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Wen die Muse küsst

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18.05.2012
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Wen die Muse küsst

Es ist unglaublich schwer, geradezu frustrierend von Zeit zu Zeit. Die Gedanken sind zäh wie Kleister, lassen sich weder gliedern noch bündeln. Sie sind einfach eine schier undurchdringliche Masse, die das Gehirn verklebt und jegliche Verknüpfung von Synapsen unterbindet. Ich sitze in meinem Sessel und fluche innerlich über diese Barriere, die meinen Geist vor mir selbst verbergen zu wollen scheint. Die Frage nach dem „Warum“ bohrt mindestens ebenso stark in meinen Eingeweiden, wie die Frage nach der Lösung dieses Problems. Doch selbst die erfahrensten Kollegen wissen keine hilfreiche Antwort darauf. Das Papier liegt genauso blank vor mir auf dem Tisch, wie bereits vor zwei Stunden. Kein sinnvoller Satz wollte mir gelingen. Nichts, aber auch nichts fand seinen Weg bisher durch meine Finger auf die jungfräulichen Seiten.

Haben Sie es je probiert? Ihre Gedanken niederzuschreiben, sie in sinngebender Konstellation zu vereinen? Falls ja, dann fühlen Sie sicher mit mir. Eine solche Blockade kann einen wahnsinnig machen, verdammt schnell sogar, wenn man sie nur lässt. Auch wäre alles ja nur halb so schlimm, würden mir nicht die Geier der Kommerzialisierung im Nacken sitzen. Oh doch, genau das tun sie! Offiziell habe ich natürlich alle Freiheiten, um meiner Kreativität grenzenlose Entfaltung zu gönnen. Nachdem mein letztes Buch zum absoluten Bestseller avancierte, kann ich mich vor Schmeichlern und Speichelleckern kaum noch retten. Glücklicherweise habe ich es unter einem Synonym veröffentlicht und bisher kennt kaum jemand außerhalb des Verlags mein Gesicht. Doch die täglichen Anrufe meiner Agentin und des Verlagschefs lassen mich deutlich spüren, welchen Zwang dieses Geschäft tatsächlich birgt. Sobald Sie auch nur einen Cent als Schriftsteller verdient haben, können Sie sich von einem entspannten und kreativen Arbeiten verabschieden. Jetzt zählen Resultate, die Massenproduktion wurde eingeleitet und Sie sind das treibende Rad in der Mechanik der Gewinnmaximierung.

Verärgert und angewidert von meinem eigenen Status als ach so beliebter Märchenonkel, knülle ich gleich drei Seiten auf einmal zusammen und werfe sie lustlos hinter den Fernsehapparat meines Hotelzimmers. Mittlerweile türmt sich dort schon ein ansehnlicher Haufen an erfolglosen Versuchen, die Gier der Massen ein weiteres Mal zu befriedigen. Fahrig sucht meine Hand zwischen aufgeschlagenen Büchern, Zeitschriften und leeren Pizzakartons auf dem Tisch nach der Zigarettenschachtel. Während ich den ganzen Kram durchwühle, fällt ein kleines Taschenbuch vom Tisch und knallt aufs Parkett. Gereizt beuge ich mich vor und hebe es auf. „Kreatives Schreiben für Fortgeschrittene“, lese ich mir den Titel halblaut selbst vor. Ich kann mir ein abfälliges Schnauben nicht verkneifen. Dieses zweihundertseitige Pamphlet ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. In meiner Ausweglosigkeit beschließe ich jedoch, später noch einmal einen Blick hinein zu werfen. Vielleicht verbirgt sich der zündende Einfall ja tatsächlich in diesem Machwerk eines gescheiterten Selbshilfelehrers.

