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Wenn Engel stricken
Ein eisiger Wind strich um das Haus des Weihnachtsmannes hoch oben am Nordpol. Die tiefe Polarnacht hatte einen dicken Eispanzer über die Landschaft gelegt und die Polarbären sanft in den Schlaf gewiegt, wo sie von Fischeis und anderen Leckereien träumten.
Drinnen in der Werkstatt des Weihnachtsmannes saßen zwei kleine Engel bei Kerzenschein auf einem Berg Lebkuchen und strickten. Um sie herum herrschte reges Treiben. Es wurden Schoßhündchen mit bunten Schleifen versehen, Kinderfahrräder poliert, Plätzchen gebacken und ein paar Wichtel formten Krippenfiguren aus Knetmasse und Filz. Den ganzen Tag über hatten die beiden Engel Spielzeuglokomotiven geleimt und Puppenstuben mit winzigen Tischchen und Stühlchen ausgestattet. Reichlich beduselt vom Geruch des vielen Holzleims, der sich in der Weihnachtsbäckerei mit dem Duft frisch gebackener Zimtsterne zu einem bei Engeln sehr beliebten Duft vereinigt hatte, hatten sie sich für den Rest des Tages in die Handarbeitsabteilung versetzen lassen, wo sie nun Socken und Norwegerpullover strickten. Das Rentiermuster auf den Pullovern war seit vielen Jahren ein Klassiker. Die Engel beherrschten es bereits im Schlaf: Huf, Huf, Huf, Huf, Bein, Bein, Bein, Bein, Körper, Körper, Nase, Nase, Nase, Nase, Nase, Geweih.
„Ach“, seufzte der jüngere von den beiden. „Nun arbeiten wir schon so lange für den Weihnachtsmann und noch nie haben wir ein Wort des Dankes für unsere Mühen gehört. Letztes Jahr wäre ich beim Stollenrollen fast in die Rollmaschine gefallen und im Jahr davor hat mich ein Chihuahua gebissen, den der Weihnachtsmann für eine alte Dame besorgt hatte.“ Dabei rieb er sich mit gequältem Gesichtsausdruck seinen verlängerten Engelsrücken, wo sich auf zartem Rosa noch immer die Spuren eines winzigen Raubtiergebisses abzeichneten.
„Naja“, meinte der ältere Engel: „Wie man hört, ist der Weihnachtsmann immer sehr beschäftigt. Vielleicht hat er einfach noch keine Zeit gefunden, sich bei seinen Mitarbeitern mal vorzustellen. Sicher bietet sich beim nächsten Sommerfest dazu Gelegenheit.“
„Hmm“, schmatzte der jüngere Engel, der sich gerade eine Zuckerstange in den Mund geschoben hatte und nun mit dem Maschenzählen für den nächsten Norwegerpullover anfing. „Huf, Huf, Huf, Huf ... Trotzdem würde ich ihn zu gerne einmal kennen lernen. Weißt Du überhaupt, wie er aussieht?“
„Klar, das lernt doch jeder Engel schon als kleine Putte im Engelskindergarten: Sehr groß, runder Bauch, weißer Bart, gütige Augen und ein dicker roter Mantel, der ihn bei seiner Schlittenfahrt rund um die Welt und von Schornstein zu Schornstein immer schön warm hält.“
„Aber gesehen hast Du ihn auch noch nicht, oder?“
„Naja, nicht direkt“, räumte der ältere Engel ein. Verlegen knabberte er an einem Zimtstern und versuchte, vom Thema abzulenken: „Hast Du in diesem Jahr schon Deine Wette für das Rentierrennen abgegeben? Ich tippe ja diesmal auf Randolf. Rendolf hat im letzten Jahr doch sehr enttäuscht. Und Rudolf ist ja auch nicht mehr der Jüngste.“
Aber der kleine Engel ließ sich nicht so leicht beirren. Er war schon immer etwas hartnäckiger als die anderen und der Duft des Leims hatte ihn noch vorwitziger und mutiger gemacht, als er es sonst schon war.
Er grübelte weiter über den Weihnachtsmann nach und mit einem Mal kam ihm eine Idee. Seine Augen blitzten auf und er gab dem anderen Engel einen beherzten Schubs, so dass dieser rücklings in eine riesige Transportbox mit Pullovern fiel. Tief sank er ein in die wollenden Wogen. „Hmmpf“ macht er noch, bevor er auf den Boden der Kiste herabsank.
Der kleine Engel sprang sogleich hinterher.
Waff foll daff?“, fragte der Ältere verblüfft, nahm einen Pulloverärmel aus dem Mund und fragte noch einmal: „Was soll das?“.
