Weniger haben, nichts sein.
Er sitzt hier schon seit einer Ewigkeit, angelnd auf seinem kleinen Boot auf dem See. Die Temperaturen sind angenehm, die Sonne scheint, das Wasser ist klar. Freiherr greift in seinen Beutel. Mit klobigem Griff bringt er einen Köder an seiner Angel an. Er spricht sich Petris Heil aus und wirft die Angel aus. Der Köder ist im Wasser. Nun beginnt für Freiherr das lange Warten. Routinesache, könnte man meinen, er ist immerhin schon ein erfahrener Fischer. Mitte Vierziger, hat sich eigentlich noch ziemlich gut gehalten. Zum Fischen ist er durch die Arbeit gekommen. Im stressigen Management, sagt man, ist es unabdingbar eine gute Ausgleichstätigkeit zu pflegen. Und ausgleichend ist es schon dieses Fischen. Denn trotz Gewohnheit kommt ihm dieses Warten auf den Fisch lange vor. Sein Alltag ist dominiert von ständigem Pendeln. Er geht von der einen Sitzung zur Nächsten. Haltlos und ohne Rast. Hier in der Stille der Natur hat er plötzlich immer wieder aufs Neue Luft zum Atmen. Gute Luft ist es, Höhenluft. Die Höhe mag er sehr. Berglandschaften haben ihn schon immer fasziniert. Freiherr blickt gelassen umher. Er geniesst. Keine Menschenseele scheint um ihn herum zu sein. Idylle pur, denkt sich Freiherr. Und plötzlich aus dem Nichts heraus glaubt Freiherr etwas an seiner Angel zu wissen. Mit flinkem und geübtem Griff zieht er die Angel ein und oh Wunder, er hat IHN gefunden.
Gott: ‚Freiherr, ich habe dich gesucht. Deiner mache ich mir Sorgen. ‘
Freiherr: ‚Lieber Gott, mir geht es gut. Ich bezeuge. Ich bin jetzt wieder in meinem Idyll lieber Gott. Ich will dir danken. ‘
Gott: ‚Genau darin liegt meine Sorge Freiherr. Geh doch lieber zurück zur Arbeit. Deine Mitbürger verlangen nach dir. Du musst Gutes Schaffen für die Gesellschaft. Freiherr, als einflussreicher Manager ist die Welt auf dich angewiesen, lasse sie nicht im Stich. Freiherr geh‘ in dein Büro! ‘
Freiherr: ‚Ich will ja gehen, alsbald ich geangelt habe, was ich brauche. Nämlich wären da zwei Forellen in den Wassern ohne die ich auf keinem Fall heimreisen will. Ist der Fisch nicht dein Symbol grosser Gott? ‘
Gott: ‚Freiherr du darfst dich vom Fisch nicht abhalten lassen. Er ködert dich weg von deiner Bestimmung in der Gesellschaft. Freiherr, um ein guter Mensch zu sein musst du Gold anhäufen, Mehrwert schaffen. Jetzt geh endlich! ‘
Freiherr: ‚Lieber Gott ich will mich doch selber verwirklichen. Wie kannst du das nur nicht einsehen?‘
Gott: ‚Selbstverwirklichung ist Laster, so kommst du nie in den Himmel Freiherr. ‘
Langsam wird es Freiherr zu bunt. Anfänglich noch erfreut über seinen guten Fund ist seine Stimmung nun spätestens gekippt. Er fühlt sich von Gott bedrängt, fühlt sich wieder als kleine arbeitende Ameise. Freiherr will dies nicht zulassen. Mit seinen schwachen Manager Ärmchen greift er den Scheitel Gottes. Gott ist ja in den Lüften. So ist Gott also auch leicht. Ebenso leicht ist es für Freiherr, Gott zu ertränken. Endlich, denkt sich Freiherr, ist dieser blöde Widerredner tot. Eigentlich war Freiherr immer ein religiöser Mensch. Nun denkt er sich, nachdem Gott tot ist, dass es der Welt ohne einen solchen Gott viel besser gehen würde. Freiherr blickt empor, sieht wie sich der Himmel in der Zwischenzeit abgedunkelt hat, wie kleine Wölklein aufziehen. Der Himmel weint ob der grossen Verlusts. Die Gottlosigkeit aber ist Freiherr egal. Er merkt, wie seichte Wellen sein Boot zum schaukeln bringen. Das macht ihm alles nichts aus. Denn endlich kann Freiherr wieder weiterangeln. Aufs Neue setzt er den Köter an seine Angel, aufs Neue wirft er sie aus. Petri Heil! Er versucht auch in diesem Moment wieder vorerst die Ruhe zu geniessen. Die leichten Windstösse stören Freiherr jedoch nur minim. Und schon wieder: Etwas hat angebissen. Oh Wunder, es ist seine absolute Lieblingsband.
