Wellensittich entflogen!
Wellensittich entflogen! Eine Sommergeschichte
Von Xenia
Papa hat immer Zeit: Wenn die Bänder in den Schlechtwetterschuhen mindestens fünf Knoten haben und kein Kinderfuß mehr in den Schuh hineinpaßt, wenn in beiden Zöpfen die Brockenhexen die Haare verwirrt haben, wenn eine dicke Beule kleingepustet werden muß, wenn die Müdigkeit das Kind zu ängstlichen Nestvogel verzaubert hat und es nicht allein einschlafen kann. Papa bringt all’ das und noch viel mehr mit Geduld und kleinen Späßchen so in Ordnung, wie das Kind es haben will.
Aber eines Tages war alles wie verhext, und das kam so: Mama hatte es schon wieder eilig gehabt, wie jeden morgen. Erst wollte sie nicht aus den Federn, und dann wirbelte sie wie der Wellensittich Pipps durch die ganze Wohnung. Sie zwitscherte und flötete dabei, putzte an sich herum, bis sie endlich, ihre Geige unter den angewinkelten Arm geklemmt, mit dem himmelblauen Regenschirm zur Türe hinaus geschwirrt war. Papa und Pipps, Paul und Ulchen blieben noch eine Weile mehr oder weniger leise in der Küche, bis auch von ihnen einer nach dem anderen verschwand, Ulchen ins Schulchen, Paul ins Gymnasium, Pipps in den Käfig und Papa ins Gärtchen. So mußte das auch sein.
Papa geht nicht aus dem Haus um zu arbeiten. Er schreibt Geschichten, winzige Geschichten, erklärt er Paul immer, weil der Garten so klein ist, in dem er sie aufliest. Jüngst schrieb Papa ein Spatzen- , Himbeer-, Regenwurmgeschichtchen auf das schöne weiße Papier, so sauber, daß Paul und sogar Ulrike es lesen und verstehen konnten. Manchmal gibt es auch Kinder in Papas Geschichten und die kommen dann Paul und Ulrike seltsam bekannt vor. Weil ihm alle so fleißig beim Geschichtenmachen helfen, der Garten, die Kinder und vor allem die Mama, wird dann das kleine Honorar bei Mondscheinfesten im Garten verjubelt, wenn es nicht gerade regnet.
An diesem verhexten Tag regnete es seidengraue Fenstervorhänge. Mama war schon abgeflattert. Paul und Ulrike sahen wie griesgrämige Heinzelmännchen aus, als sie mit ihren Regenkapuzen die Dreitreppe hinunter stolperten und Papa sie bis zum Briefkasten beschirmt begleitete. Papa strahlte über beide Vollbartbacken, denn bei solchem Wetter konnte er heute wirklich nicht die Fenster putzen. Er versprach den Kindern einen wunderbaren Nachmittag mit Geschichten und Spielen, mit Flötenmusik und Fünfuhrtee. In solcher Behaglichkeit würde auch Mama sich gern nach ihren vielen Schulmusik- und Geigenstunden wieder gurrend und blinzelnd wie Pipps niederlassen.
Ja, der Pipps, der olle Sittich mit dem himmelblauen Fittich! Der hatte dann an diesem Tag die ganze Behaglichkeit verscheucht und den Papa bald zu Verzweiflung gebracht.
Als Ulchen und Paul nach Hause kamen, war es ganz still. Papas Gummistiefel fehlten in der Diele, also war er unterwegs. Paul hängte seinen Schlüssel an das Schlüsselbrett und sagte: „Papa ist wohl in die Stadt gefahren, der Autoschlüssel ist weg.“ Ulchen nickte nur und wischte sich die nasse Nase. Die Kinder beschlossen ganz schnell ihre Hausaufgaben zu machen, damit sie beide nachher mit Papa auf der Stelle losspielen könnten. Sobald sie nämlich nur Papas Schlüssel in der Tür würden quietschen hören, könnten solche einfallsreichen Spiele beginnen wie etwa: „Wer kommt denn da aus Afrika?“ oder „Einbrecher, Einbrecher!“ oder „Fräulein Ulrike kriegt schon wieder mal Herrenbesuch!“
Gleich an der Tür weiß Papa auch immer, welches Spiel dran ist; dämlich ist er ja nicht, der Papa.
Ulchen und Paul saßen einander am Kinderzimmertisch gegenüber, damit Ulchen, das verwöhnte Luderchen sich auch helfen lassen konnte. „Vier mal sieben minus zwölf, ach Gott, ach Gott, Pauli, Paule, Paula, Paulo, das macht mich ja gar nicht froh!“ So fing es heute gleich gut an. „Nimm eine Schmierzettel, und mach’ erst Mal dann Minus“, brabbelte Paul zwischen zwei lateinischen Vokabeln, die, das glaubte sogar Ulchen, am Anfang ganz besonders schwierig wären, wie Paul stöhnte.
