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Wenn Fred gefragt wird
Wenn Fred gefragt wird, wann er denn so berühmt geworden sei, dann kann er das auf den Tag genau angeben. „Am 26. März“, sagt er dann immer und erzählt seine Geschichte, die aber eigentlich schon am 17. März beginnt, denn an diesem Tag versammelte sich die Belegschaft von LohseTec in der Sporthalle des betriebseigenen Handballvereins, weil dies der einzige Raum war, in dem so viele Menschen Platz hatten. Der Vorsitzende trat auf die Tribüne, wo normalerweise die Ehrengäste saßen, nahm das Mikrofon und sagte, dass LohseTec, der alteingesessene Familienbetrieb und größte Arbeitgeber von Niederwölfingen, von einem japanischen Konsortium aufgekauft worden sei, und dass alle Mitarbeiter fristlos entlassen seien. Dann ging er; dafür kamen am nächsten Tag Spezialfahrzeuge, die die Fabrik in Rekordzeit zerlegten, um sie am darauf folgenden Tag nach Polen abtransportierten, wo die Löhne niedriger und Gewerkschaften unerwünscht sind. Wieder einen Tag später, am 20. März nämlich, trat im fernen Berlin der Verteidigungsminister vor die Presse und sagte, dass durch die geänderte weltpolitische Lage der Feind – wenn überhaupt – jetzt viel weiter im Osten zu finden sei als früher, womit der Minister aber nicht die polnischen Arbeiter meinte, die in der ehemaligen Fertigungsanlage von LohseTec arbeiten sollten, denn von denen wusste er gar nichts, genauso wenig, wie von den Niederwölfingern, die nicht bei LohseTec, sondern als Zivilbedienstete bei der Bundeswehr gearbeitet hatten und durch die Erkenntnis des Verteidigungsministers – den Standort des Feindes betreffend – arbeitslos wurden, weil als Folge dieser Erkenntnis der Niederwölfinger Luftwaffenstützpunktes nach Potsdam verlegt wurde. So wurde innerhalb einer Woche eine ganze Stadt überflüssig.
Alle die konnten, zogen weg aus Niederwölfingen. Außer Fred, der seinen Vater versorgen musste und sich nicht von dem alten Mann trennen mochte. Er hatte Amyeloische Lateralsklerose, eine Erkrankung, deren Name selbst Medizinern zu kompliziert war und deshalb ALS abgekürzt wurde, und die mit einer fortschreitenden Lähmung der gesamten Muskulatur des Körpers einher ging – den Anfang machten die Muskeln der Arme und Beine, dann folgte die Gesichtsmuskulatur und zuletzt das Zwerchfell, was einen Atemstillstand und den Tod zur Folge hatte. Aber so weit war es bei Freds Vater noch nicht. Und deshalb blieb er in Niederwölfingen.
Am 21. März musste Freds Vater ins Krankenhaus. Er bekam dort jeden Monat für drei Tage lang Infusionen mit Cortison, die seine noch funktionstüchtigen Muskeln stärken und so sein Befinden bessern sollten. Am dritten Tag kam Fred in sein Zimmer und sah, dass die letzte Infusion gerade eingelaufen war, und die Krankenschwester die Nadel aus dem Arm seines Vaters zog, als der Chefarzt persönlich ins Krankenzimmer trat, ein Röntgenbild am ausgestreckten Arm gegen das durch das Fenster einfallende Licht hielt, mit dem Zeigefinger der anderen Hand darauf deutete und sagte: „Es ist... es ist etwas passiert“, was auf Fred eigentümlich und irgendwie unmedizinisch wirkte. Dann erklärte der Chefarzt Fred und seinem Vater, dass der alte Mann durch ein ihm unerklärliches Phänomen verjüngt sei und die Symptome der ALS, die sich typischerweise auf einem Röntgenbild abbildeten, allesamt mehr oder weniger rückläufig waren, teilweise sogar dramatisch rückläufig, sodass selbst eine Heilung – wiewohl ihm bewusst sei, dass dies ein einmaliger Vorgang in der medizinischen Weltliteratur war –, dass also auch eine Heilung nicht ausgeschlossen sei. Das einzige, was ihm Sorge bereite, sei ein ihm unerklärlicher Fleck in der rechten Lunge.
