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Wenn es läuft, dann läuft es

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12.06.2013
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Wenn es läuft, dann läuft es

Wie sehr er diese Tage liebte, an denen einfach alles glatt lief.
Morgens wachte er zwei Minuten vor dem Wecker auf, streckte sich ausgiebig - seit seine Frau weg war, hatte er endlich genug Platz im Bett -, dann duschte und frühstückte er und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Das Licht sah heute irgendwie anders aus als tags zuvor; heller und freundlicher. Er machte sich keine Gedanken darüber, sondern sah einer sehr schönen, in der Sonne metallisch blau schimmernden Hummel hinterher.
Die dreiminütige Verspätung der S-Bahn war okay und die 30minütige Zugfahrt verging wie im Fluge, niemand rempelte ihn böswillig an. Selbst auf der Arbeit lief alles rund. Eigentlich war sein Job in der Finanzbuchhaltung relativ eintönig, jedenfalls hatte er ihn in den letzten 16 Jahren so empfunden. Aber heute hatte er Spaß an den alltäglichsten Handgriffen. Selbst die üblichen Sticheleien seiner Kollegen wegen seiner Wampe, dem knittrigen Pullunder oder dem übervollen Schreibtisch konnten ihm nichts anhaben.

Gestern sah die Welt noch ganz anders aus. Da hatte er sich noch wie so oft gegen Mittag für eine halbe Stunde auf der Toilette versteckt, um den Kollegen aus dem Weg zu gehen. Da kam der Zug wie üblich unerträgliche drei Minuten zu spät und abends verpasste er wie üblich den Anfang seiner vorabendlichen Lieblingssoap.
Er bereitete sich schon - wie üblich - auf das langweilige abendliche Fernsehprogramm vor und schob gerade - wie üblich - die Fertigmahlzeit in die Mikrowelle, als ein Kurier klingelte und ihm ein schuhkartongroßes Päckchen übergab. Er hatte zwar keines erwartet, aber seine Adresse war korrekt und es war kein Entgelt zu entrichten. Also fand er keinen Grund, die Annahme zu verweigern.
Als er misstrauisch das Paket aufriss, schnitt er sich einen Finger am Karton auf und fluchte auf den Verpackungsdesigner, der diese gefährliche Stelle übersehen hatte. Aus Angst vor einer Blutvergiftung spülte er die Wunde sofort aus und der Schmerz war bald nur noch eine kribbelnde Erinnerung.

Das war gestern, heute war alles besser. Der Schnitt in seinem Finger juckte fast gar nicht mehr und die deutliche Rötung machte ihm keine Sorgen. Sogar die Blondine am Empfang hatte ihn heute angelächelt und er nahm sich vor, sie mal zum Essen einzuladen. So etwas hatte er schon viel zu lange nicht mehr gemacht.

Nach Feierabend ging er noch zum Bauamt. Er hatte einen späten Termin mit dem Amtsleiter, um ihn wegen der Ablehnung des Bauantrages eines großen Konzerns zu interviewen. Er war kein Journalist, nicht mal besonders interessiert.
Aber dem Paket gestern lag ein Brief bei, der klang irgendwie lustig und so entschied er, sich auf diesen Spaß einzulassen. Den Presseausweis, der ebenfalls im Paket gelegen hatte, brauchte er gar nicht. Nachdem er sich als Mitarbeiter einer lokalen Zeitung vorgestellt hatte, rief die Sekretärin den Amtsleiter und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Als der aus seinem Büro kam, um den vermeintlichen Journalisten zu begrüßen, schwebte die Hummel vom Morgen aus der Bürotür und das Licht schien heruntergedreht zu werden, wurde weicher und die Farben kräftiger. Das würde ein Spaß werden.
Er ging einen Schritt auf den Beamten zu, hob breit lächelnd die etwas plump wirkende, kastenförmige Waffe aus dem Päckchen hoch, hielt sie ihm vor das irritierte Gesicht und drückte ab. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen sprengte die Ladung in der Waffe das Salz-Schrot nach vorn in sein Opfer, wo es Gesicht, Knochen und Gehirn zermalmte und an die rückwärtige Wand verteilte.
Das ebenfalls aus verdichtetem Salz bestehende Gehäuse wurde durch die Gewalt der Explosion in grobe Splitter zerrissen, die sich tief in Oberkörper und Gesicht des Attentäters gruben und ihm die Hand und einen Teil des Unterarms zerrissen. Wovon er allerdings nur ein unsanftes Stupsen merkte.
Als er sich überzeugt hatte, dass der Amtsleiter wirklich tot war, sah er mit dem verbliebenen, linken Auge etwas verständnislos seinen eigenen Unterarm an, dessen Reste in Streifen herabhingen und von dem sanft aber eindringlich ein pochender Schmerz ausging.
Davon abgesehen lächelte er wegen des wirklich gelungenen Scherzes in sich hinein. Ein echtes Lächeln brachten seine zerrissenen Gesichtsmuskeln und -nerven nicht mehr zustande.