„Zwei mal sieben ist vierzehn, ach Gott, ach Gott...was ist denn nun mal das, Paul!!! Kuck mal, was da steht!“
Paul las vor: „Liebe Kinder, bin bei Thusnelda, macht Euch keine Sorgen. Laßt nur die Fensterflügel oben offen, haltet Napf und Käfig rein, werde balde wieder bei Euch sein! Euer Pipps...2x7=14...“ „Das habe ich geschrieben“, sagte Ulchen und hieb energisch mit der flachen Hand auf den Tisch, „aber das andere, wer hat das erfunden?“ Ulchen wedelte mit derselben Hand großzügig in der Luft vor Pauls Nase herum. „Papa!“ sagte Paul überzeugt. Das klang gleichzeitig so, als würde Paul den Papa rufen oder ansprechen. Denn da stand der tropfnasse Papa in der Diele und lachte durch die offene Kinderzimmertür. Was er geschrieben haben sollte, fragte er dann auch gleich und dann noch: „Ihr spinnt wohl?“
Au weia, wenn Papa „spinnen“ gebraucht, ist er beinahe sauer. . .
Um den Sittich sollten sich die Kinder nämlich kümmern. Paul hatte die Pflege auch nahezu selbständig übernommen und Pipps war ein sehr zufriedener Vogel. Ulchen übte täglich das Sprechen mit ihm - das Schreiben natürlich nicht.
Vorsichts halber gingen alle drei den Wellensittich suchen. Die Käfigtür war offen, klar, das war sie immer, schließlich war Pipps kein Gefangener und Paul kein Gefängniswärter. Kein Vogel war im Kinderzimmer: nicht auf dem Schrank, nicht im Doppeldecker - Flugzeug unter der Deckenlampe, nicht in der Puppenstube, auch nicht hinter der dunkelblauen Gardine. Paul guckte und lockte in der Diele und Ulchen rutschte flötend auf den blanken, roten Küchenfliesen herum. Die anderen Türen in der Diele blieben immer geschlossen. Die Fenster waren wegen des starken Dauerregens auch alle zu. Aber das Oberlicht im Kinderzimmer, ja, wer hatte denn das für Pipps geöffnet? Paul war sich gar keiner Nachlässigkeit bewußt. Ulchen war noch viel zu klein und Papa? Papa hatte sich doch so über den Regen gefreut, weil er von Fenstern überhaupt nichts wissen wollte!
Die drei durchstöberten den Garten. Papa war naß und zerkratzt, weil er auf jeden Baum geklettert war. Paul heulte fast: „Die We - hellen - sittiche ko- kommen in der Natur doch gar nicht mehr zurecht, die- hi sind doch schon viel zu lange domizielt!“ Domestiziert meinte Paul natürlich. Papa sagte gar nichts dazu, sondern brachte die Kinder schließlich ins Haus. Er half ihnen, besonders Ulrike, in die trockenen Trainingsanzüge. Er kochte Kakao und zauberte Streuselkuchen aus dem Küchenschrank. Dann ging er ins Arbeitszimmer zum Telephon.
„Tja“, meinte er dann nach langer, regendurchrauschter Stille, „wir müssen unseren flotten Junggesellen wohl doch etwas ernster nehmen. Pipps hat eine heimliche Braut! Aber keiner unserer Nachbarn hat einen Sittich! Woher kennt der Pipps die Thusnelda bloß?“
Ein langes Rätselraten begann.
Als Mama kam, war sie gar nicht so verwundert, wie die Kinder erwartet hatten. Erstens, so meinte sie, sei eine Wellensittichdame sicher auch in der Lage sich auf die Suche nach einem Bräutigam zu begeben. Zweitens sei Pipps sicher schon mehr als einmal ohne das Wissen der Kinder entwischt. Wer immer so nachlässig mit den Fenstern umgehe, wisse sie schließlich auch nicht. Drittens habe Pipps so kluge Augen und einen so geschickten Schnabel, warum hätte er sich das Schreiben nicht selbst beibringen können? Nicht wahr, wo doch Fibel, Papier und Stifte immer irgendwo herumlägen? Und die Liebe, die ergriffe jedes Herz schließlich einmal! Solle denn so ein Vögelchen einsam sein, so fragte Mama.
Mütter können Fragen stellen!
Papa schüttelte den Bart, Paul schüttelte den Kopf und Ulchen schaute sehr ungläubig.
Mama nahm das alles nicht so tragisch. Sie schlug vor, erst mal abzuwarten, ob der Vogel wieder angeflattert käme, zum Futternapf nämlich. „ Na, jaaa!“ sagte Ulchen, „ich habe ja auch noch Hunger.“ Keiner hatte Lust in der Küche etwas zu tun. Mama machte Tütensuppe, Papa machte trockene Brotschnitten. „Na, jaaa!“ sagte Ulchen.
Ulchen war die ganze Vogelverschwindegeschichte ein bißchen unheimlich. Sie nahm ihren großen Plüschlöwen fest in den Arm und ließ ihn nicht mehr los. Paul war immer noch traurig, als die Kinder schließlich zu Bett gingen. Lange hörte er noch die gedämpften Stimmen der Eltern und die Geräusche von Regen und Wind, ehe er einschlief.
