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Weltregierung
Die Weltregierung ist die beste Einrichtung der Menschheit bis jetzt. Seit sämtliche Regierungen aktiv zusammenarbeiten, wurde der allgemeine Lebensstandard der Menschen stark verbessert. Also, in den Entwicklungsländern. Hier, bei uns, mussten wir sogar ein bisschen zurückstecken, aber das ist im Bereich des Erträglichen. Es gibt eben nicht mehr alle Lebensmittel das ganze Jahr lang, sondern je nach Saison. Ich habe damit keine Probleme. Im Gegenteil, ich freue mich schon richtig auf frische Orangen aus Afrika und Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude.
Afrika, ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Nicht ins geographische Afrika, sondern in den afrikanischen Sektor der Weltregierung. Ich finde die Gebäude in Afrika besonders schön. Obwohl modern, erinnert die Bauweise irgendwie an Lehmhütten. Das klingt jetzt vielleicht seltsam, wie soll ein mehrstöckiges Gebäude wie eine Lehmhütte wirken? Aber es ist nun mal so. Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Vielleicht durch die rundliche Form der Eingänge.
Jedenfalls haben alle Kontinente ihren eigenen Baustil, um Kultur und Geschichte ihrer Heimat wiederzuspiegeln. So steht es zumindest auf dem großen Steinmonument mit der eingelassenen Bronzeplatte am Eingang.
Ich habe mein Ziel erreicht. Ohne die Untergrundbahn und das Fahrrad, könnte ich hier Stunden herumlaufen ohne irgendwo anzukommen.
Ich sehe, das neue Büro hat bereits ein Namensschild: "Sebastian Mbeke", steht darauf zu lesen. Es ist ja auch fast fertig. Gestern wurde die Nabelschnur verlegt, die braucht ein Interface und das Telefon fehlt auch noch, aber diese Punkte werde ich jetzt erledigen.
Ich trete ein und bin auf das Schlimmste gefasst. Mein Blick wandert sofort zur Anschlussstelle der Nabelschnur. Soweit sieht alles gut aus, sie ist schön grün. Wie oft wurde schon bei der Verlegung von biologischen Leitern die Schutzhülle verletzt, so dass sie noch während der Integrationsphase abstarben. Das geht ziemlich schnell, wenn sie noch nicht verwachsen sind.
Nun gut. Ich beschließe, zuerst das Telefon zu installieren, als ich erschrecke. Ich bin nicht allein. Da sitzt ein Mann am Schreibtisch.
"Tut... tut mir leid, ich habe sie nicht gesehen... äh.. guten Morgen", stammle ich. Er sagt kein Wort und blickt nicht auf, als hätte er mich nicht bemerkt. Ob das wohl Herr Mbeke ist? Vielleicht versteht er mich ja auch nicht. Ich treffe bei meinen Arbeiten kaum jemals mit Menschen zusammen die meine Sprache sprechen. Er ist zweifellos Afrikaner, schlank und hochgewachsen. Auf mich wirkt er, als hätte man einen Watussi in einen Anzug gesteckt. Ich meine das nicht abwertend, er sieht nur irgendwie verloren aus in diesem Büro.
Mir wird bewusst, dass ich ihn anstarre. Also nehme ich das Telefon aus der Packung, um mich zu beschäftigen. Ich stelle es vor ihn auf den Schreibtisch und gebe den Code ein, damit es sich initialisiert. "Ihr ... äh ... Telefon", stammle ich wieder und er nickt kaum merklich. Da erst bemerke ich, dass Herr Mbeke weint. Tränen laufen seine Wangen hinab und fallen auf die dunkle Mahagoniplatte.
Beschämt ziehe ich mich zurück in die Ecke mit dem Anschluss für die Nabelschnur. Es ist mir peinlich, einen erwachsenen Mann weinen zu sehen. Also, eigentlich ist es mir peinlich, mich bei solch persönlichen Momenten hier aufhalten zu müssen.
Ich überlege, ob ich einfach hinausgehen soll, aber die Arbeit muss erledigt werden, deshalb beschließe ich, mich auf den Anschluss der Nabelschnur zu konzentrieren und Herrn Mbeke nicht zu behelligen.
Nabelschnüre sind spezielle biologische Leitungen, die nur für Großrechner mit viel Kapazität verwendet werden. Nun ja, Großrechner ist vielleicht heutzutage das falsche Wort. Das Einzige was an diesen Rechnern groß ist, sind Preis und Leistung. Jedenfalls muss Herr Mbeke ein wichtiger Mann sein, denn solche Computer und Datenleitungen sind in der Weltregierung normalerweise nur Staatsoberhäuptern und ihren ausführenden Organen
vorbehalten. Das andere Ende der Nabelschnur führt in den Keller, in einen Raum wo das Fundament des Gebäudes durchstoßen wurde, damit sie sich mit dem Erdreich verwachsen kann. Von dort vernetzt sie sich mit allen anderen Nabelschnüren der Welt.