Als er sich umdrehte, um nach Hause zu gehen, wollte er sich noch von der Sekretärin verabschieden, die sich sicherlich vor Lachen biegen würde. Allerdings stürzte die schreiend aus dem Raum, was er etwas unhöflich fand.
Auf der Suche nach dem Ausgang hatte er Schwierigkeiten, sich in den Korridoren des Bauamts zu orientierten. Die ausgiebige Blutspur, die sich hinter ihm bildete war ihm zwar eine willkommene Orientierung. Aber die Beine wurden schwerer und schwerer, sein Blick verlor immer wieder den Fokus und er konnte sich einfach nicht orientieren. Die panisch vor ihm flüchtenden oder um Gnade winselnden Menschen machten es auch nicht leichter. Kurz vor der Ausgangstür schließlich verließen ihn die Kräfte, der Blutverlust und das Gift taten ihre Wirkung. Er brach zusammen und starb zufrieden innerhalb weniger Minuten.
Sein letzter Gedanke war: “Ein guter Tag.”

---

Der CTO* blickte kurz ins Leere, nachdem er den Bericht über den Vorfall gelesen hatte. Er kannte natürlich die Antwort, schließlich war das Ganze sein Projekt, dennoch fragte er seinen Assistenten zum wiederholten Mal: “Und es ist sicher nicht zurückverfolgbar?”
“Das Gerät bestand aus reinem Salz und hat sich im ganzen Raum verteilt. Der Sprengstoff stammt aus unseren Laboren und weist keinerlei Marker auf. Und die wenigen elektrischen Komponenten werden zu Millionen produziert. Keine Chance, eine Verbindung aufzubauen.”
“Und das Paket?”
”Der Bote wird nicht gefunden werden und die Zustellerfirma hat nie existiert.”

“Gut. Mir scheint, der Feldversuch für Paket und Waffe war ein Erfolg. Bitte lassen Sie die Werbung dafür an die üblichen Adressen versenden.”
Der Assistent verneigte sich leicht: “Sehr gern.”

*CTO: Chief Technical Officer: Wichtigtuerische Bezeichnung für den Abteilungsleiter der Entwicklungsabteilung.

 

Das hat mir gefallen. Kurz und knackig. Ein bisschen zu kurz ... einiges hätte ich gern näher miterlebt und vor allem das Ende kam dann zu schnell für mich. Da wird alles erklärt, bis auf das wirklich innovative - das Gift, dass einen Menschen derart glücklich und gefügig macht.

Was ich nicht ganz verstanden hab, das war der blumige Bericht. Lesen wir hier den Bericht am Anfang der Geschichte? Das wäre für mich zu stimmig, weil zu viel von den privaten Gedanken des Protagonisten enthalten ist.

Alles in allem - very nice. Muss jetzt Schluss machen, noch schnell einen Paketdienst beauftragen ;-)

 

Hallo chricken,

zugegeben, ich habe deinen Text eigentlich nur zu Ende gelesen, weil ich mich gefragt habe, wie du aus diesem völlig konfliktlosen Anfang noch eine anständige Geschichte machen willst. Ok, die Wende kam dann in der Mitte und war eine sehr angenehme Überraschung.

Die Dramaturgie finde ich trotzdem, vorsichtig ausgedrückt, riskant. Irgendetwas müsste an den Anfang, was darauf hindeutet, dass nach der dann folgenden, recht lahmen Beschreibung des Alltags deines Protagonisten dann noch was kommen wird.

