Wenn der Fernseher Bilder sendet
Wenn der Fernseher Bilder sendet
Es ist 15:00. Seine Lieblingsserie beginnt– wie jeden Tag. Seit nun mehr als sieben Stunden verweilt er schon wieder vor dem Bildschirm.
Seine Eltern waren wie jeden Tag arbeiten. Der Junge war mittlerweile 15 Jahre alt. Doch seit knapp sechs Jahren schlich sich eine gewisse Lethargie in sein Leben. Jeden Tag die gleiche Prozedur.
Er wurde von seinen Eltern in der Früh geweckt und auf den Schulweg geschickt. Mehrmals in der Woche versteckte er sich dann aber hinter einer Hecke, wartete bis seine Eltern das Haus verließen und verschanzte sich wieder daheim vor dem Fernsehgerät. Wenn er mal zur Schule ging, war das Einzige, an das er dachte, das Fernsehen. Nach dem Gong war er immer der Erste, der das Schulgebäude verließ um bloß nicht den neuesten Klatsch und Tratsch der Reichen und Schönen zu verpassen. Schließlich musste er wissen, ob sich etwas Neues im Leben seiner Idole ereignete. Wenn er mal erwachsen war, würde er genauso leben:
Luxuriös, eine Limousine besitzend, immer gut gelaunt und die schönsten Frauen um sich habend.
Diese Folge kennt er schon. Er hat sie schon öfter gesehen. Schade! Aber wenigstens kann er die Dialoge mitsprechen. Unterhaltung ist gewahrt. Heute, wie jeden Mittwoch, kommen seine Eltern schon um 16:00 von der Arbeit. Er hat eigentlich Nachmittagsunterricht – doch er würde sich ins Bett legen und seinen Eltern erzählen, dass er krank wäre. Besonders seine Mutter ist leichtgläubig. Noch hat er eine halbe Stunde, es ist jetzt 15:30. Seine Lieblingstalkshow beginnt. Endlich wird wieder über Sex und Gewalt geredet.
Freunde hatte er keine. Wozu auch? Das Einzige, was ihm die wirklichen Lebenswerte vermittelte, war das Fernsehen. Wozu dann noch Freunde? Bald würde er wie seine Idole werden. Auf eine Arbeit hatte er keine Lust. Wozu auch? Seine Eltern arbeiteten doch die ganze Zeit, von denen würde er sich schon das nötige Geld nehmen.
Es war doch alles so schön und vor allem einfach.
Plötzlich geht die Haustür auf. Seine Eltern sind schon jetzt gekommen. Seine Mutter ist empört, der Vater sauer. Sie schicken ihn auf sein Zimmer. Hausarrest! Egal, das kommt ihm nur zu Gute. Fernsehverbot! Was bilden sich diese Leute überhaupt ein? Ärger, Wut, Hass staut sich in ihm auf.
0.00 Uhr. Er kann nicht schlafen. Ausgerechnet jetzt hat er keinen Fernseher zur Verfügung. Jetzt, wo doch die brutalen Filme erst über die Mattscheibe flimmern. Verzweiflung. Hass. Er verlässt sein Bett, geht rüber zu seinem Schrank. Er lächelt.
Oh, diese gottverdammte Schule, wieso müssen immer diese Ausflüge gemacht werden? Er wäre doch viel lieber daheim geblieben. Aber wenn schon mal ein Ausflug, dann müsste er sinnvoll genutzt werden! Nachdem Museumsbesuch wurde den Schülern noch Zeit zum Einkaufen gewährt. Er war allein, hatte sich selbst zum Außenseiter, zum Einzelgänger degradiert. Er ging in ein Modegeschäft. Die Anzüge. Zu teuer! Bald…
Er ging in einen Elektroladen. Ein Italo-Western lief in einem der Vorführgeräte.
Waffen! Das nächste Waffengeschäft lag nicht weit entfernt. Genügend Taschengeld hatte er für einen Revolver; doch der Verkäufer befand ihn für zu jung.
Das Geschäft verlassend, wanderte sein Blick zu einem Schild: „Schützenverein, 50m links“. Er hatte eine Idee…
Er öffnet seinen Schrank. Im obersten Fach, von einigen Showbiz-Magazinen bedeckt, liegt sie. Seine wunderschöne Magnum. Ein von Wahnsinn geprägter Ausdruck belagert sein Gesicht, während er sein Zimmer verlässt. Mit seiner linken Hand öffnet er die Schlafzimmertür seiner Eltern. Es ist dunkel. Seine Mutter liegt angeschmiegt, glücklich, an seinem Vater. Beide schlafen.
Zwei Schüsse explodieren aus seiner Pistole und erfüllen den Raum mit einem schmerzenden Knall. Seine Eltern sind tot. Ihr Blut saugt sich an der Wand fest, um dann langsam hinab zu fließen.
Er sucht und findet schließlich seine Objekte der Begierde. Das Fernsehkabel und die Bedienung, die nicht sonderlich gut von seinem Vater versteckt wurden.
Stolz schließt er es an und legt sich wieder auf sein Sofa, die Kanäle durchzappend. Plötzlich fällt die Fernbedienung auf den Boden, er hebt sie auf, sieht auf den nicht weit entfernten Esstisch die Kreditkarte seines Vaters. Er nimmt sie und lacht. Jetzt kann das wahre Leben beginnen.