Wenn man gezwungen wird
Unruhig war sie schon immer. Während andere Mädchen in ihrem Alter sich die Fingernägel lackierten, kaute sie nur daran. Wenn ein Gewitter ausbrach war sie die erste die entweder unter ihren oder in unseren Bett lag. Sie hatte vor allem und jeden Angst. Selbst der Eismann erschreckte sie als sie das erste Mal Eis kaufen wollte. Er stand mit dem Rücken zu ihr, sie trat vorsichtig an ihn ran und sagte mit kleiner, leiser Stimme:"Eine Kugel Schokolade." Der Eisverkäufer drehte sich langsam um und in ihrem Gesicht entfloh das Blut. Sie hatte vorher auch noch nie einen Menschen mit einer Verbrennung im Gesicht gesehen. Nun ja, wir hatten sehr schwere Zeiten, schöne natürlich auch, wie mit jeden Kind, aber die schweren überwiegten halt. Und dann stand sie da vor uns im Wohnzimmer, in ihrem Nachtkleid, völlig am zittern. Meine Frau bemerkte sie zuerst und nahm sie in die Arme.
"Was ist los, mein Schatz?"
"Etwas ist in meinen Zimmer."
Ich ging nach oben in ihr Zimmer, ein Zimmer wie es sich wohl jedes Mädchen wünscht. Ein Spitzencomputer mit Pentiom-Prozessor, Dolbi-Digital-Anlage, DVD-Spieler und so weiter und so fort. Ich schaute mich im ganzen Zimmer um, unterm Bett, im Schrank. Ich schloss das Fenster, zog den Vorhang zu und machte die Nachttischlampe an.
"In deinen Zimmer ist niemand," sagte ich ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie ging nach oben und wir setzten uns wieder vor den Fernseher. Es lief eine alte Folge von Tatort mit Schimanski. Völlig gespannt von der Story über einen Kindermörder bemerkten wir nicht das sie schon wieder in der Tür stand. Als ich sie bemerkte bekam ich zuerst einen Schreck. Ihre Arme waren voller Blut.
Meine Frau sprang auf, sah sich die Arme an und schrie:"Was hast du gemacht?"
"Da ist etwas in meinen Zimmer."
Wir gingen zu dritt nach oben, meine Frau betrat zuerst das Zimmer.
"Wo ist es denn, Schätzchen?"
"Ich weiss es nicht. Zuerst war es im Schrank, dann ist es unter mein Bett gelaufen. Es ist schnell."
"Bist du dir sicher das du es dir nicht einbildest," fragte ich.
"Du siehst doch ihre Arme, bildet sie sich das nur ein?" Meine Frau war sichtlich mit den Nerven fertig.
Ich zeigte auf das Bett, wo eine Nagelschere lag, überall im Bett war Blut verteilt.
"Warum hast du das gemacht?"
"Es zwingt mich dazu."
"Weisst du was es ist?"
"Nein."
Ich entschloss mich zu einen Versuch.
"Du wirst heute nacht bei deiner Mutter schlafen und ich schlafe in deinen Bett. Dann werden wir ja sehen, was dich so erschreckt."
Meine Frau war mit diesen Vorschlag zufrieden. Sie verband unserer Tochter die Arme, gab ihr einen Kuss und legte sie in unser Ehebett. Dann küssten wir uns.
Ich legte mich in das Kinderzimmer, beobachtete leise den gesamten Raum, nichts rührte sich. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen. Ich wachte auf in einen hellen Zimmer, darin nur eine Tür und ein Schrank. Plötzlich ging der Schrank auf. Die Schwärze innendrin liess mich einen Moment blinzeln und als ich wieder klar sah, war es schon kurz vor mir. Ich sah nur einen Moment in die Augen dieses Ding, dieser Kreatur, dann war es verschwunden. Dann kam meine Tochter durch die Tür, stellte sich vor das Bett, hob ihr Nachthemd und fing an zu urinieren. Doch es war kein Urin. Sie pinkelte Blut.
Dann wachte ich auf.
Ich stand auf, ging die Treppen runter, öffnete die Schlafzimmertür, schaltete das Licht an. Ich übergab mich, ich kann immer noch nicht glauben, was ich damals sah, dieses Blutbad, meine Frau mit den Einstichen in Kopf und Hals, meine Tochter mit der Nagelschere in der Hand.
Ich nahm meine Frau in den Arm, sprach zu ihr, schüttelte sie und drückte sie an mich. Doch sie war tot.
Ich schaute meiner Tochter in die Augen und sie weinte. Ich sah sie fragend an.
"Es zwingt mich dazu."
Oliver Engelberg
Resident2000Production