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Wenn der Kopf außer Kontrolle gerät
Sebastian ist eigentlich ein ganz fröhlicher Geselle. Er hat einen festen Job, stressfrei, aber ohne große Erfüllung, eine annehmbare Mietwohnung und ein paar unspektakuläre Hobbys. Ab und zu trifft er sich mit Freunden. Zwischendurch gönnt er sich auch mal eine Reise ans Meer. Ein Durchschnittstyp mit einem durchschnittlichen Leben, ganz okay eben. Wenn da nur nicht im vergangenen Frühsommer die üble Sache mit seinen Eltern gewesen wäre. Genau rekonstruieren lässt sich der Grund des Autounfalles bis heute nicht, obwohl sich Sebastian die Unfallstelle wenige Tage nach dem Crash ganz genau angeschaut hatte. Dabei war sein Vater doch stets um eine vorsichtige Fahrweise bemüht. Und die Kreuzung war von allen Seiten prima einzusehen. Sebastian erinnert sich gut daran, wie es ihm als Kind zum Teil peinlich war, wenn sein Vater mal wieder eine immer größer werdende Aneinanderreihung von genervten Autofahrern hinter sich hergezogen hatte. Immerhin: Seine Eltern hatten den Zusammenstoß dank der Airbags in ihrem alten Golf schwer verletzt überlebt. Seitdem sind beide auf einen Rollator angewiesen. Die meiste Zeit verbringen sie deshalb in den eigenen vier Wänden. War vor dem Unfall das Leben seiner Eltern sehr eintönig, erschien es Sebastian jetzt, als würde es still stehen.
Sebastian hat sich neben seinem Job viel Zeit für seine Eltern genommen und so manche Stunde in Krankenhausfluren und -zimmern verbracht. Vor allem die monatelange Lauferei und der Ärger mit Ärzten, Pflegern, Behörden und Versicherungen haben den einzigen Sohn förmlich zermürbt. Im Kampf gegen Windmühlen stand er allzu oft auf verlorenem Posten. Alles schien sich gegen Sebastian verschworen zu haben. „Schön wäre es, jetzt ein paar Geschwister zu haben“, dachte er sich. Neben diesem Stress kam noch ein anderer am Arbeitsplatz hinzu. Burnout ist weit verbreitet, eine Folge unseres schnelllebigen und oberflächlichen Alltags, aber Sebastian machte etwas ganz anderes fertig: Seine Unterforderung und die Missachtung seiner Arbeit. Auch die freien Wochenenden brachten keine Ablenkung. Sebastian kam sich vor wie in einem Hamsterrad, unfähig zu entspannen.
Schon länger hatte er eine unangenehme Anspannung in seinem Nacken bemerkt. Ins Büro ging er morgens zunehmend lustlos und genervt. In letzter Zeit zog auch sein Kopf immer leicht nach links, wenn Sebastian in Bewegung war. Er versuchte es zu ignorieren, schob es auf seine momentane Situation, seine Psyche und den Unfall seiner Eltern.
„Selbst das Laufen an frischer Luft, was mir immer Spaß machte, fällt mir zusehends schwer“, denkt er sich irritiert. Neben Ärger und Wut stellt sich noch ein Gefühl ein: Angst. Irgendwie ist alles anders, beängstigend anders.
Doch so schnell lässt sich der gelernte Medienberater nicht unterkriegen. An einem lauen Augustabend nimmt Sebastian seine gewohnte Strecke unter seine Laufschuhe. Doch die Angst machenden Symptome lassen sich nicht abschütteln. Mit jedem gelaufenen Meter steigen Anspannung und Schmerzen im Nacken. Sebastians Kopf dreht zur Seite, lässt sich kaum noch gerade halten. Sein Hals fühlt sich steif an, fast so, als wäre er in einem Schraubstock gefangen. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins durchflutet seinen Körper. „Warum kann ich nicht geradeaus nach vorne schauen? Ich will doch nur ein bisschen relaxen?“, denkt er sich. Doch die fast schon sehnsüchtig erwartete Entspannung bleibt aus. Im Gegenteil: Die unkontrollierte Kopfbewegung nimmt mit jedem Adrenalin-Schub weiter zu. „Wenn das die Leute sehen“, schießt es dem Mitvierziger plötzlich auch noch durch den Kopf. Und prompt: Hinter der nächsten Kurve kommt ihm ein joggendes Pärchen entgegen. Schnell tut Sebastian so, als würde er sich am Schädel kratzen, das scheint zu helfen, um diesen wieder gerade zu bekommen. Das Pärchen trabt an ihm vorbei und hat wohl nichts bemerkt. Sebastian ist erleichtert. „Eigentlich kann es mir aber auch egal sein, was andere von mir denken“, überlegt er sich. Beruhigend wirkt das nicht. Der Zug des Kopfes nach links wird nicht weniger, sondern mehr. Sebastian hat mehr und mehr Schwierigkeiten, ihn während des Laufens gerade zu ziehen. Erneut kriecht die Angst in ihm empor. „Was ist das und warum hört das nicht auf?“, fragt er sich.
