Wenn das hier ein Buch wäre
‚Sie sieht aus wie eine dieser alten geheimnisvollen Frauen, von denen man sich erzählt, sie seien Hexen’, dachte David. Die Frau die ihm im Bus gegenübersaß war bestimmt schon über 70 und mit dem halb geschlossenen rechten Auge hatte sie etwas Mahnendes an sich. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn die ganze Zeit böse anstarrte, aber immer wenn er unauffällig zu ihr hinüberschaute, sah sie in eine andere Richtung. Er hatte sie noch nie gesehen, aber das lag wahrscheinlich daran, dass er immer um eine andere Zeit mit dem Bus fuhr. Nur heute hatte er ausnahmsweise länger in der Schule bleiben müssen.
Wenn das hier ein Buch wäre, dachte David heimlich. ‚dann wäre sie eine Frau die jeder für alt und verrückt hielte. Eine Gruppe Jugendlicher würde über sie lachen und ihr ständig Streiche spielen. In dieser Gruppe befände sich auch der Held des Buches, der nur mitmachen würde um bei den anderen beliebter zu sein, obwohl er die alte Frau eigentlich nett fände und erst recht nicht verrückt. Während der Bus an den Wiesen vorbeifuhr, die wie jedes Jahr um diese Zeit überflutet waren, glitt Davids Blick über auf den Mann der neben der neben der alten Frau saß. Zwar war dieser mit seinen knapp 25 Jahren, den hochgegelten Haaren und dem Augenpiercing ein absoluter Kontrast zu ihr, aber im Buch würde sich am Ende herausstellen, dass er der ihr Sohn oder Enkel ist.
Der Bus hielt und David wurde kurz aus seinen Gedanken heraus gerissen, stellte aber erleichtert fest, dass weder die Frau, noch ihr Nebenmann ausstiegen. Er wusste selbst nicht warum, aber er mochte die alte Frau, trotz ihres bösen Blickes und ihrer vermeintlichen Schrulligkeit. Was sie wohl gerade dachte?
‚Er sieht aus wie einer dieser Jungen, die alles machen, was ihre Kameraden sagen, nur um Anerkennung zu erringen’, dachte die Frau. Wenn das hier ein Buch wäre, dachte sie heimlich, dann würden er und seine Clique, einer alten Frau Streiche spielen und über sie lachen, obwohl der Junge, die Frau eigentlich sehr nett fände.
Neben dem Jungen saß noch ein Junge, der mit seinem Draufgängerlook einen absoluten Kontrast zu der Brille und den strubbeligen Haaren des ersten Jungen darstellte. In einem Buch würden die Zwei sich am Ende streiten, der erste Junge würde aber neue „richtige“ Freunde finden.
Was er wohl gerade dachte?