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Weistu was, so schweig
„Weistu was, so schweig.“
Sie gingen nebeneinander auf einem Feldweg und um sie erstreckte sich das Streifenmuster schneegefüllter Ackerfurchen und schwarzer Erde bis zu den Häusern der Stadt. Am Himmel glomm das graue Licht der Dämmerung.
„Das Zitat stammt von Thomas Mann – aus dem Doktor Faustus“, fuhr Konstantin fort. Er sprach bis zur Unverständlichkeit leise, das Gesicht halb abgewandt, wie zu sich selbst.
„Es ist wirklich interessant. Sonst heißt es: rede und wenn du nichts weißt. Hauptsache, du produzierst dich; Hauptsache, du wirst beachtet. Aber hier ist es anders, hier wird die Mitteilung verneint. Weißt du, woher das kommt?“
Daniel sah Konstantin von der Seite an. Sein Freund blickte zu Boden. Im Dämmerlicht wirkte sein Gesicht bleich, fast weiß. Die Augen dagegen waren schwarz – zwei Murmeln ohne Glanz und Tiefe; und Daniel fühlte sich an den alten Spruch erinnert, die Augen seien der Spiegel der Seele.
„Es kommt von der Verneinung des Publikums“, fuhr Konstantin fort. „Es geht nicht mehr um Darstellung, um Produktion. Wobei sich Adrian im Roman natürlich doch mitteilt, wenn auch schriftlich; er muss schreiben, um das Schweigen, die Stille zu loben – eine bedenkliche Ironie und vielleicht das Schicksal aller Kunst. Nun, wohin führt aber die Verneinung des Publikums, des Gegenübers? Letztendlich zur Absage an das Leben selbst.“
„Nicht schon wieder die Verneinung des Lebens. Damit quälst du mich wirklich oft genug“, meinte Daniel lachend. Dabei war ihm nicht nach Scherzen zumute; denn die letzte Konsequenz der Absage ans Leben war der Selbstmord. Auch wenn Konstantin niemals davon sprach.
Konstantin sah ihn an, schweigend, mit spöttischem Lächeln. Daniel hörte auf zu lachen. Er spürte die Distanz zwischen sich und Konstantin, die Leere, die sie trennte.
„Konstantin, du weißt, es war nur ein Scherz. Ich habe es nicht ernst gemeint.“
„Vielleicht doch. Über manche Dinge scherzt man nur, um nicht ernst sein zu müssen.“, erwiderte Konstantin halblaut und den Blick wieder gesenkt, und fuhr dann mit leisem Lachen fort: „Übrigens habe auch ich einen Scherz für dich, eine Büffelposse. Du weißt doch, ich habe letzte Woche Deutsch geschrieben.“
Daniel nickte – so abstrakt und jenseitig die Gedankenwelt seines Freundes sein mochte, so einfach war sein äußeres Leben und bezeugte dessen Einsamkeit.
„Ich habe das Blatt leer abgegeben. Nur eben mit dem Zitat - weistu was, so schweig.“
„Wieso machst du sowas?“, fragte Daniel. „Du versaust dir nur deine Note.“
„Weil sie mir egal ist. Ich weiß, was ich kann – Fremdbewertung überflüssig.“
„Und dein Vater?“
„Was ist mit ihm? Er wird mein Zeugnis nicht einmal ansehen. Und falls doch, freut er sich bestimmt über die versaute Note. Überhaupt, was regst du dich so auf? Es war ein Scherz. Du solltest lachen und dir keine Sorgen über meine Noten machen. Die sind gut genug. Und für Philosophie braucht man keinen Numerus Clausus, auch nicht als Doppeljahrgang.“
„Aber du könntest ein Stipendium gebrauchen. Dein Vater wird dir kaum was zahlen und als Tellerwäscher kann ich mir dich nicht vorstellen.“
Konstantin schwieg darauf und der heitere Ausdruck, den sein Gesicht für einen Augenblick gehabt hatte, verlor sich in Düsternis. Und Daniel bereute, was er gesagt.