Fred war überrascht. Ihm war auch schon aufgefallen, dass es seinem Vater besser ging als sonst, aber er hatte es auf die Wirkung des Cortisons zurückgeführt und auf den trockenen Frühling, dessen Klima ihm immer gut tat. Und als er gerade den Mund öffnen wollte, um den Arzt zu fragen, ob er das, was er gesagt hatte, auch wirklich ernst meinte – Fred war nämlich zutiefst misstrauisch, was medizinische Befunde anging –, da kam ihm Herr Lohmeier, der linke Bettnachbar seines Vaters, der wegen seiner Krampfadern im Krankenhaus lag, zuvor und rief mit sonorer Stimme: „Ein Wunder, es ist ein Wunder!“, und Herr Mankel, der rechte Bettnachbar, dessen Darmentleerung zuweilen problematisch war, murmelte gebetsmühlenartig: „Heiligemuttergottesnochmal, ein Wunder, Heiligemuttergottesnochmal, ein Wunder...“, und er verstummte erst, als die Schwester ihm seinen Kleiebrei einflößte. So erfuhr Fred, dass sein Vater Opfer eines Wunders geworden war.
Am nächsten Tag, dem 24. März, kam ein Reporter. Genauer gesagt war er Volontär, und noch genauer gesagt war er der Neffe des krampfadrigen Herrn Lohmeier, ein junger Mann namens Max, der vor einer Woche noch bei LohseTec am Fließband gestanden hatte und jetzt eine neue berufliche Karriere anstrebte, indem er beim örtlichen Wochenblatt hospitierte, das der Werbering kostenlos an alle Haushalte von Niederwölfingen verteilte. Max wollte als erstes journalistisches Abenteuer ein Interview mit Freds Vater führen, deshalb saßen sie zu dritt auf dem Wohnzimmersofa, und Fred schüttete Max eine Tasse Kaffe ein.
Da geschah es. Max hatte seit einigen Tagen eine Entzündung am rechten kleinen Finger, die ihn schmerzte und – wenn man ganz genau hinschaute – auch leicht gerötet war, weshalb er die Stelle mit einem Pflaster verbarg. Als er seinen Ringfinger in den Henkel der Kaffeetasse einhakte, die vor ihm stand, spürte er plötzlich eine große Hitze an seinem entzündeten Kleinfinger und setzte die Tasse wieder ab. Besorgt zog er das Pflaster ab, um festzustellen, dass die Rötung verschwunden war. Er bewegte den Finger – auch der Schmerz war verschwunden, und Max war geheilt. Genau wie vor ihm Freds Vater.
Am nächsten Tag, dem 25. März, kamen insgesamt neunzehn Niederwölfinger zu Fred und berichteten über unerklärliche Ereignisse. So hatte zum Beispiel Frau Krause, ihre Putzfrau, bemerkt, dass ihr Blutdruck zum ersten Mal seit Monaten wieder unter 150 liege, was schon allein deshalb bemerkenswert war, weil er davor Monate lang unveränderlich bei ungesunden 200 gelegen habe und erst dadurch gesunken sei, dass Frau Krause, den Feudel geküsst habe, mit dem sie immer bei Fred und seinem Vater putzte. Herr Mankel hatte wesentliche Fortschritte seiner Verdauung bemerkt. Außerdem hatte er vier Richtige im Lotto, weil er Freds Vater bei seiner Entlassung aus dem Krankenhaus gebeten hatte, den Lottoschein zu berühren, und er hätte sogar fast fünf Richtige gehabt, weil er die 20 getippt hatte, und sowohl die 19 als auch die 21 gezogen worden waren, weswegen er sich jetzt an ein Unternehmen gewandt hatte, das jeden Monat systematisch und ohne auf den Zufall zu vertrauen Tausende von Lottozetteln für ihn ausfüllte. Dies war der Beweis: von Freds Vater gingen wundersame Kräfte aus.
Natürlich fragte Fred sich, woher diese Kräfte wohl kamen. War der Fleck auf seines Vaters rechter Lunge dafür verantwortlich? Vielleicht war das ja so eine Art Stigma, ein modernes Stigma natürlich, das nur mit dem Röntgenblick zu erkennen war. War sein vater ein Heiliger?