Als ich endlich die gesuchte Pappschachtel ertaste, stelle ich genervt fest, dass sie leer ist. Das Gesicht in den Händen vergraben gehe ich meine Optionen durch: Soll ich mich weiter quälen, bis mir der Kopf raucht, oder den Stift erst einmal liegen lassen und meine Lungen mit blauem Dunst füllen? Die Entscheidung fällt nicht schwer. Ich raffe mich auf und schlurfe ins Badezimmer. Der Spiegel bietet ein bemitleidenswertes Bild. Es ist sechs Uhr abends und ich bin noch immer in meinen Morgenmantel gewickelt, unrasiert und mit zerzausten Haaren. Einen Moment lang starre ich den Kerl gegenüber an. Ich bin alt geworden. Ich schneide eine Grimasse, blecke die Zähne und stecke mir die Zunge heraus, doch das faltige, von Bartstoppeln übersäte Gesicht verändert sich nicht. Widerwillig werfe ich mir halbwegs gesellschaftsfähige Kleidung über, kämme mir notdürftig mit gespreizten Fingern durchs Haar und entscheide mich dann doch für mein Basecap. Den Ratgeber für Schreiberlinge lasse ich in der Innentasche meiner alten Lederjacke verschwinden.

Den Kragen hoch ins Gesicht geschlagen, stürze ich mich ins Getümmel der verregneten Stadt. Früher habe ich selbst hier gelebt, doch das Geld für mein Erstlingswerk reichte aus, um mir ein Haus auf dem Land zu kaufen. Fernab von all dem Trubel und dem Stress. Dennoch komme ich ab und zu gern hierher zurück, um mich inspirieren zu lassen, wie man so schön sagt. Trotzdem es seit Tagen wie aus Eimern goss, war der stete Strom an Menschen in keiner Weise verebbt. Die Straßen sind genauso belebt wie immer. Mir kommt es sogar vor, als wäre die Masse an hektischen Passanten noch dichter und undurchdringlicher geworden. Das liegt vermutlich daran, dass sie sich alle wie in einem Ameisenhaufen durch die engen Gänge pressen, die sich, vor dem Wasser geschützt, unter schmalen Vordächern und Markisen gebildet haben. Nach zwei Blocks entschlüpfe ich der pulsierenden Menge und betrete den Coffeeshop an der Ecke.
Innerhalb einer Sekunde durchbreche ich die unsichtbare Mauer zwischen zwei Welten. Raus aus dem nasskalten Aprilwetter, hinein in die wohlige, trockene Wärme des Cafés. Der Duft fremdartiger Aromen aus mystischen Ländern rund um den Äquator steigt mir in warmen Schwaden entgegen. Der Laden ist zum Bersten gefüllt mit allen Sorten von Menschen: gestresste Geschäftsleute in schlecht sitzenden Anzügen, einige meiner weniger erfolgreichen Kollegen mit ihren aufgeklappten Notebooks, jederzeit bereit vom Blitz der Eingebung erschlagen zu werden. Aber auch ein paar zerlumpte, gefallene Gestalten, die sich nur kurz die halb erfrorenen Knochen erwärmen wollen.

Ich reihe mich in die Schlange vor der Theke ein. Während ich mich dem stupiden Muster des Stop-and-gos meiner Leidensgenossen angleiche, lasse ich gedankenverloren den Blick schweifen. Erstaunlich, wie viele Stereotypen die Aussicht bietet. Die oft parodierte, klischeehafte Kundschaft aus Yuppies und Lifestylesüchtigen ist offensichtlich kein reines Vorurteil. Die Frage, wie ich mich in dieses abstruse Bild einfüge, drängt sich unmittelbar auf. Doch wie gesagt: alles schon zu oft ausgequetscht, kommt als Quelle also nicht in Betracht. Als ich endlich an der Reihe bin, schnappe ich mir einen Becher pechschwarzen Kaffee und Bahne mir meinen Weg Richtung Ausgang.
An einem Zeitungsstand kaufe ich schnell zwei Schachteln Zigaretten und entscheide mich, nach einem Blick in die neuesten Literaturkritiken, den Abend in einer Bar fortzuführen. Doch wohin? Teague‘s scheint die beste Wahl zu sein. Ein ziemlich heruntergekommener Schuppen im Keller eines alten Apartmenthauses, doch die Drinks sind billig und man hat seine Ruhe. Außerdem ist es gleich auf der anderen Straßenseite und der Regen wird stärker. So schnell es geht stürze ich den heißen Kaffee runter und steige die glitschigen Stufen zur Kneipe hinab.