Eigentlich weiß ich gar nicht, wozu man all diese Bandbreite braucht, ich bin zuhause schon damit zufrieden ein flüssiges Bild bei direkter Videoübertragung auf dem Bildschirm zu haben. Aber man murmelt ja, Nabelschnüre sollen noch ganz andere Dinge als Daten übertragen. Nur was noch, kann mir keiner so richtig sagen.
Egal, ich bin ja auch kein Netzwerktechniker. Ich installiere nur das Interface. Es ist nicht ganz einfach. Wenn die Schnittstelle nicht richtig einwächst kann ich nur einmal kürzen, sonst muss ich neu versiegeln und den Bioservice rufen.
Nach dem Durchstechen der Schutzmembran mit der Anschlussseite muss ich fünfzehn Minuten warten und auf braune Flecken achten, die auf Infektionen der Nabelschnur hinweisen. Die plötzliche Stille wird von einem Murmeln unterbrochen. Es kommt von Herrn Mbeke. Redet er etwa mit sich selbst? Ich glaube nicht, dass er etwas von mir will, sonst würde er wohl lauter sprechen. Ich starre jedenfalls auf die Schnittstelle und gebe vor ihn nicht zu beachten. Das Murmeln endet und ich höre, wie Herr Mbeke den Hörer auflegt.
Er hat telefoniert. Ich fühle mich erleichtert obwohl ich nicht weiß warum.
Ich frage mich, warum er weint. Ob es etwas mit seiner Heimat zu tun hat? Afrika hat noch immer massive wirtschaftliche Probleme.
Plötzlich öffnet sich die Tür. Eine Frau kommt herein. Eine Afrikanerin. Sie trägt ein traditionell buntes Wickelkleid und einen afrikanischen Turban.
Sie geht zu Herrn Mbeke hin und spricht mit ihm. War sie es, die er angerufen hat? Eine Kollegin? Ich verstehe kein Wort und wende mich wieder meiner Schnittstelle zu. Die Frau streichelt Herrn Mbeke über den Kopf.
Als ich mich nach einer Weile kurz nach ihnen umdrehe bemerkt sie meinen Blick und beginnt laut auf mich einzureden. Dabei gestikuliert sie mit den Händen. Ich weiß nicht was sie sagt, aber ich habe den Eindruck sie scheint mir die Schuld zu geben, dass Herr Mbeke traurig ist. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also packe ich mein Zeug und gehe. Als ich aus der Tür trete murmle ich noch: "Entschuldigung, Entschuldigung."
Den Rest des Tages fühle ich mich peinlich berührt. Eigentlich weiß ich nicht warum, ich habe nichts falsch gemacht. Abends gehe ich noch einmal zurück. Ich will die Verbindung der Schnittstelle kontrollieren. Es ist niemand mehr da. Die Schnittstelle ist gut verwachsen und der Rechner ist bereits geliefert und in Betrieb genommen. Für mich ist die Arbeit abgeschlossen.
Aber Herr Mebeke geht mir nicht aus dem Sinn, ständig frage ich mich, warum er wohl so traurig war. Jedes Mal, wenn ich die Zeitung aufschlage und einen Artikel über Afrika sehe, lese ich ihn besonders aufmerksam.
Meist sind es negative Neuigkeiten. Seuchen und Hungersnöte raffen viele Menschen dahin und jedes Mal, wenn ich so etwas lese, sehe ich Herrn Mbeke vor mir, wie er weint. Manchmal möchte ich fast hingehen in sein Büro um nach ihm zu sehen. Er tut mir leid, auch wenn ich gar nicht weiß wie es ihm geht.
Es ist seltsam, wie kann ich mit einem Menschen fühlen den ich gar nicht kenne, mit dem ich nie ein Wort gesprochen habe? Und doch zerreißt es mir jedes Mal das Herz wenn ich solche Artikel lese.
Ich beginne, die internationalen Nachrichten zu meiden. Ich versuche Afrika aus meinem Kopf zu verbannen, zu viele schreckliche Dinge passieren dort. Früher hat mir das doch auch nichts ausgemacht?
Ich frage mich, was Herr Mbeke wohl macht, in seinem Büro.
Ein paar Jahre später lese ich endlich diesen Artikel in der Zeitung:
Afrika auf seinem Weg aus der Armut.
Endlich können wir Afrika als vollwertiges Mitglied in der Weltregierung begrüßen. Aus den vergangenen Jahren großer Rückschläge und Katastrophen, ging ein erstarktes Afrika hervor. Die Statistiken weisen Afrika heute als den Kontinent mit dem niedrigsten Durchschnittsalter aus. Auch gibt es dort, statistisch gesehen, die wenigsten Menschen mit schweren Krankheiten oder Behinderungen. Man könnte fast meinen, die afrikanische Bevölkerung besteht nur noch aus gesunden jungen Menschen.