Schließlich hat Sebastian genug vom Laufen, den Symptomen und den Schmerzen. Völlig entnervt bricht er das Training ab. Fast unter Schock stehend vom gerade Erlebten fährt Sebastian nach Hause und hofft auf die warme Dusche. Doch das merkwürdige Gefühl im Nacken und der Zug des Kopfes bleiben. Fast ist es so, als würden unsichtbare Gummibänder an seinem Schädel ziehen. Manchmal denkt Sebastian, dass das Ganze nur ein schlechter Traum sei, aus dem er hoffentlich bald aufwachen werde. Doch es ist kein Traum, es ist ein Alptraum.
Ein paar Tage später entscheidet sich Sebastian, eine Psychotherapie zu beginnen. Damit kennt er sich aus. Sie hat ihm schließlich schon einmal geholfen. Woche für Woche führt er Gespräche mit seiner Therapeutin, doch der Alptraum geht weiter. Schließlich geht nicht mehr viel. Sebastian lässt sich krank schreiben.
Zwischendurch hat der Mitvierziger den Rat seiner Therapeutin befolgt und sich von einem Orthopäden und einem Neurologen untersuchen lassen. Doch zu einer handfesten Diagnose kamen beide nicht. Im Gegenteil: Sie stempelten Sebastians Beschwerden als Tick ab. „Prima, also doch wieder die Psyche“, denkt er sich.
Seine Verzweiflung nimmt zu. In den nächsten Wochen werden die Beschwerden schlimmer. Mittlerweile möchte Sebastian wegen seiner ungewöhnlichen Symptome am liebsten seine Wohnung gar nicht mehr verlassen und nimmt Kontakt zu einer psychiatrischen Tagesklinik auf. „Irgendjemand muss mir doch helfen“, denkt er sich zunehmend desillusioniert. Durch die täglichen Therapieangebote und die Gespräche mit Mitpatienten bekommt er zumindest so etwas wie Tagesstruktur. Doch der Klinikalltag ist anstrengend und zunehmend mit Schmerzen verbunden. In jeder freien Minute zieht er sich deshalb in den Ruheraum zurück, um Kopf und Hals zu entlasten. Sebastian ist froh, das wenigstens beim Liegen sein Haupt zur Ruhe kommt und er somit etwas entspannen kann. Auch das macht Sebastian fertig. Er fühlt sich nutzlos und hilflos wie ein Baby, irgendwie, als hätte man ihn auf ein Abstellgleis geschoben.
Nichts geht voran und auch sein Arbeitgeber wird wegen seiner langen Arbeitsunfähigkeit langsam ungeduldig, die Kündigung droht. Sein Therapeut, das Pflegeteam und auch die Mitpatienten stehen zunehmend vor einem Rätsel und wissen nicht mehr weiter. Und das spürt Sebastian an jedem Tag. „Wenn das so weitergeht, bin ich auch bald depressiv“, befürchtet er und malt sich ein düsteres Zukunftsbild aus.
An einem der unzähligen fruchtlosen Therapietage überrascht seine Pflegekraft plötzlich mit einer Idee. Sie habe über das Wochenende die von Sebastian geschilderten Symptome im Internet recherchiert, eröffnet sie ihm, und sei dabei auf ein möglicherweise neurologisches Phänomen gestoßen. Sebastian soll sich bei einem ganz bestimmten Neurologen in seiner Stadt vorstellen. Der Medienberater hat Glück. Rund zwei Wochen später sitzt er bereits in der begehrten Sprechstunde des Neurologen. Sebastian erzählt seine Leidensgeschichte, anschließend beobachten ihn die Ärzte eingehend beim Gehen und Sitzen – dann steht für das Team die Diagnose fest. Es ist eine Diagnose, von der Sebastian zuvor noch nie etwas gehört oder gelesen hat. Er leidet an einem Torticollis spasmodicus, im Volksmund wohl besser bekannt als Schiefhals. Die Nachricht noch nicht einmal richtig verdaut, hört er, dass die zu den Dystonien zählende neurologische Erkrankung bis heute nicht heilbar ist. „Soll er jetzt bis zu seinem Tod mit dieser Erkrankung leben? Kann er überhaupt noch künftig vernünftig am Alltagsleben teilnehmen, Autofahren, einen Beruf ausüben, vielleicht eine Partnerin finden?“ Fragen über Fragen.
Doch der Neurologe ihm gegenüber und auch dessen Assistentin bleiben gelassen. Sie scheinen diese Fragen häufiger zu hören. Sebastian ist wohl nicht ihr einziger Patient mit einem Schiefhals. Kaum hat er sich ein bisschen gefasst, folgt die nächste Überraschung: Das Mittel der Wahl heißt Botox. „Was?“ Das kannte Sebastian bisher nur vom Wegspritzen von Falten älterer Frauen. „Das hochtoxische Nervengift soll helfen, wieder ein halbwegs normales Leben führen zu können?“ Sebastian denkt kurz nach, doch er hat keine Wahl, sein Leidensdruck ist mittlerweile einfach zu groß. Er will sich auf jeden Fall auf die vorgeschlagene Botox-Therapie einlassen. Und wer weiß: Vielleicht glättet das Botox so ganz nebenbei auch noch seine hohe Denkerstirn. „Das wäre doch mal eine schöne Nebenwirkung“, denkt er sich. Und nach langer Zeit umspielt wieder ein kleines Lächeln seine Mundwinkel.