Drinnen ist es stickig und wie erwartet ziemlich leer. Leise dudelt etwas Country Musik aus der jahrzehntealten Anlage. Merle Haggard, wenn ich mich nicht täusche? Der Barkeeper sitzt ketterauchend hinter dem Tresen und glotzt gelangweilt auf das Footballspiel im Fernsehen. Ein kurzer Blick verrät mir warum: dritte Liga, wirklich nichts atemberaubendes. An einem kleinen Tisch sitzen ein schmieriger Kerl und ein junges Ding, vermutlich seine Freundin, zumindest hält sie seine rechte Hand fest umklammert und himmelt ihn an. Ich schätze sein Alter auf Ende Vierzig, vielleicht sogar etwas älter, Sie ist vermutlich in den frühen Zwanzigern. Angewidert drehe ich mich weg. Im Vorbeigehen bestelle ich ein Glas Whiskey und setzte mich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Raumes. Von hier aus habe ich die Tür und den Großteil des Ladens im Blick.

Mein Kopf will noch immer nicht so recht zu mir sprechen. Ich ziehe das abgegriffene Taschenbuch aus meiner Jacke. „Kreatives Schreiben für FORTGESCHRITTENE“, lese ich noch einmal. Bin ich diesem Stadium vielleicht schon entwachsen? Im Nachhinein kommen mir viele meiner schriftstellerischen Ergüsse eher amateurhaft vor. Ich blättere gleich vor bis Kapitel Drei: „Wie finde ich Inspiration?“ Verdammt gute Frage! Nach eineinhalbseitigem Geschwafel, das wohl einer Einleitung gleichkommen soll, kommt er endlich zum Punkt: „Lassen Sie sich von Ihrer Umwelt inspirieren. Die besten Ideen finden sich oft in unserer alltäglichen Umgebung, die Kunst besteht darin, das Besondere aus der Routine zu picken.“ Widerwillig muss ich dem Autor in diesem Punkt zustimmen. Die Fiktion ist nur ein Negativ der Realität. Und weiter: „Sobald Sie eine Idee entwickelt haben, beginnen Sie zu schreiben! Sprechen Sie vorher mit niemandem darüber! Erst zu Papier gebracht (oder zeitgemäßer: digital gespeichert) haben Sie sich rechtlich Ihren Gedanken gesichert.“ Auch hier muss ich ihm Recht geben. Das Wichtigste im Umgang mit einer guten Geschichte ist am Ende, dass man gut darauf Acht gibt und niemand sie stiehlt. Ist in der Tat schon öfter vorgekommen, als man meinen möchte.

Plötzlich wird es an dem anderen Tisch laut. Das Mädchen schleudert dem Typen ein paar unwirsche Beleidigungen an den Kopf. Danach fängt er sich eine schallende Ohrfeige, bevor sie wutentbrannt zur Tür stürmt. Worum es ging habe ich nicht mitbekommen. Scheint wohl nicht sein Tag zu sein. Einen Moment lang sitzt der Kerl nur da und starrt auf sein Glas. Ich versuche sein Gesicht zu lesen, seine Gedanken zu erraten. Was wirst du nun tun? Bleibst du und bestellst noch einen Drink, um den bitteren Geschmack der Niederlage wegzuspülen? Oder wirst du ihr hinterher laufen, versuchen, sie zu besänftigen? Kaum merklich verändern sich seine Züge, begonnen von absoluter Teilnahmslosigkeit, bis sie schließlich zu einer wütenden Fratze entgleisen. Er springt auf und stürmt aus der Bar. Die aufgebrachten Proteste des Wirts verhallen ungehört.

Ich hadere mit mir. Die Neugier brennt unerträglich in meinen Eingeweiden. Doch was geht mich der Streit dieser beiden an? Vermutlich werden sie sich draußen auf Straße wieder finden, er wird sie um Verzeihung anflehen, ihr ewige Liebe und Treue schwören, sie werden sich in die Arme fallen und alles ist wieder so zauberhaft wie vor zehn Minuten. Doch da war dieser Zorn in seinem Gesicht…

Nach wenigen Sekunden fällt meine Entscheidung. Ich leere mein Glas in einem Zug und krame hektisch einige zerknitterte Geldscheine aus meiner Hosentasche hervor. Ich knalle das Geld auf den Tresen und verlasse das Lokal. Ich hetzte die wenigen Stufen zum Bürgersteig hinauf und sehe mich um. Der Regen hat nachgelassen und die Sonne ist bereits hinter den hohen Häuserfassaden verschwunden. Keiner der Beiden ist zu sehen. Konzentriert suche ich noch einmal die noch immer belebte Straße ab. Enttäuschung macht sich breit. Vielleicht hat sie ein Taxi genommen? Verdammt, hätte ich nur nicht so lang überlegt.

