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Wenn der Goldfisch träumt
»Jetzt«, schrie das Kind mit den drei Stimme, und wir liefen los. Wir sprangen durch das goldene Licht, doch wies es uns ab. Wir versagten. Das goldene Licht wurde schwarz.
Unsere Mission war gescheitert. Aber wir wusste nicht, warum. 13 Köpfe und keiner von uns hatte den Schimmer einer Ahnung. Wir waren uns so sicher: Würden wird die Wächter passieren, könnten wir zum goldenen Licht gelangen, dann wüssten wir, was zu tun war. Wir würden den Kreis schließen und springen. Und doch versagten wir.
Unser Anführer, das Kind mit den drei Stimmen, machte sich alleine dafür verantwortlich. Wir anderen redeten ihm gut zu, versicherten ihm, er habe keinen Fehler gemacht und dass wir doch alle Eins seien. Doch er ließ von seiner Schuld nicht ab – am Ende war er es gewesen, der sich sicher war, wir würden es schaffen. Am Ende war er es gewesen, der versagt hatte.
Einige Tage später saßen wir gemeinsam beim Essen. Wir versuchten es zu genießen, versuchten zumindest für diesen Moment den Druck abzulegen. Aber wir wussten gleichzeitig, mit jedem Bissen legte die Zeit eine Sekunde auf den Erledigt-Stapel.
Und da kam es mir. Ein Stapel. Wir hatten versucht den Kreis zu schließen, um zu springen. Aber es war kein Kreis. Es waren Schichten. Layers.
Ich sprang auf. Das Kind mit den drei Stimmen sah mich mit demselben verzweifelten Blick an, der seit Tagen sein Antlitz zierte. Ich lief zu ihm voller Freude. Ich wusste, ich hatte das Problem gelöst.
»Es ist kein Kreis, es sind Layers!«, rief ich. Die anderen sahen mich mit Verwirrung an, aber bei unserem Anführer wich die Verzweiflung der Angst und heute ist mir klar, dass er wusste, dass ich Recht hatte. Doch er fürchtete sich zu sehr.
»Nein«, sagte er bestimmt. »Das ist ein zu großes Risiko.«
»Wie kann es ein zu großes Risiko geben, bedenkt man, was auf dem Spiel steht?«
»Würden wir deinem Vorschlag folgen«, sagte der Anführer, »müssten wir mit ihm zusammenarbeiten. Nur er kann durch Layers reisen. Das ist ein Risiko, das ich nicht eingehe. Wir müssen es alleine schaffen.«
»Aber die Layers sind unsere einzige Chance!«
»Genug! Ich erlaube keine weitere Diskussion.«
Mir ließ es keine Ruhe. Die anderen standen natürlich auf der Seite des Kindes mit den drei Stimmen. Und ich kreide ihnen das nicht an – er ist der Anführer. Auch ihn konnte ich verstehen. Nach unserem Versagen war jeder weitere Versuch noch riskanter. Die Wächter erwarteten uns nun. Doch für persönliche Befürchtungen durfte kein Platz sein. Die Mission war zu wichtig, sie weiter aufzuschieben.
So beschloss ich, es alleine zu tun. Meine Verbündeten zu hintergehen, meinen Anführer zu verraten. Ich konnte nicht auf etwas hören, woran ich nicht glaubte – selbst dann nicht, wenn es von einem Verbündeten kam.
Am nächsten Abend beschwor ich also MIRAK, den Dämon vergangener Ängste. Ihm war nicht zu trauen und seine Hilfe würde einen Preis haben. Aber das war gleich.
MIRAK erschien jedem anders, mir als übergroßer Mann mit breiten Schultern, dunklen Augen und dem Grinsen eines Totempfahls. Mit seinen unendlichen Fühlern krallte er sich wie die Hyphen eines Pilzes in meinem Geist fest. Er genoß es, dass ich ihn brauchte und als ich ihn nach seinem Preis fragte, lachte er nur und meinte, er wäre mir nicht erschienen, wäre ich nicht bereit, alles zu zahlen.
Nun war ich also bereit, durch das goldene Licht zu springen. Doch noch bevor ich mich heimlich auf den Weg machen konnte, orderte das Kind mit den drei Stimmen einen Angriff auf mich an. Ich weiß nicht wie er erfahren hatte, dass ich MIRAK auf eigene Faust nutzen wollte, um zu vollbringen, wozu das Kind zu feige war.
Und so musste ich gegen meine Freunde kämpfen, gegen die zwölf, die mich ein ganzes Leben lang schon begleiteten. An diese Kämpfe habe ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. Diese Stücke sind beschämend und brutal. Durch MIRAK war ich unbezwingbar und fähig, meinen Verbündeten Leid anzutun, das so unvorstellbar ist, dass ich es vergessen habe. Das war notwendig.
Dann, als sich der Staub der Schlacht legte, war ich endlich bereit, zu springen.
Durch das goldene Licht.
Und ich vergaß.
Mit 13 Jahren saß ich in der Englischklasse. Meine Hände klebten vor Schweiß. In meinem Magen wuchs ein Knäul aus Stacheldraht heran, das sich daran labte, dass ich den nächsten Absatz lesen musste.
»Tim«, kreischte meine Lehrerin. »Schläfst du? Du bist dran!«
Ich schluckte, MIRAKs stummen Atem im Nacken.
Was tat ich da? Ich war keine 13 mehr. Was war hier los? Ich konnte damals kein Wort Englisch, ja. Aber heute? So viel Zeit war vergangen. Genug Zeit, zu lernen.
Feierlich stand ich auf, das Buch in der Hand. Ich verlaß den Text in bestem Englisch. Ich besiegte MIRAK. Meine Angst von früher, heute konnte sie mir nichts mehr anhaben. Heute war ich besser.
Doch noch gab er nicht auf.
Mit zehn stand ich am Beckenrand.
»Spring!«
Aber ich konnte nicht schwimmen. Als einziger in der Klasse.
»Schwimm, Tim! Schwimm, Tim!«, sang MIRAK und der Kinderchor stimmte mit ein.
Was tat ich hier? Es gab doch etwas zu tun! Was? Meine Angst, sie vernebelte meinen Geist. Ich war nicht mehr zehn! Ich musste nicht schwimmen.
Ich schloss die Augen, atmete durch.
1995. Das goldene Licht. Eine Zeitreise und die Mission, das Mädchen zu finden. Ich wusste wieder alles, ich war wieder ich selbst, wusste, was ich geopfert hatte. MIRAK, immer noch hinter mir, lachte über mich, schickte mir die Ängste meiner Vergangenheit hinterher, mich zu jagen. Aber jetzt war ich stärker. Ich erlaubte ihm nicht, mich zurückzuhalten. Ich sah ihn nicht mehr an. Ich war, wo er mich hinbringen sollte. Ich brauchte ihn nicht mehr.
Endlich stand ich vor dem unendlichen Haus, klopfte und die gesichtslose Mutter öffnete. Freundlich bat sich mich herein. Sie wusste, was ich wollte.
Marina war damals neun. Sie freute sich, mich zu sehen, obwohl sie mich nicht kannte. Das musste sie auch nicht. Aber ich wusste, wer sie war.
Sie war die Hoffnung der Zukunft.