Wenn die Sonne scheint, dann bin ich glücklich
Langsam, mit gesenktem Kopf, geht sie durch das große Gusseiserne Tor, Wort und Sprachlos. Ihre Schwester und die Mutter, die neben ihr her laufen, registriert sie gar nicht. Als ob sie eine tote leere Hülle fortbewegen würde. Auf dem Platz, der gleich hinter dem Eingang liegt, konzentriert sie sich darauf die großen Pfützen zu umgehen, die der vorher niederprasselnde Platzregen hinterließ. Eigentlich kann sie es immer noch nicht fassen. Es kommt ihr vor, wie eine Szene in einem schlecht gedrehten Film. Der trübe, Wolkenverhangene Himmel passt zu ihrer Stimmung. Wie ferngesteuert bringen ihre Beine sie in die kleine kalte Kapelle, in der der Sarg aufgebahrt steht. Der Pfarrer, der gleich die Abschiedsrede halten wird, begrüßt die restliche Familie am Eingang mit einem festen Händedruck. Mit den Augen tastet sie jeden Winkel der Kapelle sorgfältig ab, und sie beginnt die Lampen an den Wänden zu zählen um sich von dem Tod, der vor ihr in der Kiste liegt, abzulenken. Sie empfindet den Gedanken unerträglich, auch irgendwann einmal in so einem engen Holzteil eingesperrt zu sein. Zusammen mit ihrer Klaustrophobie. Der Geistliche verschwindet in einem Hintereingang und sie fühlt immer noch die Erleichterung als sie erfuhr, dass durch die Gesetzesänderung nun doch ein Pfarrer, wenn auch Altkatholischer, die letzten Worte sprechen wird. Er war nicht sehr gläubig, so wie der Rest der Familie, doch ist einem doch irgendwie wohler wenn man weiß, dass er den Segen „von oben“ bekommt. Zumindest aber tröstet es die Hinterbliebenen, dass er eine Art Eintrittskarte durch das Tor ins ewige Leben erhält, auch wenn er Gottes Macht und Wille ausgetrickst hat. Er war kein Sonntagskind. Kein vom Glück Verfolgter. Wenigstens stand es ihm nun doch zu, gesegneter Erde übergeben zu werden. Ob man nun von Glück sprechen kann? Wenn man sich selbst richtet, hat man keine Rechte mehr. Man hat sich selbst Recht gegeben, indem man sich das Leben genommen hat. Das Letzte Recht, dass es für ihn noch gab. Mit dem letzten Blick ins Zugspitzensignal.
Diese bedrückende Stille ist kaum aushaltbar, zu ernst die Situation. Sie hat Angst laut los zu schluchzen. So, dass in Bächen die Tränen aus den Augen fließen und die Schultern vor Erregung zucken, weil man nicht mehr fähig ist tief ein- und auszuatmen. Wie gerne hätte sie gelacht. Mit ihm. Er lachte doch auch so gerne. Das klappern ihrer Absätze verhallte in der hohen Kuppel, unter der die letzte Ruhestätte aus Nussbaum stand. Vorsichtig strich sie über die Seite des glatten Holzes und roch an den roten und weißen Rosen die in der Mitte Platz gefunden hatten. Die rechte Hand platzierte sie genau dort, wo sich ihrer Vorstellung nach das Herz befinden müsste, und jetzt erst spürte sie die ersten Tränen langsam von ihren Wangen tropfen. Die Frage nach dem Warum wird immer bestehen, doch es liegt soviel Unerklärliches dazwischen, dass es einfach nicht zu verstehen sein wird. Irgendwo hätte sich bestimmt ein Ausweg finden lassen. Oder nicht? Das quietschen der Flügeltüre reißt sie aus ihren Gedanken. Schnell wischt sie sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln. Die Bestattungsangestellten tragen Gestelle in den Raum, und stellen sie neben dem Sarg ab. Darauf hängen sie die, von den nächsten Verwandten gebrachten, Trauerkränze. Blumenspenden anderer, finden vor den Stufen am Boden Platz. Der Organist beginnt einen jugendlichen Pop-Song anzuspielen. Das Zeichen, die wartenden Trauergäste in den Raum zu bitten. Wenn sie sich nicht gerade auf dem Begräbnis ihres Bruders befinden würde, könnte sie sich für die Musik sogar begeistern. Mutlos dreht sie ihren Stimmungsring, der sich seit einigen Wochen überhaupt nicht mehr dazu bewegen lässt, sich in eine andere Farbe zu verwandeln. Er bleibt schwarz. Wahrscheinlich ist er auch kaputtgegangen. So wie ihr Bruder. Und so wie sie selbst, in diesen Moment, den Rest von ihrem Herzen fühlt. Kaputt.
