Und zum ersten Mal sah Sina noch andere Wesen in dieser fremden – und doch gar nicht so fremden – Welt. Einige sahen ganz ähnlich aus wie Dela. Aber vor allem gab es viele Tiere – weiße Löwen, behaarte Elefanten, Hirsche mit silbernen Geweihen, Wölfe mit menschenähnlichen, flachen Gesichtern und viele mehr. Friedvoll lagen, saßen und gingen sie zwischen den Menschen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier war hier wahrhaft gering. Unterschied? Welcher Unterschied eigentlich? Und die Menschen strahlten alle eine außergewöhnliche Ruhe aus und sprachen mit sanften Stimmen. Stimmen, aus denen Gefühle so deutlich sprachen wie Worte. Sina kam aus dem Staunen lange nicht heraus – und fand dabei doch alles seltsam natürlich.
Einer der Männer, an denen sie vorbeiritten, trug einen vollen weißen Bart und einen dunkelroten Mantel.
„Bist du der Weihnachtsmann?“ fragte Sina ihn.
Der Mann aber kam auf sie zu, beugte sich zu Sina vor und küsste sie auf die Wange. „Willst du das wissen?“ fragte er leise.
Sina fiel ein, was sie vor kurzem noch über Geheimnisse gedacht hatte und sie blieb bei dieser Ansicht. Sie antwortete mit einem Grinsen und jeder verstand ihre Antwort.
Inmitten des Tals setzte Zumag sie ab und ließ sich auf alle Viere nieder. Dela und Sina lehnten sich an seinem Bauch an und fanden leicht eine bequeme Haltung, um auch für länger im Schnee zu sitzen.
Und lange wurde es. Der Himmel wurde langsam dunkel und Sina sah den schönsten Sternenhimmel über sich, den sie je gesehen hatte. Tiere und Menschen versammelten sich in einem großen Kreis und es wurden Lieder gesungen und Geschichten erzählt – nicht nur von den Menschen, wie Sina voller Faszination feststellte. Es war nicht so, dass die Tiere in dieser Welt die außergewöhnliche Begabung gehabt hätten, zu sprechen, erkannte sie. Sondern die Menschen hatten hier die außergewöhnliche Begabung ihnen zuzuhören.
Irgendwann legte sich Ruhe über die große Gemeinschaft und Sina glitt ins Reich der Träume hinüber und es waren wunderschöne Träume. In jedem von ihnen aber war Dela bei ihr.
Dann war es Dela, die sie frühzeitig aus diesen Träumen zurückholte.
„Du solltest jetzt heimgehen“, sagte sie behutsam, wohlwissend, dass Sina das nicht hören wollte.
„Aber ich möchte bei euch bleiben. Darf ich nicht?“
Diesmal war Delas Lächeln traurig. „Wenn du hier bist, kannst du nicht in deiner Welt sein. Aber wenn du in deiner Welt bist, kannst du auch bei uns sein.“
Sina sah sie hoffnungsvoll an. „Aber wie?“
Dela sah ihr tief in die Augen und strich ihr durchs Haar. „Du stellst immer noch viele Fragen. Aber Fragen gehören in deine Welt. Nicht in diese. Wirst du gehen, wenn ich dich darum bitte?“
Sina schlug die Augen nieder. „Also gut.“ Sie wusste, dass alles andere falsch gewesen wäre. Sie wollte es vielleicht nicht wahrhaben, aber im Grunde wusste sie es.
„Werde ich dich…“ Sie unterbrach sich. Keine Fragen.
Dennoch hatte sie das Gefühl, dass Dela kaum merklich genickt hatte, als sie auf dem wartenden Zumag aufsaß und sich endgültig von ihrer neuen Freundin verabschiedete.
Dann ritt das Rentier mit ihr davon, vorbei an einer in die Berge ziehenden Gruppe Einhörner, den selben Weg, den sie gekommen waren. Hoch über ihnen flog ein Phönix.
Es konnte kein Zufall sein, dass Wesen wie diese in den Mythen der Menschheit Rang und Namen hatten, dachte Sina, als sie den riesigen Feuervogel über goldenen Bergen verschwinden sah, aber sie dachte den Gedanken nicht zuende.
Dann erreichten sie den Ort, an dem Sina Dela zuerst begegnet war und Zumag ließ seine Reiterin behutsam absteigen. Der Abschied von dem Rentier war der zweitschwerste überhaupt, aber den schwersten hatte sie schon hinter sich.
Und so ließ Zumag sie mit einem Augenzwinkern zurück und Sina stand allein in der weiten Ebene zwischen Bergen und See.
Es fing wieder stark zu schneien an und binnen Minuten sah Sina den Nebel Gestalt annehmen. Ohne Zweifel ging sie auf den See zu, den sie schon nicht mehr sehen konnte.
Schließlich fühlten ihre ausgestreckten Hände vor sich eine Wand. Sina nickte und wandte sich nach links, wo sie über eine Kiste stolperte und sich anschließend behände über das Geländer ihres Balkons schwang.
Sie betrat ihr Zimmer, sah noch einmal ins dichte Schneetreiben hinaus und schloss schließlich die Balkontür. Der Schnee knirschte zwischen ihren Stiefeln und dem Teppichboden. Ein trauriges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht.
Plötzlich fiel ihr auf, dass es still war. Sie hörte keine Stimmen von unten, auch nicht, als sie eine Weile wartete. Überrascht zog sie die Stiefel aus, öffnete leise die Zimmertür und schlich auf Socken ins Erdgeschoss.
Jetzt hörte sie die Mutter. Aber sie keifte nicht. Sie sagte noch nicht einmal etwas. Stattdessen schluchzte sie. Seltsam, dachte Sina. Was mochte passiert sein? So hatte sie die Mutter zuletzt erlebt, als ihr Lieblingspaar Schuhe kaputt gegangen war. Die Schuhe standen bis heute gut sichtbar im Keller.
Sie stahl sich ins Wohnzimmer vor und sah die Mutter auf dem Sofa liegen, den Kopf auf dem Schoß des Vaters, der in der äußersten Ecke des Sofas saß und wortlos über ihre Haare strich.
Dann blickte der Vater auf und sah Sina in der Tür stehen. Ein Ausdruck von Unglauben, Dankbarkeit und grenzenloser Erleichterung erschien auf seinem Gesicht. Er hörte auf seine Frau zu streicheln, sodass die Mutter auch aufsah und dem Blick des Vaters folgte.
Ein leiser Schrei entfuhr der Mutter, als sich ihre Blicke trafen. Na bitte, sie war unerwünscht. Sie hätte es ja wissen müssen.
Dann aber stand die Mutter so hektisch auf, dass sie fast hingefallen wäre und eilte auf wackligen Knien zur Tür. Sina trat zur Seite, um sie vorbeizulassen, aber die Mutter hielt direkt auf sie zu und ehe Sina begriff, was vor sich ging, hatte die Mutter sie umarmt und drückte sie an sich. Sina ließ es geschehen und je länger die Umarmung andauerte, desto sicherer war sie, dass es sich nicht um ein Versehen handelte.
Ein breites Grinsen entstand auf Sinas Gesicht, während sie ihrerseits die Arme um ihre Mutter schlang. Dann hatte sie tatsächlich etwas von dem Zauber von Weihnachten mit nach Hause bringen können.