Ein Kontinent, neu geboren und endlich bereit seine wirtschaftliche Verantwortung wahrzunehmen.
Bravo Afrika.
Ich weiß, heute wird Herr Mbeke glücklich sein.
Bereits zwei Tage darauf bin ich wieder auf dem Weg zu Herrn Mbekes Büro. Ich bringe ihm ein neues Telefon, das andere ist wohl kaputtgegangen.
Ein seltsames Gefühl begleitet mich. Eine Mischung aus gespannter Erwartung und Beklommenheit. Ich möchte Herrn Mbeke wiedersehen, der Mann dessen Gesicht mich all die Jahre begleitete. Ich möchte ihn lächeln sehen. Ich wünsche ihm, dass er glücklich ist. Nach dem Artikel in der Zeitung hätte er wohl allen Grund dazu.
Aber ich fühle auch diese damaligen Gefühle zurückehren, die Situation einen weinenden Menschen so zu ignorieren. Ich habe mich schrecklich verhalten. Wird diese Frau wieder da sein? Werden sie sich an mich erinnern?
Vielleicht ist er ja gar nicht mehr in seinem alten Büro?
Ich stehe nun als vor seiner Tür und zögere kurz. Noch immer steht sein Name daran.
Diesmal klopfe ich an. Keine Antwort.
Ich klopfe ein weiteres mal. Stille.
Vorsichtig öffne ich die Tür. Ich blicke mich um. Niemand zu sehen. Fast bin ich enttäuscht.
Das Büro sieht noch genau so aus wie damals. Herr Mbeke scheint fleißig gearbeitet zu haben, die Mahagoniplatte des Schreibtisches sieht stumpf und abgewetzt aus.
Das Telefon hat keinen Hörer mehr. Vielleicht ist er zerbrochen und man hat ihn weggeworfen? Egal, das ist ja meine Aufgabe. Ich nehme das alte Telefon weg und initialisiere das Neue. Während ich noch warte bis ich den Kontroll-Ton höre, fühlen meine Finger Unebenheiten auf dem Telefongehäuse das ich in der Hand halte.
Wie kleine Spritzer dunkler Farbe, oder ähnliches, blättern sie unter meinen Fingernägeln ab. Da erst bemerke ich den dunklen Fleck auf der Schreibtischoberfläche. Tiefes Rot hat sich in das Holz gesaugt.
Die Krümel auf meinem Finger sind ebenfalls rot und ich habe keinen Zweifel daran, dass es sich um Blut handelt.
Plötzlich, ein Geräusch. Der Kontroll-Ton des Telefons lässt mich zusammenzucken. Ich verzichte darauf die Funktion zu prüfen und renne aus dem Büro.
Auf den Rückweg bin ich unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Ich rede mir ein, nicht wissen zu können was passiert sei, aber immer wieder sehe ich Herrn Mbeke vor mir, wie er zusammengesunken an dem Schreibtisch sitzt, mit dem Kopf in einer Blutlache.
Epilog:
Viele Jahre später erst löst sich dieses Rätsel für mich auf. Turbulente Zeiten sind gekommen und gegangen. Die Weltregierung existiert nicht mehr. Die Einheit ist in eine unüberschaubare Anzahl kleiner Gruppen zerfallen, die alle Autonomie beanspruchen, wobei die meisten ohne ihre Nachbarn nicht überlebensfähig wären. Zumindest sehe ich das so.
Ich denke zurück an die Zeit in der ich nicht dachte.
Herr Mbeke wurde durch Veröffentlichungen von geheimen Akten der Weltregierung berühmt.
Man beschloss damals die Ausrottung aller Afrikaner die einem Wirtschaftswachstum in Wege standen.
Alte, behinderte, kranke und schwache mussten weg. Natürlich konnte so etwas nicht offiziell geschehen, jemand musste gefunden werden, der verstünde, dieses durch scheinbar „natürliche“ Vorkommnisse zu verwirklichen.
Sebastian Mbeke war derjenige gewesen. Auf Befehl hackte er sich in Wettersatelliten, Forschungslabors, Krankenhäuser und andere Einrichtungen. Er tötete Millionen von afrikanischen Staatsbürgern durch herbeiführung von Seuchen und Naturkatastrophen.
Man kennt ihn heute unter der Bezeichnung: „Der schwarze Hitler“.
Ich weiß jetzt warum er weinte. Er weinte um Menschen die er nicht kannte.
Er weinte, da er wusste, dass sie sterben würden.
Er richtete sich selbst für sein tun.
Ich habe Sebastian Mbeke weinen sehen.