Und ich stimme mit velvet überein: ein Bericht, selbst ein noch so blumiger, kann die Geschichte nicht sein.

Sonst nur noch ein paar Kleinlichkeiten:

Das Licht sah irgendwie anders aus als Tags zuvor.
tags zuvor
Da hatte er sich noch wie üblich gegen Mittag für eine halbe Stunde auf der Toilette versteckt, um den Kollegen aus dem Weg zu gehen. Da kam der Zug wie üblich unerträgliche drei Minuten zu spät und abends verpasste er wie üblich den Anfang seiner vorabendlichen Lieblingssendung.
Das insgesamt fünfmalige "wie üblich" finde ich persönlich nicht so gut.
Er war kein Journalist, nichtmal besonders interessiert.
"nicht mal" oder besser "nicht einmal"
Als er sich überzeugt hatte, dass der Amtsleiter wirklich tot war, sah er etwas verständnislos seinen eigenen, in Streifen gerissenen Unterarm an.
Wirklich in Streifen gerissen? Die Streifen müssten dann doch auf dem Boden liegen, oder? Und der Unterarm nicht mehr existent sein?
Der Assistent nickte kurz.
Er blickte kurz ins Leere und fragte dann nachdenklich: “Und es ist sicher nicht zurückverfolgbar?”
"Er" bezieht sich auf den Assistenten, sollte aber, vom Ablauf des folgenden Gesprächs, eigentlich den CTO meinen.
Und die wenigen elektrischen Komponenten werden zu Millionen produziert.
elektrische Komponenten? nicht eher elektronische?

Auf jeden Fall eine tolle Idee. Und recht souverän geschrieben. Mein "Ausharren" hat sich gelohnt.

Viele Grüße
Ella Fitz

 

Hej chricken,

äusserst unterhaltsame Geschichte. Und gut geschrieben.
Und deswegen falle ich grad mit der Tür ins Haus.

Zum einen klingt der Titel seltsam, weil's so eine gepflogene Redewendung ist, aber dann korrekt geschrieben eben seltsam klingt. Also ich denke, es sollte: Wenn's läuft, dann läuft's - heißen.

Der Sarkasmus springt mich da schon an und werde nicht enttäuscht.

Und dann muss ich zugeben, dass ich mir nicht sicher bin, ob die veränderte Wahrnehmung des Protagonisten vom Schnitt am Paket kommt, oder ob ich eben rein gar nix kapiert habe. :shy:

Es wird ja schnell ziemlich unappetitlich und dann das

Er merkte davon aber nur ein unsanftes Stupsen.

Schön clever.

Ich habe leider keine Ahnung, was CTO hier bedeutet und fühle mich recht unwohl damit. Wissen das sonst alle? Und gibt es tatsächlich Waffen aus Salz?
Natürlich könnt' ichs heimlich gugeln und so tun als ob, aber ich möchte dir ja meinen Leseeindruck vermitteln. ;)

Nichtsdestotrotz ist sie dir gelungen: bitter, lustig und bizzar.

Danke für die Unterhaltung und freundlicher Gruß, Kanji

 

Die Geschichte ist ursprünglich entstanden, weil ja (Hobby-)SciFi-Autoren im Erzählstil eher als etwas reserviert und unpersönlich gelten. Da fragte ich mich, was passieren müsste, damit die Geschehnisse auch dem Protagonisten weit weg und unpersönlich vorkämen.
Und schon war sie da, die Idee mit dem Paket, das dem Empfänger Drogen verabreicht, die ihn tun lassen, was immer befohlen wird - und er das auch noch toll findet.

velvet: Ja, die Sache mit dem Bericht war eine Schwäche, das hatte ich mir schon gedacht. Aber ich konnte einfach nicht widerstehen, ist ja für die Geschichte nicht ausschlaggebend.

Ella Fitz: Danke für die Korrekturen, ich werde sie einpflegen.
Die Dramaturgie war so geplant, dass der Leser zunächst in Sicherheit gewogen wird, um dann festzustellen, dass der Tag wohl doch nicht so tutti ist, wie der Protagonist denkt. Deswegen auch die anfängliche schöne Welt. Der Schmetterling sollte ein erster Hinweis sein, da die eigentlich selten die volle Aufmerksamkeit auf sich ziehen - vor allem auf dem Weg zur Arbeit.