Rollender Stein: ‚Freiherr hier steckst du also! Wir haben dich gesucht. ‘
Freiherr: ‚Ihr mich? Wahnsinn, dass ich nicht träume?! ‘
Rollender Stein: ‚Freiherr kauf mir meine Musik ab, Streamingdienste stehlen uns die Existenz. ‘
Freiherr: ‚Von den Platten habe ich etliche gekauft. Versauft doch nicht alles, was ihr habt. ‘
Rollender Stein: ‚Wenn es nur das Saufen wäre! Wir haben alle Familie, Villen, teuer geleaste Wägen edler, deutscher Marke. Wir brauchen DEIN Geld Freiherr. Komm zurück in die Stadt und konsumiere! ‘
Freiherr: ‚Das will ich nicht! ‘
Rollender Stein: ‚Noch bessere Idee, es gibt ein Live Konzert auf deine Kosten. ‘
Freiherr ist erbost. Seine Lieblingsband ist scheinbar doch nur ein Haufen geldgeiler Idioten. Die Musik ist schlecht, rauschend. Kein Wunder, die Verstärker sind ja auch total durchnässt. Und Freiherr hat das innere Verlangen, dass es Rollendem Stein genauso ergehen soll, wie seinem Equipment. Er packt ein Bandmitglied nach dem Anderen am Schopf und ertränkt es im Wasser. Es gab Zeiten, da schätzte Freiherr noch die Gesellschaft, mit Ihrer Kultur, doch er erkennt, dass nicht nur Gott ein absoluter Schwachkopf ist, sondern mit Ihm auch die ganze Gesellschaft. Freiherr denkt sich, das idyllische Gesamtbild seines Bergsees im Kopf habend: ‚Weniger haben, mehr sein! Das ist also das Credo, nachdem ich die längste Zeit meines Lebens gesucht habe. ‘ Doch im Gegensatz zu seiner hellen Stimmung bemerkt er ein Abdunkeln des Himmels. Düstere Wolken ziehen auf, Freiherr vernimmt Blitz, dann Donner. Die Wellen werden grösser. Doch aufgehellt von seiner neu entdeckten Weisheit präpariert er die Rute auf ein Weiteres. Köder drauf, Petri Heil und ab die Post! Schön ist die Stille, auch wenn sie gerade nicht mehr so still und friedlich wie zu Beginn ist. Und ehe sich Freiherr versieht, hat er schon etwas Neues am Hacken. Und dieses Mal ist es wirklich das Beste überhaupt. Er hat sich soeben selber herausgezogen.
Freiherr: ‚Hallo Freiherr, weniger haben, mehr sein, stimmt’s? ‘
Freiherr: ‚Gold richtig.‘
Freiherr: ‚Weisst du, wer Gold verwaltet? ‘
Freiherr: ‚Der Besitzende. Die Manager.‘
Freiherr: ‚Mein Liebster, du bist doch ein Manager! ‘
Freiherr: ‚Das will ich nicht mehr sein. Ich habe diesen Manager Typen den Rücken gekehrt. Ab nun lebe ich nämlich mein Leben. Ich lebe das Idyll auf den Bergen, in den Alpen. Ich lebe dort, wo es mir gefällt. ‘
Freiherr: ‚Das werde ich auf gar keinem Fall zulassen! Wenn du nicht zur Gesellschaft zurückkehren willst, so werde ich es tun. ‘
Freiherr: ‚Nein, die blöden Leute sollen mich vergessen. Ich will nicht Freiherr der Manager sein. Ich will Freiherr der Geniesser sein. Weniger haben, mehr sein! ‘
Freiherr will sich abwenden und Richtung Aussenwelt davonlaufen. Er läuft über Wasser. Freiherr, jedoch ganz erbost, eilt sich selber hinterher. Er will sich selber nicht in der verblödeten Gesellschaft sehen. Und sie verfolgen sich auf dem Wasser, bis Beiden der Atem ausgeht.
Freiherr: ‚Lass mich hier bleiben. Ich kann mit deinem ganzen Gehabe nichts anfangen. ‘
Freiherr: ‚Lass mich gehen. Ich kann mit deinem ganzen Gesein nichts anfangen. ‘
Und in Rage umschlingen sich Freiherr und Freiherr. Wasser trinken sie, Bergseewasser. Die Bergkulisse verbirgt sich hinter festen Wolkenwänden. Der Blitz trifft den See. Freiherr sei tot.
Ein neuer Morgen bricht an. Die Berge sind schön, das Echo klingt weit. Der See ist spiegelglatt und glasklar. Auf seinem Grund liegt eine aufgedunsene, hässliche Wasserleiche. Es war Freiherr. Eine Forelle schwimmt ihm um den Kopft, sogar zwei. Endlich hat er seine Forellen gefunden! Und weder Gott, noch die Gesellschaft, noch er selbst können ihn aus seiner Freiheit zurückholen. Was für ein schönes Ende!