Die Häuser der Stadt kamen näher und bald ließen sie das erste Vorortsschild hinter sich. Hier war es lauter als auf dem Feld: Autos fuhren und auf den Gehsteigen liefen Schüler auf dem Weg zum Unterricht. Daniel und Konstantin folgten ihnen bis zum Schulgebäude mit dem Fabrikdach und den roten Stahlträgern und bogen dann seitlich ab zu einem kaum benutzen Nebeneingang. Beim Eintreten schlug ihnen eklig warme Luft entgegen.
„Entschuldigt ihr zwei.“
Am Ende der kurzen Treppe zur Aula stand ein Mädchen in ihrem Alter. Ein halbes Dutzend schwarzer Kreuze hing um ihren Hals. Ihre Haut dagegen war weiß. Daniel schien sie zerbrechlich zu sein, eine Elfe aus Glas, und in dem Grau-Blau ihrer Augen glaubte er, etwas wie Schmerz und Traurigkeit zu sehen. Und dabei war sie schön.
„Könnt ihr mir sagen, wo U 49 liegt. Ich bin neu hier und weiß nicht, wo ich hin muss.“
„Deutsch Leistungskurs?“, fragte Konstantin. Daniel sah seinen Freund mit milder Überraschung an. Dessen Augen hatten ihre Leere verloren – in ihnen schien matter Glanz.
„Ja.“
„Dann kann ich dich hinbringen, wir sind im selben Kurs.“ Und zu Daniel gewandt: „Man sieht sich.“
Konstantin saß in seinem Bürosessel zurückgelehnt, die Augen geschlossen, und lauschte der suchenden, dämonisch irrlichternden Einleitung von Beethovens Klaviersonate Opus 111. Daniel, der im Türrahmen stand, beachtete er nicht.
Das Zimmer war kahl – in seiner Weite standen kaum Möbel: Bett, Tisch, ein Regal voller Bücher, in dem auch die Musikanlage stand. Eine Bahnhofsuhr hing, grotesk und übergroß, neben dem Fenster, während ein Druck von Dürers Melencholia und die Kohlezeichnung eines verfallenen Mannes ohne Augen, die von Konstantin war, den Schreibtisch flankierten.
Klar und streng trat das Thema auf und während es sich im schnellen Lauf verlor, um weicher, wärmer wiederzukehren, betrachtete Daniel seinen Freund. Er kannte dieses Bild des Versunkenen: reglos und von stillem Ernst – einem Heiligen gleich. Oder einem Toten.
Als der erste Satz endete, stand Konstantin auf und ging, noch immer grußlos, zum Regal.
„Ich nehme an, dir ist Metal lieber?“, fragte er mit abgewandtem Gesicht.
„Klar. Wäre Behemoth für dich in Ordnung?“
Konstantin öffnete seinen Laptop, der auf dem Regalbrett über der Musikanlage stand, tippte, und statt Beethoven erklang Behemoth - „At the left hand ov god“.
„Eine Wohltat“, scherzte Daniel. Er löste sich vom Türrahmen und trat ins Zimmer.
„Ihr spielt das Stück auch mit der Band, oder?“, fragte Konstantin, während er halbabgewandt ins Leere blickte.
„Ja. Wobei wir in letzter Zeit nicht mehr so viel proben. Patrick macht seine Ausbildung und Alex kommt auch nicht immer. Meinst du nicht, wir sollten die Musik etwas leiser stellen?“
Konstantin wandte sich ihm zu. Ein spöttisches Lächeln verzog seine Mundwinkel.
„Weshalb? Wegen meines Vaters?“
Daniel nickte.
„Mach dir keine Sorgen. Ihm ist jede Musik recht, Hauptsache keine Klassik und kein Jazz. Und wenn du dich um die Nachbarn sorgst – die zu stören, macht mich in den Augen meines Vaters normal.“ Das Spottlächeln wurde boshaft. „Ein Hoch auf die Dummen und Ignoranten; ihr Leben ist einfach.“
„Schon gut.“
Konstantin schwieg und sah aus dem Fenster in den gleißenden Vormittag. Im Garten lag Schnee und reflektierte das Sonnenlicht – ein fließendes Lichtermeer bei jeder Bewegung. Wie tot stand dagegen der Apfelbaum, ein schwarzes Skelett vor all dem Weiß, und auf einem seiner Äste saß eine Krähe und blickte zum Fenster hinauf.