„Wirst Du gleich sehen“, flüsterte der kleine Engel und zischte hinterher: „Jetzt unten bleiben!“
In diesem Moment öffnete sich die Tür der Weihnachtswerkstatt und ein paar Wichtel traten herein. Mit geübten Handgriffen schoben sie die Transportbox nach draußen zum Schlitten des Weihnachtsmannes, wo bereits viele andere Kisten, Säcke und Körbe voller Geschenke bereit standen. Ein paar Elfen warteten mit einem haushohen, dressierten Troll vor der Tür, der die Kisten und Säcke auf dem Schlitten des Weihmachtsmannes zu einem riesigen Berg stapelte.
Kaum war die letzte Kiste verstaut, erklang – erst von Ferne, dann immer näher – das Läuten heller Glocken: Bald tauchte am Himmel das Rentiergespann des Weihnachtsmannes auf. In einem großen Bogen flogen die Rentiere heran und ließen dabei so laut und schwungvoll ihre Glöckchen erschallen, dass sich von den Tannenspitzen rundherum kleine Schneelawinen lösten. Am Ende aber ganz sanft, so als würden sie auf rohen Eiern landen, schwebten die Rentiere die letzten Meter zum Boden herab und brachten sich vor dem Schlitten in Stellung. Ganz vorne in der ersten Reihe stand Rudolf und leckte sich ein paar Eiszapfen mit der überlangen Zunge von seiner rote Nase.
Geübte Wichtelhände verbanden das Geschirr der Rentiere mit der Deichsel des Weihnachtsmannschlittens und noch ehe die beiden Engel sich recht versahen, waren die Rentiere wieder losgelaufen. Schnell wurde die Erde unter ihren Hufen kleiner und kleiner und ohne jede Mühe zogen sie auch den schweren Schlitten hinauf in den Himmel. Schon flog das Gespann über eine dichte Wolkendecke.
Bei jeder kleinen Bodenwelle in den Schäfchenwolken hüpften die beiden Engel in ihrer Transportbox auf und nieder. „Selber fliegen ist angenehmer“, grollte der Ältere von beiden, der noch ein wenig verärgert war, dass sein Mitengel ihn in diese Situation gebracht hatte.
Aber ein bisschen neugierig auf das, was da käme, war er auch. Und so beschloss er, dem jüngeren Engel nicht mehr böse zu sein. Böse sein können Engel ohnehin nicht besonders gut.
Nach einiger Zeit verlangsamten die Rentiere ihr Tempo. Der Schlitten verlor an Höhe und schon waren durch die Wolkenfetzen hindurch am Boden tief verschneite Dörfer und Städte zu sehen. Mit schwungvollen Salto, den der Weihnachtsmann seinen fidelen Vierbeinern in all den Jahren nicht hatte abgewöhnen können, steuerten die Rentiere das erste Hausdach des ersten Dorfes an.
Und nun geschah etwas Merkwürdiges: Wie von Geisterhand wanderten Pakete vom Schlitten des Weihnachtsmannes herunter und rauschten durch den Schornstein des Hauses hinab. Kaum war dies geschehen, setzte sich der Schlitten in Bewegung zum nächsten Haus. Wieder wanderten Geschenke vom Schlitten nach unten – ebenso beim nächsten und beim übernächsten Haus.
Die Engel, die dies durch einen Schlitz in ihrer Transportbox beobachteten, rieben sich die Augen. Wo war denn bloß der Weihnachtsmann?
Diesmal war es der Ältere von beiden, der zuerst die Initiative ergriff. Und so packte er den jüngeren Engel beherzt bei den Flügeln als der Schlitten gerade über dem nächsten Haus anhielt. Hals über Kopf sprangen sie – der jüngere mehr gezogen als gewollt – durch den Kamin nach unten und landeten mit einigem Gepolter auf dem Boden der Feuerstelle. Asche stob auf, hüllte die beiden in eine dicke schwarze Wolke und sie mussten kräftig husten.
„Hihi“, kicherte eine Stimme. „Meine allererste Landung damals war auch nicht viel besser.“
Verwundert schauten die Engel einander an und blickten sich in die ascheschwarzen Gesichter. Wer hatte denn da zu ihnen gesprochen? Ein Mensch konnte es nicht sein. Denn Menschen konnten Engel überhaupt nicht sehen – und mit ihnen sprechen schon gar nicht.
Langsam legte sich der Staub und an der Wand zeichnete sich im schummrigen Kerzenlicht der riesige Schatten des Weihnachtsmannes ab: Mütze, dicker Pelzmantel, rundliches Gesicht. Aber wo war der Weihnachtsmann? Die Engel blickten nach links und rechts.
„Hier drüben.“ sprach die Stimme wieder. Diesmal klang sie deutlich höher und so gar nicht weihnachtsmännlich. Die Engel drehten sich um und schauten verblüfft.
„Du bist der Weihnachtsmann?“ klang es wie im Chor aus zwei zarten Engelskehlen.
Vor ihnen saß ein winziger Hamster mit dicken Backentaschen auf seinen Hinterbeinen. Auf dem Kopf eine kleine rote Mütze mit weißem Bommel. Das Licht einer Kerze warf seinen Schatten noch immer riesenhaft vergrößert auf die gegenüberliegende Wand, wo sich erkennbar die Silhouette des Weihnachtsmannes abzeichnete.