Am 26. März wurde Fred berühmt. Der Bürgermeister von Niederwölfingen kam und war sehr aufgeregt, weil nach dem Bericht im Wochenblatt mehrere überregionale Zeitungen unter den Titeln „Der Wundergreis von Niederwölfingen“ und „Vater Theresa von Niederrhein“ über Freds Vater berichtet hatten. Aber mehr noch: das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das gerade eine Gebührenerhöhung zugestanden bekommen hatte, wollte einen Großteil des Geldes in eine Show investieren, in der alle bekannten Fernsehgrößen auftreten sollten, die man ansonsten nur aus anderen öffentlich-rechtlichen Shows kannte, wie zum Beispiel eine beliebte Volksmusikgruppe aus dem Sauerland und ein Entertainer, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, jedes Jahr aufs Neue für Karnevalsstimmung zu sorgen, worauf er sich das gesamte restliche Jahr vorbereitete, und für die Location dieser grandiosen Show hatten die öffentlich-rechtlichen Fernsehmacher den Marktplatz von Niederwölfingen auserwählt. Natürlich war geplant, dass Freds Vater als Höhepunkt der Sendung auf den Marktplatz gerollt werden sollte, um dort das eine oder andere Wunder zu vollbringen – einer der Volksmusiker litt angeblich unter extremem Mundgeruch, den bisher kein Mediziner in den Griff bekommen konnte, und hatte bereits angeboten, im Falle seiner Wunderheilung, eine Polka zu Ehren von Freds Vater zu komponieren. Ein solcher Auftritt würde zweifellos zu einem beträchtlichen Anstieg des Tourismus in Niederwölfingen führen, sagte der Bürgermeister.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Fred ließ den Bürgermeister weiter erzählen, während er den Hörer abnahm. Ein Arzt erklärte, dass das Röntgenbild seines Vaters mit demjenigen eines jungen Mannes verwechselt wurde, der an Tuberkulose litt, was den Fleck auf seiner Lunge erklärte; außerdem sagte der Arzt, dass ihm diese Verwechslung sehr peinlich sei, und dass die Prognose von Freds Vater nun keineswegs so gut sei, wie irrtümlicherweise behauptet wurde, sondern dass – im Gegenteil – eine raschen Verschlechterung der ALS zu befürchten sei, weshalb die nächsten Cortisoninfusionen schon in der kommenden Woche durchgeführt werden sollten und jede Aufregung des alten Herrn vermieden werden solle. So erfuhr Fred, dass das Wunder von Niederwölfingen eine Verwechslung war.
Der Bürgermeister wusste nichts vom Inhalt des Anrufs. Und so arbeitete er – während Fred noch den Telefonhörer in der Hand hielt – weiter an der Zukunft seiner Stadt und berichtete, dass auch das Privatfernsehen ein epochales Medienereignis plane und sich hierzu bereits die Rechte am ehemaligen LohseTec-Grundstück erworben habe, wo in diesem Augenblick ein Camp errichtet werde, in das alle diejenigen Fernsehstars einkehren sollten, deren Karriere zu mühselig verlaufen sei, als dass man sie noch für andere Sendungen des Privatfernsehens verwenden könne, die aber andererseits noch nicht so heruntergekommen waren, als dass sie schon im öffentlich-rechtlichen Programm auftreten mussten. Die ersten zwölf Staffeln dieses Formats – so berichtete der Bürgermeister – seien bereits überaus erfolgreich gewesen, sodass zu hoffen stand, dass Niederwölfingen durch diese Sendung, der der Sender den Arbeitstitel „Ich bin ein Star, macht mich gesund“ gegeben hatte, in der ganzen Welt bekannt würde. Die Person, an der all diese Pläne hingen, war Freds Vater. Und so fragte der Bürgermeister, ob er mit dessen Kooperation rechnen könne.
So war Fred auf einmal in einem Zwiespalt. Einerseits war ihm klar, dass er seinem schwerkranken Vater unmöglich das Programm zumuten konnte, das der Bürgermeister für ihn vorgesehen hatte, andererseits wollte er aber alle diejenigen nicht enttäuschen, deren Erwartungen geweckt worden waren – den Bürgermeister, die Arbeitslosen, Herrn Mankel mit seinem Lotto-Systemtipp, den Volksmusikanten mit dem Mundgeruch, die Fernsehzuschauer. So schwieg er, obwohl er sah, der Bürgermeister mangels einer Antwort ganz ungeduldig wurde, eine Minute, zwei Minuten, bis Fred endlich zögerlich sagte: „Kann mein Vater... ääh... auch gedoubelt werden?“
So kam es, dass Fred berühmt wurde.