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Wenn ich ein Vögelchen wär
Wenn ich ein Vöglein wär´
Lotte sitzt nun schon beinah zehn Minuten vor ihrer Suppe ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Das kleine Mädchen mit den blonden Haaren mag nämlich gar keine Suppe. Und schon gar nicht Gemüsesuppe, bäh. Bin ich denn ein Kaninchen, denkt Lotte sich und beginnt langsam mit ihrem silbernen Löffel in den kleingeschnittenen Möhrchen lustlos herumzustochern. Ihre beiden Geschwister haben schon aufgegessen, nur Lotte muss noch bleiben. „Wenigstens ein paar Löffelchen“ hat die Mutter verlangt. Und nun sitzt sie hier und möchte viel lieber draußen spielen. Draußen ist es warm und sonnig und aus dem geöffneten Fenster vor ihr dringt der Duft nach Raps und Pferden. Plötzlich fliegt ein kleiner Vogel direkt auf das Fensterbrett vor ihr. Er hat einen roten Hals und sieht wunderschön aus. Seine kleinen Knopfaugen mustern das kleine blonde Mädchen neugierig und dann fliegt er davon. Wenn ich doch ein Vöglein wär, denkt Lotte, dann müsste ich diese doofe Suppe jetzt nicht essen und würde stattdessen fortfliegen. Traurig sieht sie dem kleinen Rotkehlchen hinterher, wie es auf einen Zweig in die große Kastanie vor ihrem Haus fliegt. Als die Mutter aus der Küche kommt sitzt Lotte nun schon fast eine halbe Stunde vor dem Teller, ohne ihn angerührt zu haben. Dann nimmt sie angeekelt drei winzige Happse und verschwindet mit einem schnellen „Tschüß, Mama!“ in den Garten. Ihre Mama sieht Lotte hinterher. Immer dieses Theater mit der Suppe, denkt sie und räumt den Teller kopfschüttelnd ab.
Von da an denkt Lotte viel an den kleinen Vogel mit dem roten Hals. Wenn ich doch fortfliegen könnte, dann würde ich alles machen, wozu ICH Lust habe, denkt sie unentwegt.
Lotte bekommt ein paar Bonbons von Mama in die Hand und soll sie mit ihren Geschwistern teilen? Wenn ich ein Vöglein wär, könnte ich alles für mich behalten, denkt das kleine blonde Mädchen dann und gibt die Bonbons schweren Herzens ab.
Ein paar Tage später wird es abends sehr dunkel. Viel dunkler als sonst um diese Zeit und ein starker Wind weht um das Haus. Aus der Ferne hört die Familie Donnergrollen. Lotte sieht aus dem Fenster während sie und ihre Geschwister Pudding essen und da sieht sie ihr Rotkehlchen. Der kleine Vogel hat etwas zu fressen gefunden, doch die Spatzen versuchen es ihm abzujagen. Das Rotkehlchen wehrt sich vergeblich, denn die Spatzen sind in der Überzahl. Der kleine Vogel bleibt einsam und hungrig zurück und fliegt traurig auf die große Kastanie. Armes Rotkehlchen, denkt Lotte sich und möchte ihm am liebsten etwas von ihrem Pudding abgeben. Aber Rotkehlchen fressen nun mal keinen Pudding. Und da findet Lotte das erste Mal, dass so ein Vogelleben auch ganz schön schwer sein kann.
Als Lotte ins Bett geht, ist das Gewitter bereits über ihrem Haus. In der Dunkelheit zucken immer wieder grelle Blitze und dann donnert es gewaltig. Unheimlich ist das, denkt Lotte und drückt sich im Bett an ihre große Schwester, die sie eigentlich doch ganz gerne mag. Besonders jetzt. Nach dem Gewitter kommt der Regen. Er kommt ganz plötzlich und prasselt so stark auf das Haus ein, dass es scheint, als ob das Haus bestimmt bald weggespült würde. Das Rotkehlchen! denkt Lotte und läuft aus ihrem Bett noch einmal zum Fenster. Dort sieht sie den kleinen Vogel tropfnass in der Eiche sitzen. Er lässt die Flügelchen hängen und zittert am ganzen Leib. Das arme Vöglein, denkt Lotte und geht wieder in ihr Bett. Dort, im warmen trockenen Bett, kuschelt sie sich ganz eng an ihre Geschwister, die auch nicht alleine einschlafen können und möchte plötzlich doch gar kein Vöglein mehr sein. Eigentlich sind Geschwister und Gemüsesuppe gar nicht so schlimm, denkt sie noch. Dann nimmt sie sich ganz fest vor, mit Papa am nächsten Tag ein kleines, wunderbares Vogelhäuschen für das Rotkehlchen zu bauen und ist im nächsten Moment auch schon eingeschlafen.