Gerade als ich mich entschließe, meine halbherzige Verfolgung abzubrechen, dringt ein blechernes Scheppern an mein Ohr. Hörte sich an, als käme es aus der Gasse gleich neben dem Gebäude. Nicht mehr als ein breiter Spalt, zwischen den gewaltigen Mauern der zwei Apartmentblocks. Scheint wohl in den Hinterhof der Bar zu führen. Ich zögere. Jeder Idiot weiß, dass es eine ziemlich schlechte Idee ist, zu dieser Uhrzeit und in diesem Teil unserer Stadt allein und unbewaffnet in eine dunkle Seitengasse zu spazieren, doch meine Neugier ist wieder geweckt. Ich lasse alle Vorsicht fahren und mache ein paar Schritte in die Kluft hinein. Der Weg verläuft zuerst gerade und knickt dann in einem neunzig Grad Winkel nach rechts ab. Ein schwacher Lichtschein dringt hinter der Ecke hervor. Einige umgestürzte Mülltonnen liegen im Weg. Erleichtert atme ich auf. Waren sicher nur ein paar umherstreunende Katzen. Plötzlich nehme ich am Ende des schmalen Ganges eine Bewegung wahr. Im trüben Licht der Dämmerung fällt es schwer, etwas Genaues zu erkennen, doch ich glaube, die Silhouetten zweier Personen ausmachen zu können.

Ich beschließe, mich ihnen vorsichtig zu nähern. Nach wenigen Metern nehme ich Deckung im Schutze eines großen Containers. Ich sehe, wie einer der Schemen wild gestikuliert, der andere, etwas zierlichere Schatten, steht nahezu regungslos an die Wand gelehnt. Den Atem anhaltend, lausche ich gespannt. Ich höre angestrengtes Flüstern und Zischen, ohne Frage führen die beiden Gestalten eine hitzige Diskussion. Von der Straße her dringen noch immer die Geräusche der vorbeifahrenden Autos und hindern mich daran, ihre genauen Worte zu verstehen. Aus dem gedämpften Gespräch kann ich jedoch zumindest heraushören, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelt. Es müssen einfach die beiden aus der Bar sein. Ich beiße mir in die Faust, um einen Ausruf des Triumphs zu unterdrücken. Einige Minuten verharre ich in meinem Versteck und beobachte ihr Streitgespräch. Anscheinend lässt sich das Mädchen erweichen, denn sie ergreift seine Hand.
Doch was ist das? Die Stimmung scheint zu kippen, er stößt sie von sich, zieht etwas aus seiner Jacke hervor und streckt es ihr entgegen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils spüre ich, wie mein Körper Unmengen an Adrenalin ausschüttet. Mein Schädel scheint zu bersten, jeder Herzschlag dröhnt wie eine Explosion in meinen Ohren. Das junge Ding hebt abwehrend die Hände und weicht zurück. Mit langsamen Schritten drängt er sie immer weiter zurück, bis beide schließlich hinter der Biegung verschwinden. Die Gedanken rasen in meinem Kopf. Hat er eine Waffe? Warum sollte sie sonst zurückgewichen sein? Er wird sie umbringen! Ich muss die Cops rufen! Aber was wenn er doch unbewaffnet ist. Verdammt, was soll ich tun? Mir steht der Angstschweiß in großen Tropfen auf der Stirn. Ich brauche Gewissheit! Leise taste ich mich vor, soweit, dass ich vorsichtig um die Backsteinwand blicken kann.