Die "Wie üblich" waren genau so gewollt, um die Eintönigkeit des Alltag zu zeigen. Die letzten beiden sind extra in Gedankenstriche gesetzt, um den Lesefluss zu unterbrechen und es noch mal herauszustellen.

Mir "Er" war eigentlich der CTO gemeint, der sich nochmal vergewissert, das alles gelaufen ist, wie geplant. Er ist schließlich seinem Assi keine Rechenschaft schuldig.

Es waren elektrische Komponenten, weil einfach nur der Sprengsatz gezündet werden musste. Das braucht keine aufwendige Steuerung.

Kanji: Danke. Freut mich zu lesen, dass es gefallen hat.
CTO: Chief Technical Officer. Der, der federführend für die Umsetzung technischer Lösungen zuständig ist. Das weiß jeder :D
So weit ich weiß, gibt es noch keine Waffen aus Salz. Die ist ins Spiel gekommen, weil der ganze Anschlag darauf ausgelegt war, nicht zurückverfolgbar zu sein. Dazu braucht man eine Waffe, die keine ballistischen Analysen zulässt und sich am besten gleich selbst vernichtet. Und Salz lässt sich richtig hart zusammenpressen. Ich glaube, das wäre durchaus möglich, wenn eine Bombe zu viel Kollateralschaden verursachen würde.

maria.meerhaba: Danke für Deine Meinung.
Vermutlich muss ich noch an der Balance zwischen innerer und äußerer Welt feilen. Vielleicht lasse ich auch die Idee mit dem Bericht einfach fallen.

Lieben Gruß
Christian

 

Habe jetzt ein paar Text-Änderungen hochgeladen.
Die Irritation mit dem Bericht ist raus, hat nicht wirklich funktioniert. Jetzt gibt es zwar natürlich einen Bericht, aber der ist nicht die Geschichte.
Der Stil ist immer noch mit gewissem Abstand, weil das auch die Betrachtungsweise des Protagonisten ist.

 

Hallo Chricken,

zunächst mal zur Idee Deiner KG. Mich überzeugt der Ansatz nicht so ganz, denn für Verbrecher ist es eigentlich kein Problem, sich Waffen zu beschaffen, die man nicht zurückverfolgen kann. Im Bereich Feuerwaffen kann man auf dem Schwarzmarkt Pistolen und Gewehre kaufen, denen Seriennummern bzw. Prägestempel rausgeätzt wurden. Außerdem besteht seit einiger Zeit die Möglichkeit, mit einem 3D-Drucker schussfähige Feuerwaffen zu bauen.

Bei der Sprengstoffproduktion ist das Beimengen von Markern und Taggants etwas, zu dem der Gesetzgeber (Montrealer Übereinkommen) den Produzenten verpflichtet. Wenn Deine böse Firma sich nicht daran hält, kann man den von ihr produzierten Sprengstoff ebenso wenig zurückverfolgen, wie das tschechische Semtex vor 1999.

Kurzum: Mich überzeugt der ganze Aufwand bei der Entwicklung der Salzwaffe nicht so richtig.

Die Idee mit dieser chemisch induzierten Gehirnwäsche fand ich gut. Ist auf jeden Fall spannend, wenn ein normaler Mann plötzlich aus seiner lebenslangen Routine austritt und sich vollkommen anders verhält.

Die dramaturgische Umsetzung hat noch ein paar Ecken und Kanten, gefällt mir aber schon ganz gut. Da ist eine Menge schwarzer Humor dabei, der sich aus dem Umstand speist, dass der Killer die Situation aufgrund des Gifts ganz anders wahrnimmt, als man es vermuten sollte. Ein Problem ist, dass genau diese Wahrnehmungsverzerrung nicht sehr plausibel erscheint. Ein Mann wird nicht zum fröhlichen Killer, weil irgendeine Substanz in sein Blut gerät ... Aber okay, ist eben ein bisschen Fiction dabei.

Gruß Achillus

 

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