Weltuntergangs-Verkauf (neue Version)
»Noch 15 Minuten bis zur automatischen Verriegelung!«, tönte die Stimme aus den Lautsprechern, die versteckt im gesamten Supermarkt angebracht waren. Mir fehlten noch diverse Konserven und vor allem Wasser, wenn ich die kommenden Feiertage überleben wollte. Und eigentlich auch eine Waffe, um überhaupt erst einmal diesen Einkauf zu überleben.
Ein paar Regale weiter fiel ein Schuss. Reflexartig duckte ich mich, und dachte daran, stehenden Fußes den Rückweg anzutreten.
Aber mein Kühlschrank und die Vorratskammer zu Hause waren vollkommen leer, seit ich zu meiner zwei Wochen dauernden Geschäftsreise aufgebrochen war. Ich hätte mir einfach einen Internet-Lebensmittel-Anbieter suchen können, aber ich dachte mir, dass das auch bis zu meiner Rückkehr warten könnte. Zu dem Zeitpunkt war mir allerdings entfallen, dass dann die Feiertage anlässlich der Europäisch-Amerikanischen Neuorganisation beginnen würden, die nach dem Zerfall der EU - ausgelöst durch den Bankrott von Griechenland, Spanien, Portugal, Italien, Deutschland und nicht zuletzt der USA - beschlossen wurde.
Mit Hilfe der amerikanischen Streitkräfte konnten all jene in Schach gehalten werden, die gegen die vereinbarte 'Kapitalistische Reform' waren. Findige Marketing-Strategen hatten indes heraus gefunden, dass der Tag vor egal welchem Feiertag, immer zu den beliebten Hamsterkäufen führt. Mit der neu gewonnenen politischen Macht wurde das Konzept ausgebaut und durchgesetzt, dass alle Internet-Versender fünf Tage vor Beginn der Feiertage nicht mehr versenden dürfen, um die Not bei den Konsumenten zu schüren.
Was genau der Grund war, warum ich jetzt hier im Supermarkt der ALG hinter meinem Einkaufswagen kauerte, statt zu Hause auf dem Sofa zu sitzen. ALG war die Abkürzung für Aldi-Lidl-Group, der alle Supermarkt-ketten angehörten, die nicht zur Metro-Schlecker-Group gehörten. Bescheuerte Namensgebung, dachte ich noch, aber der Satz aus den Lautsprechern erinnerte mich daran, dass ich vor dem Supermarkt wohl zu Recht gezögert hatte. Die KI im ALG-Rechenzentrum hatte, anhand der statistischen Daten der Supermarkt-Videoüberwachung, beschlossen die Abriegelung der Räumlichkeiten zu starten – wieder so ein Trick der Marketing-Strategen, um die Hamsterkäufe anzukurbeln. Dabei war mein Einkaufswagen noch leer, und viel Zeit um ihn zu füllen blieb mir nicht mehr. Vielleicht noch 14 Minuten - danach wäre aus dem Supermarkt kein Rauskommen mehr, und eine Trupp automatischer Drohnen würde all jene finden und weg sperren, die nicht rechtzeitig raus gekommen sind.
Sich verschiebende Regale und geöffnete Klappen in den Wänden wiesen darauf hin, dass die Drohnen bereits startklar gemacht wurden. Und mich durchfuhr zumindest eine geringfügige Erleichterung bei dem Gedanken, dass es sich um die entschärfte Variante handelte.
In einer sehr frühen Fassung dieses Konzepts wurden einfach Killerdrohnen benutzt, und die Leute eliminiert. Da das architektonische Design der Supermärkte damals allerdings noch auf alten Standards beruht hatte, bildete sich trotz der – dank RFID – unbesetzten Kassen, durch die man einfach durch laufen konnte, Staus und 80% der Einkäufer des ersten Testlaufs schafften es nicht rechtzeitig nach draußen. Es war ein finanzielles Desaster auf ganzer Linie.