Von der Feier bekommt sie nicht allzu viel mit. Ihre Gedanken galoppieren wild mit ihr davon. Tief in ihr inneres. Wortfetzen drängen sich manchmal bis in ihr Gehirn vor. Der Vater spricht, als hätte er ihn persönlich gekannt. Seine Vorlieben, oder worüber er sich gefreut hat oder auch den Kopf zerbrochen. Und dass er viel zu jung zum sterben war, das merkte er noch an. Hat er etwa gewusst, dass er Pistazieneis geliebt hat? Tintenfisch und Spinat gehasst? Oder dass er der größte Madonna und Starwars-Fan war? Nichts von alldem hat er gewusst. Ein quietschen stört nur kurz die Rede und eine schmale Gestalt drängt sich durch die Flügeln der Schwingtüre. „Typisch Doris“, würde er jetzt sagen „kommt immer zu spät“. Und genau dasselbe denke ich.
Die Musik verstummt, und die Glocken begleiten läutend den Trauerzug. Es heißt nicht umsonst „der schwerste Gang des Lebens“, wenn man einem Sarg folgen muss, in dem ein geliebter Mensch zur letzten Ruhestätte getragen wird. Die Beine wiegen schwer wie Blei und jeder Schritt ist eine einzige Qual. Man möchte schluchzen, toben und schreien, um sich schlagen und ganz laut „Warum?“ in die Weite des Himmels schreien. Und sich dabei auf den Nächsten in der Reihe stützen, weil es manchmal den Anschein hat, dass einem gleich die Ohnmacht überfällt. Tausend Gedanken schießen ins Gehirn. Worte, die ihr einst der Religionslehrer nahe gebracht hat, als sie noch ein kleines Mädchen mit Zöpfen war. Dass Selbstmord Sünde ist, und man nicht „in den Himmel“ kommt. Was, wenn er tatsächlich nicht den Frieden findet, den er sich doch so sehr gewünscht und mit dieser Tat auch provoziert hat? Was, wenn er Unrecht hatte, und nun doch nicht dort ist, wo er so gerne sein wollte? Was, wenn sein Traum nun doch nicht in Erfüllung geht? Und was, wenn er nicht glücklich ist? „Mach Dir nicht immer so viele Sorgen“, hört sie in ihrem inneren. Das hat er erst vor kurzem auch noch zu ihr gesagt, wie so oft.
Sie hält die kleine Erdschaufel in der Hand und hört den Geistlichen „Asche zu Asche, Staub zu Staub“ sagen. Sie gibt die Schaufel unbenutzt zurück, zu hart kommt ihr der Aufschlag der feuchten Erde vor. Stattdessen haucht sie der weißen Rose einen sanften Kuss auf die zarten Blätter und wirft sie in das freigeschaufelte Loch, genau auf den Sargdeckel. Ihr Blick wandert Richtung Himmel, als ob sie krampfhaft versucht da draußen irgendwo sein Gesicht zu entdecken. Doch sieht sie einen Sonnenstrahl, der sich langsam und mit Mühe durch die Wolkendecke kämpft. Als sie den Steg verlässt, um anderen Platz zu machen, steht sie inmitten eines Kreises von hellen Sonnenstrahlen. Ihr Ring, an den sie sich immer noch klammert und hin und her dreht, wie es ihre Gewohnheit ist, strahlt in dem hellsten Blau, in dem er noch nie gestrahlt hat. Mit diesem Blick erinnert sie sich an den Satz, den er irgendwann einmal gesagt hat:
„Wenn die Sonne scheint, dann bin ich glücklich!“