Am nächsten Morgen war strahlender Sonnenschein. Alle hatten verschlafen. Mamas Schüler und Ulrikes und Pauls Lehrer mußten eben einmal warten. Papa war als allerletzter aufgestanden. Auf ihn wartete das Fensterputzen.
Armer Papa! Aber er versprach den Kindern, doch ein kleines Geschichtchen auf zu sammeln, er versprach der Mama einen kleinen Abendspaziergang, und so hatte er alle ganz ruhig aus dem Haus gebracht.
Papa war allein. Und da passierte dann das, was er am Abend erzählte:
„In elegantem Bogen ist er um den Wassereimer herumgeflogen und landete auf der Oberkante des Fensterflügels, den ich gerade schließen wollte, weil der schon sauber war.
Gut, daß er nicht anklopfen mußte, denn die Verständigung war ohnedies sehr schwierig.
Pipps hatte von seinem Ausflug einen fürchterlichen Schnupfen mitgebracht. Und ratet mal, was er noch mitgebracht hat. Na?“
„Aber Papi, wen, wen hat er mitgebracht mußt du doch sagen!“ warf Ulchen dazwischen.
Doch Papa fuhr ungerührt fort: „Thusneldchen ! Sie krallte sich in sittsamer Schüchternheit an das äußere Fensterbrett und ich mußte sie abpflücken wie eine grüne Pflaume. Unser Pipps hatte sie überredet auszureißen. Tagelang hat er sie angestarrt, seine zarte Vogeldame, durch die große blanke Scheibe beim Vogelhändler. Unser stromernder Junggeselle hatte sie entdeckt, als er seinem schwatzenden Ulchen ins Schulchen folgen wollte. Das konnte er ja schon tagelang bei diesem schönen Wetter! Ich sage nichts, gar nichts weiter zum Problem Fenster, heute nicht mehr nach sechsundvierzig kleinen, schmutzigen Scheiben!
Und so konnte sich Pipps seiner Angebeteten nähern, listig. Ihr wißt, Zeit braucht die List,
braucht die Lust. Und, oh, Gunst der Stunde! Gestern vergaß sogar der Händler das Fenster zu schließen, weil es regnete.
Und weil es regnete konnte Thusnelda entwischen, denn beim Regenrauschen hörte der Händler kein Flügelrauschen, nur den Wind, der das Fenster wieder zuwarf. Aber da war Thusnelda schon entfleucht! Hoch oben im Kastanienbaum, beschirmt von großen, grünen Blätterhänden ließ sich die Vogeldame nieder und putzte säuberlich den Regen fort von dem Gefieder, grün und zart. Nun konnte Vogelhüpf um Vogelschritt der Pipps sich ungehindert nähern. Ich weiß ja nicht, ich weiß ja nicht, wie nahe im Kastanienbaum die beiden Vögelchen sich kamen, wahrscheinlich jedoch nah’ genug, daß heute schon den weiten Flug nach Hause sie gemeinsam unternahmen! So war das, sie schlossen Bekanntschaft, Freundschaft und - ich will es nicht verschweigen - Liebschaft an einem einzigen Tag! Diese losen Vögel! Nun brauchen sie ein Heim. Können wir es ihnen bieten?“
Das hatte Papa erzählt. Paul hatte auf der einen Hand den zerzausten Pipps, die andere hatte er vorsichtig auf den Vogelkäfig gelegt, in dem jetzt die grüne Thusnelda auf der Schaukel saß. Die Käfigtür war offen und die kleine Schaukel schwang mit den nervösen Trippelschrittchen des Vögelchens leise mit. Er hörte zu und strahlte abwechselnd Papa und die Vögel an, der Paul. Ulchen bohrte nachdenklich in der Nase. Mama sagte überhaupt nichts und hatte beide Hände voller Papa.
Ja, der alte Pipps war wieder da, und er hatte sogar noch seinen silbernen Ring am Fuß. Ulchen wollte für Thusnelda auch einen kaufen. Schließlich, so meinte sie, müßte alles recht ordentlich zugehen. Wenn die Vögel Käfig und Napf teilten, so müßten sie auch beide einen Ring mit ihrem Namen haben. Sie holte auch gleich ihre Sparbüchse. Ulchen ist ein sehr praktisches Mädchen!
Paul ist ja auch kein Träumer. Aber an diesem Abend stand er sehr still am Fenster. Er sah beim Mondschein die Eltern vom Spaziergang zurück kommen. Papa pflückte etwas von der großen Linde am Bürgersteig und steckte es in seine dünne Brieftasche. Mama rieb ihre Nase an seinem Arm.
„Wie Pipps, nein, wie Thusnelda“, dachte Paul. Er nahm sich vor, Mama morgen mit dem Ruf: „Aus den Federn, Thusnelda!“ recht zeitig auf zu wecken.