Viel besser wurde meine Lage dadurch aber nicht. Ich war jedenfalls nicht scharf darauf, während der Gefangenschaft - welche die gesamten Feiertage über dauerte – zu verhungern. Das könnte ich auch zu Hause, auf meinem gemütlichen Sofa! Allerdings müsste ich es erst einmal bis dahin schaffen. Viel wahrscheinlicher war es jedoch, schon vorher Opfer eines anderen Konsumenten zu werden. Denn der Konkurrenzkampf war brutal. Da die Waffenlobby – einer der einstigen Hauptgläubiger – die Waffengesetze extrem gelockert hatte, waren Schießereien und Messerstechereien um die besten Waren und den schnellsten Weg zur Kasse, keine Seltenheit.
Einige Einkäufer hatten ihre Einkaufswagen mit Klingen und Stacheldraht versehen. Und der Typ zwei Meter vor mir hatte seinen sogar zu einem halben Panzer umgebaut. Ich hingegen war völlig unvorbereitet. Aber auch für diesen Fall hatten die cleveren Marketing-Leute von ALG eine Lösung parat: das Regal mit den Waffen war nur zwei Reihen weiter. So konnten sich auch unbewaffnete Konsumenten durchsetzen. Und es kurbelte den Umsatz an, denn es bestand natürlich Kaufzwang für alle benutzten Waffen. Einige Supermärkte waren sogar schon auf die neue Waffen-Flat aufgerüstet. Die Waffen mussten zwar immer noch bezahlt werden, aber um überhaupt welche benutzen zu dürfen, galt es, eine zusätzliche Waffen-pauschale abzudrücken. Dieser Supermarkt gehörte allerdings noch nicht dazu. Ich versuchte mich halbwegs unauffällig an der alten Dame mit dem Derringer vorbei zu schleichen, um zum Waffenregal zu gelangen. Andernfalls würde ich es nicht zum Konserven-Regal schaffen, das von einer Horde wild gewordener Hausfrauen mit Küchenmessern und Schwertern belagert wurde. Was das Wasser anging, würde ich vermutlich mehr Glück haben, die meisten Leute waren eher hinter alkoholischen Getränken her, was eindeutig an den Schreien und Schüssen aus der Schnaps-Abteilung fest zu machen war. Dort musste ich glücklicherweise nicht hin. Da Wasser äußerst unbeliebt war, stand es meist irgendwo zwischen vergammeltem Gemüse und alten iPhones, die keiner mehr haben wollte.
»Her mit dem Toastbrot!«, schrie es plötzlich von der Seite. Ein bärtiger Mann, Mitte 30 stürmte mit einem Katana auf die alte Dame zu. Ein Schuss aus ihrem Derringer später, lag er auch schon halb tot am Boden. Ich konnte im Gefecht nicht erkennen, ob es sich um einen Derringer mit einem oder zwei Schuss handelte, aber das Ganze war Ablenkung genug, um unbeschadet ein Messer-Set und ein Seil aus dem Waffenregal zu krallen, und das Weite zu suchen. Wobei Weite vielleicht auch übertrieben ausgedrückt ist. Genau genommen war es fünf Meter weiter, und damit nur zwei Regale vom belagterten Konserven-Vorrat entfernt. Wie ich mit ein paar kleinen Messern und einem Seil daran kommen sollte, war mir allerdings noch schleierhaft. Aber die freundliche Stimme aus den Lautsprechern wies mich darauf hin, dass ich noch genau 10 Minuten hatte, um es heraus zu finden und den Laden zu verlassen. Auf der anderen Seite des Regals waren drei der Hausfrauen damit beschäftigt, die Konserven in zwei Einkaufswagen zu verladen. Doch nicht nur die Hausfrauen hatten sich zu einer Bande zusammen geschlossen. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie ein halbes Dutzend Männer mit Handzeichen und Gesten einen koordinierten Angriff planten. Faul, wie Männer nun mal sind, wollten sie damit offensichtlich warten, bis die Frauen den Wagen voll beladen hatten. Zwei oder drei Dosen würden mir allerdings reichen. Ich knüpfte das Seil zu einem Lasso und wartete auf den Angriff. Das andere Ende des Seils knotete ich am Einkaufswagen fest. Ich war mir zwar nicht sicher, was das bringen sollte, aber irgendwie würde es sich bestimmt als nützlich erweisen. Bevor die Männerbande allerdings zum Angriff blasen konnten, brachen aus der Regalreihe schräg gegenüber, pöbelnd sieben Leute hervor. Mit Armbrust, Schwertern und Baseballschlägern bewaffnet wollten sie allen anderen die Konserven streitig machen. Und während im Kampfgetümmel schon die ersten zu Boden gingen, blieb das halbe Dutzend zu meiner Rechten völlig überrascht stehen. Offenbar wussten sie nicht so recht, ob sie mit machen oder warten sollten, bis die sich da vorne gegenseitig abgeschlachtet hatten. Ich hingegen nutzte die Gelegenheit und preschte mutig nach vorne. Vorbei an der Frau mit dem Zweihänder, warf ich mich auf den Boden und schlitterte auf den glatten Fliesen unter der Vettel hindurch, die mit den Küchenmessern um sich warf. Ich drehte mich schnell auf den Rücken und krallte mir in liegender Position vier Konservendosen, bevor besagte Messerwerferin mich für voll, sowie aufs Korn nahm. Dadurch konnte sie allerdings den Einkaufswagen nicht sehen, den ich hinter mir her zog, und der ihr mit Schwung ins Kreuz donnerte. Trägheitsbedingt flogen die Messer, die ich im Wagen hatte liegen lassen, jedoch weiter geradeaus, und der hässlichen Dame direkt ins Gesäß. Ihr Schreien ging allerdings im Lärm des Kampfes unter. Und die Frau mit dem Zweihänder war zu sehr mit den anderen Angreifern beschäftigt, um ihr zu Hilfe zu kommen. Ich rappelte mich auf, blieb allerdings in geduckter Haltung. Der alten Vettel verpasste ich einen Schubs, bevor sie wieder auf die Idee kam, mit ihren Messern auf mich zu werfen. Sie landete unsanft auf dem Hintern, was für sie recht unvorteilhaft war, weil sich die Messer, die da schon drinne steckten, nun noch tiefer hinein bohrten.
Das war mir in dem Moment allerdings reichlich egal. Ich warf die Konserven in den Einkaufswagen und versuchte auf schnellstem Wege zur Kasse zu kommen. Auf halben Weg, stand mir aber schon wieder die alte Frau mit dem Derringer im Weg, die gerade den Mann ausraubte, den sie vor fünf Minuten erschossen hatte. Als sie mich kommen sah, richtete sie das Ding auf mich. Mit der linken Hand hielt ich mich am nächst besten Regal fest und konnte somit eine scharfe Linkskurve in die Regalreihe mit den Kochutensilien machen, bevor die fiese Oma abdrücken konnte. An der nächsten Regal-Kreuzung schlitterte ich fast vorbei, schaffte es aber gerade noch, rechts abzubiegen. Bis zur Kasse ging es jetzt gerade durch, und bis auf ein paar Mitflüchtlinge stand auch niemand mehr im Weg.
»Noch 30 Sekunden bis zur totalen Verriegelung. Wir gratulieren allen Überlebenden und hoffen sie hatten einen spannenden Einkauf«, tönte es aus den Lautsprechern. Die Tore begannen sich bereits langsam zu schließen. Ich nahm noch einmal kräftig Schwung und klammerte mich an den Einkaufswagen. Mit Ach und Krach schaffte ich es durch den Ausgang – fünf Sekunden später hätte der Einkaufswagen schon nicht mehr durch gepasst. Bei einem Blick über die Schulter konnte ich noch die fiese Oma mit dem Derringer sehen, wie sie panisch Richtung Ausgang humpelte. Sie war allerdings noch 10 Meter entfernt, als die Tore schließlich komplett zu waren.
Geschieht ihr ganz Recht!, dachte ich, während ich mit den erbeuteten Lebensmitteln den Heimweg antrat.
Es lebe die Konsumgesellschaft!