Was sich dort im Schein der schwachen Straßenlaterne abspielt, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Schwer atmend steht der Kerl aus der Bar mit ausgestrecktem Arm vor dem Mädchen. Jetzt fällt mir auf, wie groß und muskulös dieser Typ tatsächlich ist. In der Hand hält er eine alte .45er. Ihr steht die nackte Angst ins Gesicht geschrieben. Mit weit aufgerissenen Augen und erhobenen Händen steht sie zitternd vor ihm. Tränen rinnen über ihr Gesicht und verschmieren den schwarzen Lidstrich. Wimmernd fleht sie ihn an die Waffe runterzunehmen und sie gehen zu lassen. Er bleibt stumm, zeigt keine Reaktion. Im ersten Moment bin ich wie gelähmt, unfähig dieses Schreckensszenario zu verarbeiten. Dann durchfährt es mich wie ein Schlag: Ich muss etwas tun! Ich bin der Einzige, der ihr jetzt noch helfen kann! Nur wie? Die Polizei zu verständigen würde viel zu lang dauern, bis dahin wäre sie sicher längst tot und der Kerl über alle Berge. Aber es allein mit einem bewaffneten Irren aufnehmen? Doch wem mache ich etwas vor, auch unbewaffnet würde mich dieser Muskelberg wohl mit nur einem Faustschlag in die ewigen Jagdgründe befördern.

Panisch suche ich die Umgebung ab. Ich muss ihn irgendwie entwaffnen oder kampfunfähig machen. Mein Blick fällt auf einige lose Ziegel nahe der gegenüberliegenden Wand. Wenn ich ihm einen von denen auf die Schulter schlage, müsste er zumindest erst einmal zu Boden gehen und ich hätte genug Zeit, ihn um die Kanone zu erleichtern. Kein sonderlich von Zuversicht strotzender Plan, aber die einzige Chance das Blatt zu wenden. Ich husche so leise es geht rüber zur anderen Mauer und schnappe mir einen der roten Brocken. Überrascht stelle ich fest, dass das Ding schwerer ist, als es aussieht. Es könnte also tatsächlich funktionieren. Doch um ihn gezielt damit zu treffen muss ich näher ran und raus aus meinem Schattenversteck. Das Mädchen wird mich zweifelsohne sehen, hoffentlich macht sie keine Dummheiten.

Ich atme noch einmal tief durch und nehme all meinen Mut zusammen. Ich staune ein wenig über mich selbst, eigentlich ist es ein Wunder, dass ich mir noch nicht vor Angst in die Hose gepisst habe. Dann läuft alles wie von allein, als würde eine Unsichtbare Macht meinen Körper lenken. Ich mache einen großen Schritt vorwärts. Im Moment, als ich in den Schein der Lampe trete, springen die Augen der Kleinen in meine Richtung. Ich hebe den Zeigefinger meiner freien Hand an die Lippen und bedeute ihr ruhig zu sein. Sie gibt keinen Ton von sich, Gott sei Dank! Ich hole aus, hebe den Stein hoch über den Kopf, soweit es nur geht und lasse ihn mit meiner ganzen Kraft auf seine Schulter herunterfahren. Ich treffe direkt den Trapezmuskel, der hat gesessen! Wie in Zeitlupe sehe ich den Kraftprotz in die Knie gehen. Die Waffe fällt ihm aus der Hand und landet auf dem schmutzigen Asphalt. Geistesgegenwärtig nehme ich den Revolver auf und richte ihn auf den Kerl, der sich jetzt mit schmerzverzerrtem Gesicht den Nacken hält. Eigentlich sollte sich die Lage entspannen, Erleichterung sollte sich in mir breit machen, doch irgendetwas stimmt nicht.

Ich sehe das Mädchen an. Ihr Mund steht offen, wie vor Erstaunen, doch sie gibt keinen Laut von sich. Leicht nach vorn gekrümmt, hält sie beide Hände an ihren Bauch gepresst. Im nächsten Moment schießt scharlachrotes Blut in kleinen Fontänen zwischen ihren Fingern hindurch. Für eine Sekunde setzt mein Herzschlag aus. Als ich den Riesen mit dem Stein traf, muss sich aus der Waffe ein Schuss gelöst und sie in den Unterleib getroffen haben. Im Adrenalinrausch habe ich den Knall wohl nicht gehört. Sie blickt auf ihre blutverschmierten Hände, dann sieht sie mich verständnislos an und sackt zusammen. Ich stürze zu ihr, um sie aufzufangen. Ich halte sie ihm Arm und rede verzweifelt auf sie ein, versuche sie bei Bewusstsein zu halten, doch ihre Augen starren nur noch ins Leere. Der schmierige Kerl kauert noch immer am Boden und regt sich nicht. Vorsichtig lege ich meinen Finger an ihren Hals, um den Puls zu fühlen. Nichts. Der Druck, mit welchem das Blut aus der Wunde trat, hat fast vollkommen nachgelassen. Das Herz arbeitet nicht mehr. Tränen der Verzweiflung schießen mir in die Augen.

Während ich noch immer am Boden sitze und ihren leblosen Körper halte, höre ich ein leises, hämisches Lachen. Es wird langsam lauter, bis es fast hysterisch klingt. Wütend sehe ich auf und meine Augen treffen den Blick ihres Peinigers. „Was gibt es denn zu lachen, du mieses Schwein?“, brülle ich ihn an. Er antwortet nicht, sondern zeigt mir nur sein widerliches, feistes Grinsen. „Hör sofort auf damit, verdammter Mistkerl! Sie ist tot und es ist deine schuld!“, schreie ich ihm entgegen. „Das siehst du ganz falsch.“, sagt er plötzlich. „Deine Fingerabdrücke sind am Revolver und an dem Stein, mit dem du mich angegriffen hast. Was glaubst du, wie das für die Polizei aussehen wird? Du wolltest uns überfallen. Erst ziehst du mir den Stein drüber und dann erschießt du meine Verlobte mit meiner eigenen Waffe. Ganz klare Geschichte.“ Wieder verzieht er den Mund zu diesem ekelhaften Grinsen. „So ein Blödsinn!“, entgegne ich. „Wer soll dir diesen Schwachsinn denn abkaufen? Außerdem steht dann Aussage gegen Aussage.“ „Vielleicht, doch die Indizien sprechen leider eindeutig gegen dich, Kumpel.“, lacht er.

Das konnte nicht sein, so machte es doch überhaupt keinen Sinn. Oder etwa doch? Was wenn die Cops ihm glaubten? Und wie sollte ich erklären, aus welchem Grund ich den beiden überhaupt hierher gefolgt war? Die Antwort „aus schriftstellerischer Neugier“, würde vor Gericht wohl kaum jemanden überzeugen. Dennoch, in einem fairen Prozess konnte unmöglich der wahre Verbrecher als Sieger hervorgehen. Und wenn überhaupt, dann war es ein Unfall. Seine rauchige Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. „Nun, danke nochmal, du hast meinen Hals aus der Schlinge gezogen“, sagt der Dreckskerl. „Ich werde dann gleich mal die Behörden informieren, damit auch alles seinen Gang geht.“ Mit einem Zwinkern in seinem schmierigen Gesicht beginnt er in seiner Hosentasche nach seinem Mobiltelefon zu suchen. Blanke Wut vermischt sich in mir mit kalter Verzweiflung. Ich sehe keinen Ausweg. Wenn ich einfach versuche zu fliehen, werden sie mich anhand der Fingerabdrücke und seiner Beschreibung trotzdem finden. Das würde also auch nichts mehr bringen. Gerade bemerke ich, dass ich noch immer die Kanone in der Hand halte. Auch das noch, die Polizei wird am Ort des Geschehens ankommen und der potenzielle Täter hält auch noch die Tatwaffe in der Hand. Wie wunderbar. Wie unglaublich idiotisch von mir. Ich will sie gerade fort werfen, da kommt mir ein anderer Gedanke. Niemand hat uns gesehen, niemand weiß, dass wir hier sind. Offensichtlich hat auch niemand den ersten Schuss gehört, sonst wäre doch längst die Polizei verständigt worden. Ohne einen Zeugen, wird nie auch nur ein Fünkchen Verdacht auf mich fallen. Niemand wird mich hiermit in Verbindung bringen. Ich werde der Einzige sein, der weiß, was sich hier tatsächlich zugetragen hat. Das ist nicht nur die Lösung meiner Probleme, nein. Das hier wird ein neuer Bestseller.

