Was ist neu

Serie Wenn Gott weinte

Mitglied
Beitritt
07.10.2005
Beiträge
6

Wenn Gott weinte

Wenn Gott weinte

Dann prasselte der Regen auf den Asphalt. Eine Katze sprang über die Straße auf die andere Seite und verschwand im Gehölz auf der Suche nach dem Trockenen. Nebel mischte sich mit dem Regen.
Philip zündete sich alle fünf Minuten eine Zigarette an. Als er den Rauch ausstieß, schaute er auf das Brett und bewegte seinen Bauern auf e5. Unsere Bauern standen sich gegenüber. Er spielte Schwarz. Abermals bließ er den Rauch heraus und hob seinen Blick, um zu sehen welchen Zug ich machen würde.
Ich zögerte nicht lange und führte meinen Bauern auf f4. Philip runzelte die Stirn. Seine Hand schob sich zum Läufer, den er auf c5 stellte. Dann nahm er einen Schluck von dem Wein, den ich mitgebracht hatte.
Ich antwortete mit meinem Springer, der auf f3 landete. Meine Hände waren eisig. Kaum hatte ich sie zu meinem Glas bewegt, zog Philip bereits die nächste Figur von d7 auf d6. Ich stellte das Glas wieder weg und schaute mir das Schachbrett genauer an. Dann schlug ich etwas ungeduldig seinen Bauern auf e5. Augenblicklich tauschte er den Bauern von d6 mit meinem Angreifer.
Ich zögerte nicht so lange und holte mir den Bauern mit meinem Springer von f3. Darauf war er gefasst, deshalb zog er ganz langsam seine Dame auf h4.
„Schach“, sagte er stoisch.
Die Dame so früh aus dem Spiel zu bringen, war ungewöhnlich für ihn. Er musste gute Gründe haben. Ich hingegen wusste nicht so recht, was auf dem Brett gerade geschah. Mit dem König machte ich einen Schritt vorwärts auf e2.
Mit einem unmerklichen Zucken seines Mundwinkels beugte er sich über das Brett und schlug meinen Bauern auf h4.
„Schach matt!“, sagte er, ließ mich kurz das Spiel überprüfen und streckte mir die Hand entgegen. Wir drückten uns die Hände wie faire Gentlemen.
Es regnete heftiger und das Prasseln wurde lauter. Unsere Blicke wendeten sich dem Regen zu. Hinter der Baumreihe auf der anderen Straßenseite zeichneten sich die Silhouetten der Wohnblöcke ab. Es sah nebulös aus, man erahnte eher die Umrisse, als dass man sie wirklich sah.
Ich leerte mein Glas. Der NAHE Riesling 2006 war mein Mitbringsel. Philip zündete sich eine Zigarette an und bließ den Rauch in die feuchte Kälte. Als der Rauch die Überdachung hinter sich ließ, wurde er vom Regen zersiebt und vermischte sich mit der Nebelwolke. Dann ließ er seine Hand auf das Knie fallen, gleich darauf aber streckte sie sich der Weinflasche entgegen. Philip ergriff die Flasche und schenkte mir ein. Dann stellte er sie neben mein Glas. Ich nahm sie und füllte sein Glas zur Hälfte voll und ließ die Flasche in seiner Nähe stehen.
„Dieses Jahr ist der Winter hier ausgeblieben.“, erzählte er, während er in den Regen starrte und rauchte. Seine Hände waren etwas fahl von der Kälte. Auch meine Hände froren, deshalb steckte ich sie unter die Achseln.
„Wusstest du, dass es in der chinesischen Sprache ein Wort gibt für das Geräusch, welches der Schnee beim fallen erzeugt?“, fragte er mich. Ich überlegte ein wenig und erwiderte dann: „Ja. Eine alte Freundin hatte mir davon erzählt, weil sie mich beeindrucken wollte.“
„War es Katharina?“, fragte er gleich.
„Kann sein.“, gab ich zur Antwort und fragte: „Hast du noch Kontakt mit ihr?“
„Nein, seit der Geschichte damals habe ich sie nicht mehr wiedergesehen. Beim letzten Treffen saßen wir im alten botanischen Garten und sie klagte mir ihr Leid. Warum ist die Welt bloß so scheiße? Ich fühl mich beschissen! Sie qualmte wie ein Schlot, hatte noch einen Kater, dabei war es erst vormittags um elf - “
„Naja!“, sagte ich dann nach einiger Zeit und widmete mich wieder dem Regen. Philip trank ein Schluck aus seinem Glas und hielt seine Zigarette in die kleine Flamme. Das Feuerzeug legte er auf den Tisch.
„Manchmal hoffe ich, dass der Regen sich vor meinen Augen zu Schnee verwandeln würde. Dann könnte ich das Geräusch hören, das die Chinesen bezeichnen können. Ich denke es ist eher eine Stille als ein Geräusch. Der Schnee deckt den Schall unter eine Schneedecke und das Fallen erzeugt Ruhe. Und nur hauchzart ist ein Knistern zu erahnen von den Flocken, die kollidieren, schmelzen oder landen.“, Philip starrte in den Regen. Seine Hand bewegte sich vom Mund zum Aschenbecher und wieder zurück.
Auch ich schaute den fallenden Tropfen hinterher. Dann sagte ich: „Vielleicht ist eher ein Rauschen?“
„Ja. Es ist rauschhaft!“, meinte Philip.
-
Ein Auto fuhr vorbei. Unter dem Brett lagen einige Blätter mit handschriftlichen Notizen. Philip drückte seine Zigarette in den Aschenbecher, wendete sein Gesicht zu mir, dann wieder dem Regen zu. Er holte die nächste Zigarette aus seiner Packung hervor. Mein Blick rollte über das Brett, vorbei an den Blättern, den Gläsern und der Flasche auf das Geländer in den Regen.
Philip stieß wieder Rauch aus und folgte dem Flug mit seinen Augen, dann sagte er: „Manchmal sehe ich Gesichter, die aus dem Regen kommen.“
„Und“, ich konnte es mir nicht verkneifen, „siehst du dann Jim Morrison?“
-
Philip trank sein Glas leer. Er schaute sich die Flasche an und sagte dann: „Der ist nicht schlecht!“
-
Mein Blick fiel auf die Uhr. Da erklärte ich: „Ich muss jetzt gehen!“
„Hast du noch etwas vor?“, fragte er.
„Nein, aber ich muss noch was für die Uni tun und so.“, meinte ich und wollte aufstehen.
Philip sah weiterhin in den Regen. Dann inhalierte er, wartete und ließ den Rauch raus. Er drückte die Zigarette im halb leeren Aschenbecher aus. Dann wartete er kurz und drehte sein Gesicht zu mir. Zeitgleich stand ich auf. Dann gingen wir durch die Wohnung zur Tür.
Ich verabschiedete mich nicht mit einer Umarmung, auch drückte ich ihm nicht die Hand. „Tscho!“, sagte ich.
„Es war schön, dich wiedergesehen zu haben!“, flüsterte er.
„Ja. Machs gut.“

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom