Well, it's mum.
*eins*
„Madison! Madison, komm her!“ Ihre Stimme muss sich durch eine Tausend Meter dicke Wand aus Watte kämpfen, um in mein Ohr zu gelangen. Doch ihre Stimme ist forsch und eindringlich und schafft es mich zu erreichen, obwohl ich geistlich weit weg von der Realität bin und wie in Trance auf das Schaufenster starre. Plötzlich packt mich eine knochige Hand fest am Arm und zieht mich mit. „Madison, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht ständig herum träumen sollst?!“ Miss Mintons Stimme klingt energisch, sie zieht mich an der Hand durch das Menschengetümmel auf dem Marktplatz. Ich drehe den Kopf zurück, versuche zwischen all diesen Menschen das Schaufenster zu erblicken und einen letzten Blick auf diesen wunderschönen, großen, braunen Teddybären zu erhaschen.
Die Menschen um mich herum nehmen mich nicht wirklich wahr. Meine kleine Gestalt wird übersehen, als wäre ich ein Käfer. Miss Minton schließt mich bei vielen Gesprächen aus. Jeden Tag prophezeit sie mir, dass ich zu jung und zu klein wäre. Doch ich weiß, dass dem nicht so ist. Ich bin ein kleines Mädchen, ich habe einen kleinen Körper, ein kleines Herz. Aber ich bin trotzdem ein wichtiger Mensch. So wie Miss Minton es ist und Josh. Und so wie Mum es war. Es war Josh, der mit mir damals abends auf der Veranda unseres Hauses gesessen hatte. „Madison, hör zu. Jeder Mensch ist für etwas bestimmt, und du bist etwas ganz Besonderes. Versprich mir, dass du immer an dich glaubst, Madison!“ Es war einer dieser warmen Abende im Juni gewesen. Einer dieser Momente, die so schön sind, dass es schon wieder traurig ist, weil sie einem garantiert nicht so schnell wieder begegnen. Der Juni ist weg, es ist Weihnachten. Es ist Zeit für Schnee, Kerzen und für Weihnachtslieder, für diese kalte Luft draußen, die nach einer Mischung aus Zimt und flockigem Pulverschnee schmeckt.
„Josh, weißt du wie Schnee schmeckt?“, frage ich meinen großen Bruder, der schweigend auf den grauen Stein starrt und mit seinem Fuß auf dem Kiesboden scharrt. „Nach gar nichts.“ Er schaut mich nicht an. Sein Blick ist auf die im Stein eingravierten Buchstaben geheftet. Jane Crossword 1895-1930. Es ist Mum, es ist meine Mum. Meine Mum ist nicht mehr da. Ich fixiere meinen Blick auf den Grabstein und die Kerzen und Blumen davor, versuche Mum irgendwo darin zu finden. Wo ist Mum? Ich höre Joshs leises Schluchzen, er unterdrückt die Tränen, aber ich weiß, dass er weint. Er weint jedes Mal, wenn wir Mum besuchen. Es ist wohl, weil er Mum so sehr liebte und es nicht ertragen kann wie die tiefen Wunden immer wieder neu aufreißen, wenn er Mums Grab sieht. Trotzdem will er sie jeden Tag besuchen.
„Madison, verabschiede dich jetzt bitte von deiner Mutter“, sagt Miss Minton in die kühle Luft. Ich warte, bis sie und Josh sich vom Grab entfernt haben, dann lasse ich mich auf die Knie fallen. „Mummy“, sage ich leise und trotzdem ist meine Stimme klar. „Ich habe heute in diesem Laden einen wundervollen Teddybären gesehen! Aber ich weiß, dass ich ihn nicht bekomme. Ich versuche das zu verstehen, aber es ist nicht einfach. So wie es nicht einfach ist zu verstehen, dass du nicht mehr hier bist. Josh weint viel um dich, weißt du. Manchmal träume ich von dir, Mum. Ich denke dann, dass es wahr ist, weil du so echt bist. Ich will dich anfassen, doch alles, was ich zwischen die Finger bekomme, ist Luft. Wo bist du, Mummy? Sag mir doch bitte, wo ich dich finden kann.“ „Madison, komm jetzt!“ Miss Minton winkt mich zu sich, ihr Gesicht sieht müde und grau aus, die Wangen sind eingefallen. Ich hole einen Stein aus meiner Tasche, es ist mein Glücksstein. Ich platziere ihn sorgfältig auf der dunklen Erde zwischen die Blumen und renne zu Miss Minton und meinem Bruder. Ich packe Joshs Hand und sage: „Schließ die Augen und lass die Schneeflocken auf deine Zunge fallen. Sie schmecken nach Mum.“
*zwei*
Vielleicht werde ich irgendwann verstehen, warum alles so ist wie es ist. Vielleicht werde ich irgendwann verstehen, warum Miss Minton unser Vormund ist. Vielleicht werde ich irgendwann erfahren, warum ich keinen Vater habe. Vielleicht werde ich irgendwann Joshs Tränen erkennen. „Josh, hast du Angst?“ Josh nickt kaum merkbar. „Das macht nichts“, sage ich und drücke meinen Kopf in das große Kissen. „Wir haben alle Angst.“ Josh lächelt, deckt mich zu und erhebt sich von der Bettkante. Dann geht er zur Tür. „Schlaf.“
Aber ich schlafe nicht ein. Auch nicht, als die letzten Lichter gelöscht sind und das große, alte Haus in eine Wolke aus Dunkelheit gehüllt ist. Doch ich bin nicht allein. Mum ist bei mir, das spüre ich. Sie ist im Stoff der Bettdecke, im Holz der Kommode, im Glas der Fenster, in der Luft, einfach überall. Ich kann sie riechen, ich kann sie hören, aber nicht anfassen. „Madison.“ Ihre Stimme erklingt laut durch den Raum, doch ich weiß, dass nur ich sie höre. “Mummy?“, flüstere ich und richte mich langsam im Bett auf.
„Ich habe mich über euren Besuch gefreut.“
„Wo bist du, Mum?“ Ich weiß, dass sie überall in mir ist, aber ich kann sie nicht finden.
„Da, wo du es dir wünschst, mein Schatz.“
„Ich wünsche mir, dass du bei mir bist!“ Mich werde lauter. „Aber das bin ich doch.“ Mums Stimme klingt so sanft und beruhigend und trotzdem löst sie in mir einen Orkan aus. „Bleib!“, rufe ich. Aber Mum ist weg. Weg. Weg. Weg. Ich spüre wie sich ihr Geist der Luft entzieht, wie ihr süßlicher Duft davonschwebt. „Geh nicht, Mum“, wispere ich. Ich schäle mich aus der Bettdecke und tapse zum Fenster, starre in die schwarze Nacht. „Lieber Mister Gott“, sage ich mit fester Stimme und falte die Hände ineinander. „Ich weiß, dass Sie es mit uns allen nur gut meinen und, dass der Tod zum Leben dazu gehört. Aber warum ist meine Mummy nur so selten bei mir? Warum nehmen Sie sie mir immer wieder weg? Ich finde meine Mum nicht. Ich werde sie wohl erst finden, wenn ich tot bin. Bis dahin wünsche ich mir von Ihnen, Mister Gott, dass Sie uns helfen. Lassen sie Mum in unsren Herzen leben, stoppen Sie Joshs Trauer. Helfen Sie mir zu verstehen, warum wir leiden müssen. Dankeschön.“ Ich krabble zurück in mein Bett und schließe die Augen.
*drei*
„Ich habe gestern zu Mister Gott gesprochen“, erzähle ich und beiße genüsslich in mein Marmeladenbrot. Miss Minton sitzt adrett am Tisch wie immer und trinkt mit Spitzmund ihren Kaffee. Hinter ihr steh der große Weihnachtsbaum, geschmückt mit wunderschönen Glaskugeln und knallroten Kerzen an den Zweigen. „Madison, Gott ist einfach Gott!“, murmelt Josh, „Da gibt’s kein ‚Mister’!“ „Aber Josh“, widerspreche ich. „Wenn Gott so groß und mächtig ist und so viele Menschen zu ihm aufsehen, dann hat dieser Gott doch das Recht darauf gesiezt zu werden, findest du nicht?“ Diese Erklärung hat sogar Miss Minton stutzig gemacht. Sie schaut mich durch ihre Halbmond Brillengläser an, dann steht sie plötzlich auf und räumt das Geschirr in die Küche. Und da sehe ich ihn. Braun und flauschig mit großen, dunklen Knopfaugen. Er sitzt unter dem Baum, einfach so. Ich renne zu ihm hin und knuddle ihn. Meinen Teddybären. „Josh! Von wem ist der denn?“, frage ich euphorisch und untersuche das kleine Kärtchen, dass an seinem Ohr hängt, ganz genau. „Für Madison“ steht da mit blauer Tinte geschrieben. „Keine Ahnung. Wir haben uns auch schon gefragt, es gibt keinen Absender.“ Mein Bruder zuckt ratlos die Schultern. Ich schaue den Bären an, das Feuer im Ofen knistert und ich spüre: Mum ist gerade überall.