Er hat die Nummer des Notrufs noch nicht gewählt, da richte ich den Revolver auf seinen Kopf. „Was soll der Mist?“, fragt er verunsichert. Mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht, rufe ich: „Weißt du, was das wichtigste im Umgang mit einer guten Geschichte ist?“ „Was faselst du da, du Spinner?“ „Ich sage es dir: Man muss höllisch aufpassen, dass sie einem niemand stiehlt!“ Noch bevor er reagieren kann, drücke ich ab. Die Kugel trifft ihn direkt in die Stirn. Der Aufprall reißt ihn von den Füßen. Er schlägt hart auf den Boden auf und bleibt regungslos liegen. Ich stecke die Waffe ein und mache mich auf den Weg zurück ins Hotel.

Zwei Tage später sitze ich in meinem Arbeitszimmer und bin in die aktuelle Tageszeitung vertieft. UNGEKLÄRTER DOPPELMORD IN HINTERHOF, heißt die Schlagzeile. Ich überfliege den Artikel grob, bis ich am letzten Satz hängen bleibe: Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen, doch bisher haben sich keine Zeugen gemeldet. Vom Täter und der Tatwaffe fehlt bislang jede Spur. Zufrieden blicke ich aus dem Fenster auf den See hinter meinem Haus und während der Revolver langsam auf dem Grund verrostet, nimmt auf dem Papier in meiner Schreibmaschine eine atemberaubende Geschichte langsam Gestalt an.

 

Hallo,
Da du auf die letzten Beiträge deiner anderen Geschichten nicht reagiert hast, halte ich mich mit meiner Kritik kurz. Ist natürlich dir überlassen, wie sehr du dich hier einbringen möchtest, aber bedenke, dass in forum auf geben und nehmen basiert.
Aber zur kg:
Ich kam flüssig durch den text und überwiegend fand ich es auch spannend. Das Thema ist natürlich ein Klassiker, Aber in dieser Aufbereitung hat es mir sehr gefallen.
Insgesamt könnte der Text eine Straffung Verträgen. Du gehst mit vielen Dingen doh sehr ins Detail. Was du dir unbedingt ansehen solltest sind Füllsel a la adjektivites, die kommen anfangs noch in Vertragbarem Rahmen, häufen Sich aber ca ab Hälfte des Textes zu arg. Da preschst du dann auch mit verbrauchten Redewendungen vor, die deiner schreibe unwürdig sind. Handwerklich sackt der Text also ab, auch wenn die spannungskurve steigt.
Die Idee in der Gasse ist gut, das Gespräch ist lächerlich, viel zu abgeklärt und nur für den Leser bestimmt. Lass das doh allein im Kopf des Prost entstehen, das käme realistischer.
Noch auf die schnelle: Zeitenwechsel bei der WR! Lesefluss! Und teilweise zu amerikanisch, was bei coffeeshop bspw zu falschen Verstrickungen führt ;)

So viel von mir
Grüßlichst
Weltenläufer

 

Hallo Weltenläufer,

viele Dank für deine Einschätzung. Ich möchte mich durchaus in diesem Forum engagieren, meinen einen Text (Nachbarn) habe ich auch entsprechend der Verbesserungsvorschläge bereits umgeschrieben. Ich werde selbstverständlich auch noch auf die Kritiken eingehen/antworten, doch bisher fehlte mir schlicht die Zeit. Bitte also die fehlende (sofortige) Rückmeldung nicht als Arroganz verstehen! Da ich auch bereits Kritiken zu Geschichten anderer Mitglieder verfasst habe, denke ich doch, dass ich in den 2 Tagen seit meiner Registrierung rege am Geschehen Teil genommen habe (soweit es meine Zeit zuließ). ;)

Dass der Text eine Straffung vertragen kann, ist durchaus richtig und eine Gedanke, welcher mir auch schon im Kopf herumschwirrte. Einige Dinge des Tagesablaufs des Prots bedürfen wahrhaft keiner solch detailierter Beschreibung. Ich werde da also doch mal den Rotstift ansetzen.

Was das Gespräch am Ende betrifft: sehr interessante Idee! Ich werde hier mal einen Versuch in diese Richtung unternehmen, da ich Dialoge in Kurzgeschichten selbst auch oft als unnötig oder sogar störend empfinde.