„Zwick mich“, sagte der jüngere Engel zum älteren und noch bevor er ausgesprochen hatte, spürte er einen Zwack – ausgerechnet an jener Stelle, wo ihn einst der Chihuahua erwischt hatte. Der ältere Engel grinste in sich hinein. Manchmal können auch Engel gemein sein.
„Ja, ich bin’s wirklich.“, sprach der Hamster, der bereits wieder damit beschäftigt war, Geschenke zum Weihnachtsbaum herüber zu tragen. „Ich bin der Weihnachtsmann. Der echte.“
Skeptisch blickte ihn der jüngere der beiden Engel an. „Du siehst aber nicht gerade aus wie ein Weihnachtsmann.“
„Wie viele Weihnachtsmänner hast Du denn schon gesehen?“ fragt der Hamster, erhob sich wieder auf seine Hinterbeine und steckte herausfordernd die Arme in die Hüften.
„Nun ja“ druckste der Engel und schaute verlegen auf seine nackten Zehen herunter: „Sehr viele, viele, ... einige ... so richtig ... noch keinen.“
„Haha“, grinste der Weihnachtshamster triumphierend. „Genau wie die Menschen. Die haben mich auch noch nie gesehen – so schnell bin ich. Manchmal sehen sie meinen Schatten an der Wand und glauben deshalb zu wissen, wie ich aussehe. Anschließend machen sie dann lustige Schokoladenfiguren von mir. Wenn die wüssten.“
Der ältere Engel war noch immer nicht überzeugt und versuchte es mit Logik: „Wieso ist denn der Weihnachtsmann ein Hamster?“
„Ganz einfach“, erklärte der Hamster: „Keiner war schneller.“ Während die Engel sich gegenseitig die letzten Aschereste aus den Goldlocken kämmten, war er schon wieder durch den Kamin nach oben geflitzt und hatte weitere Geschenke vom Schlitten geholt, die er nun stilvoll um den Weihnachtsbaum drapierte.
„Als damals die Stelle des Weihnachtsmannes zu besetzen war, gab es einen großen Wettbewerb im gesamten Tierreich.“, erklärte er. „Und keiner außer mir konnte alle Bedingungen erfüllen.“ Mit den Fingern seiner rechten Hand zählte er auf: „Hohes Tempo, absolute Zuverlässigkeit, Diskretion, keine Rentierallergie, Erfahrung im Umgang mit schweren Paketen und vor allem – ganz wichtig – die richtige Größe.“
Die Engel sahen ihn verwundert an.
„Schon mal einen Elefanten durch einen Kamin bekommen?“ fragte der Hamster. „Eben!“
„Und deshalb bin ich der Weihnachtsmann und bringe alle Geschenke zu den Menschen.“
Während er das sagte, steckte er sich im Vorbeirennen noch schnell ein paar Printen, die die Bewohner des Hauses für den Weihnachtsmann auf einen Teller gelegt hatten, in die Backentaschen und entschwand Richtung Kamin: „Kommt Ihr? Es warten noch mehr Kinder auf ihre Geschenke.“
Die Engel, die sich abgeklopft hatten und mittlerweile wieder in schönstem Altrosa glänzten, folgten dem Weihnachtshamster durch den Schornstein nach oben und kletterten zu ihm auf den Kutschbock. Für den Rest der Nacht halfen sie ihm beim Austragen der vielen Pakete.
Derweil berichtete ihnen der Hamster, wie viele Kilometer er jeden Tag im Laufrad laufen und welche Mengen an Getreidekörnern, Nüssen und Brotkrumen er durch die Gegend tragen musste um für seinen alljährlichen Weihnachtseinsatz fit zu bleiben. „Die einfältigen Menschen glauben natürlich, ich würde das ganze Zeug auch essen.“, grinste der Hamster. Sprachs, und verschwand mit dem nächsten Paket in atemberaubendem Tempo in einem Kamin.
Am Ende der Heiligen Nacht waren sich die beiden Engel einig, dass es wirklich keinen besseren Weihnachtsmann geben könne als diesen.
Zurück in der Weihnachtsmannwerkstatt am Nordpol mussten sie ihm allerdings versprechen, dass sie niemandem erzählen würden, wer der Weihnachtsmann wirklich ist. Und daran halten sich die beiden auch bis heute. Nur manchmal kommt es vor, dass unten auf der Erde Menschen ihre Weihnachtspakete öffnen und darin Norwegerpullover finden. Norwegerpullover mit endlosen Reihen gestrickter Rentiere – hin und wieder unterbrochen von einem besonders liebevoll gestrickten Bild eines Hamsters mit Weihnachtsmannmütze und dicken Backentaschen. Dann wundern sich die Menschen. Und irgendwo im Himmel kichert ein Engel und schaut herunter.