Vielen Dank schonmal und viele Grüße!
Johnny

 

Alles klar Johnny :)
Sah nur seltsam aus gleich drei Geschichten von dir und dein Text im Profil, da habe ich vll zu voreilig meine Schlüsse gezogen. In dieser Hinsicht irre ich mich gern :)

da ich Dialoge in Kurzgeschichten selbst auch oft als unnötig oder sogar störend empfinde.
das kann ich nicht unterschreiben, aber es ist auf jeden Fall erstaunlich, wie schwer es ist, authentische Dialoge zu schreiben. Ich denke zumindest hier wäre es sinnvoll darauf zu verzichten.

Noch viel Freude auf kg.de :)
grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Johnny!

Nach etwas zähem Beginn entwickelt sich eine spannende Geschichte.
Auch sonst kann ich mich weltenläufers Beitrag anschließen.

Bei der wörtlichen Rede ist mir noch aufgefallen:
Bei Sprecherwechsel würde ich eine neue Zeile beginnen,
und die Zeichensetzung überprüfen.
„Vielleicht, doch die Indizien sprechen leider eindeutig gegen dich, Kumpel.“, lacht er.
„Vielleicht, doch die Indizien sprechen leider eindeutig gegen dich, Kumpel(kein Punkt)“, lacht er (besser: sagte er lachend).

Er hat die Nummer des Notrufs noch nicht gewählt, da richte ich den Revolver auf seinen Kopf. „Was soll der Mist?“, fragt er verunsichert. Mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht, rufe ich: „Weißt du, was das wichtigste im Umgang mit einer guten Geschichte ist?“ „Was faselst du da, du Spinner?“ „Ich sage es dir: Man muss höllisch aufpassen, dass sie einem niemand stiehlt!“
Er hat die Nummer des Notrufs noch nicht gewählt, da richte ich den Revolver auf seinen Kopf.
„Was soll der Mist?“, fragt er verunsichert.
Mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht, rufe ich: „Weißt du, was das wichtigste im Umgang mit einer guten Geschichte ist?“
„Was faselst du da, du Spinner?“
„Ich sage es dir: Man muss höllisch aufpassen, dass sie einem niemand stiehlt!“

Nix dramatisches, aber vielleicht interessant:

Der Aufprall reißt ihn von den Füßen.
Nehme ich eine Aufschlagenergie von 600 J an, dann wird eine Masse von ca. 61 Kg um einen Meter bewegt.
Soviel zur Theorie.
In der Praxis sieht das anders aus. Beide Körper, Kugel und Mensch, sind nicht absolut fest.
Dadurch geht viel Aufschlagenergie in Wärme, Bremswirkung und Verformung über. Man kann sagen, hier (in der Praxis) kommt weniger die Aufschlagkraft zum Tragen, mehr die Durchschlagkraft.
Der menschliche Körper zuckt vielleicht ein wenig, oder hier: Der Kopf ruckt nach hinten, der Körper sackt zusammen, aber das war es dann auch schon.

Gruß

Asterix

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Asterix,

wiedereinmal entschuldige ich mich für die späte Antwort. Vielen Dank für deinen Hinweis bezüglich der Zeichensetzung in der wörtlichen Rede. Irgendwie gehen mir die deutschen Regeln der Zeichensetzung ab und an verloren, da ich fast ausschließlich im Englischen arbeite. Da es dort allerdings auch nicht so funktioniert, wie ich es hier im Text verwendet habe, war ich wohl einfach schusselig ;)

Dein Tipp, beim Sprecherwechsel eine neue Zeile zu beginnen, gefällt mir sehr. Ich habe jetzt in den Büchern, welche ich gerade lese, auch mal intensiv darauf geachtet und festgestellt, dass es tatsächlich fast immer so gemacht wird. Aber der Dialog ist sowieso noch überarbeitungsbedürftig (wie auch Weltenläufer schon festgestellt hat) ;)

Was die physikalische Möglichkeit des gewaltsamen Endes des Antagonisten angeht: da habe ich mich wohl etwas zu sehr von Hollywood inspirieren lassen :D Ich finde aber, dass (zumindest) ein wenig Action und Bombast zu einem spannenden Krimi dazugehören, von daher würde ich das sogar so stehen lassen (auch wenn es freilich in der Realität ganz anders aussehen würde).

Sobald ich mit der Überarbeitung der Geschichte durch bin, werde ich die neue Fassung hier veröffentlichen.

Vielen Dank nochmal und viele Grüße!
Johnny

 

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