„Ich nehme an, ich sollte nicht nur wegen ein paar Worten zur Band kommen und auch nicht wegen deines Vaters?“
„Nein.“ Konstantin sprach noch immer mit dem Rücken zu Daniel. Seine Stimme war kaum zu verstehen. „Ich wollte über etwas mit dir sprechen. Oder besser über jemanden.“ Er stockte.
„Über wen?“, fragte Daniel, der die Antwort bereits kannte.
Nun wandte Konstantin sich vom Fenster ab und sah ihn mit unsicherem Lächeln an. In seinen Augen lag etwas wie Scheu - ein Zögern, das neu an ihm war.
„Marie … Ich wollte mit dir über Marie reden, dem Mädchen von gestern morgen.“
„Was ist mit ihr?“
„Nun …“ Fahrig strich er sich mit der Hand durchs Haar. „Ich kann sie nicht vergessen. Dabei weiß ich nichts von ihr. Es ist wie bei einem Ohrwurm, nur visuell. Ihr Bild taucht immer wieder auf. Und ich kann nichts dagegen tun.“ Er hielte inne. „Ich will nichts dagegen tun.“
„Du bist verliebt.“
Konstantin lachte kurz und scharf. „Ach ja.“ Dann wurde er ernst und sein Blick wanderte wieder aus dem Fenster. „Vermutlich hast du recht. Ich bin verliebt.“ Die letzten Worte sprach er zögernd, unsicher, wie jemand, der eine neue Sprache lernt.
„Das freut mich. Wirklich.“
„Ich weiß. Aber es wird nichts daraus werden.“
„Weshalb?“
Konstantin schwieg, mit einem Spottlächeln und stiller Erwartung im Blick.
„Du willst nicht wirklich deine Gefühle hinter deiner Vorstellung von der Verneinung des Lebens verbergen. Das ist total idiotisch. Das ist falsch. Du bist genauso ein Jugendlicher wie ich, du bist genauso ein Mensch. Warum willst du keiner sein?“
„Der Mensch soll überwunden werden - so lehrt Nietzsche. Außerdem wäre es nicht richtig für Marie. Sie gleicht einer Glasfigur – ich glaube ihr Freund hat sie vor kurzem verlassen – und ich bin nicht der Richtige, um sie aufzufangen.“
Das Lied endete und mit geisterhaftem Klavierspiel setzte „Inner-Sanctum“ ein. Für Augenblicke war es beinahe still.
„Es hat nichts mit ihr zu tun, nicht wahr?“, fragte Daniel. „Dir geht es gar nicht darum, sie nicht zu verletzten und auch nicht um deine Einstellung zum Leben. Du hast einfach Angst.“
Wortlos wandte Konstantin sich ab. In der Weite des Zimmers fühlte Daniel sich unwohl – er hing losgelöst im Raum und wusste nicht, ob er gehen sollte.
Konstantin ging zu seinem Bett und griff unter das Kopfkissen. Dann kam er auf Daniel zu. Mit ausdruckslosem Blick hob er die Hand und öffnete die Faust. An seinen Fingern hing, klein und glitzernd im Licht, ein Silberkreuz.
Schneeflocken trieben im Zwielicht und der Wind wehte sie unter das Dach des S-Bahnhofs und über den Betonboden hinweg in die Büsche jenseits der Schienen. Daniel lehnte an einem Stahlträger und am Ende des Bahnsteiges wiegte sich ein leerer Kinderwagen.
Eine S-Bahn fuhr ein. In ihrem Windschatten erstarrte die Luft und die Schneeflocken sanken zu Boden – lautlos wie fallende Sterne. Am Ende des Zuges öffnete sich eine Tür und Konstantin und Marie stiegen aus. Sie gingen Hand in Hand zur Unterführung – ein ungleiches Paar, er war viel größer als sie. Kurz bevor sie die Treppe hinabstiegen hielten sie inne und Marie stellte sich auf die Zehenspitzen, zog seinen Kopf sachte zu sich herab und küsste ihn. Für einen Augenblick, der Daniel ewig zu dauern schien, verharrten die beiden wie ein Standbild, die Installation eines Surrealisten. Dann verschwanden sie in der Tiefe.
Daniel sah ihnen nach, mit dem irrealen Gefühl eines Träumers, dessen Schreckensbild wahr geworden ist und als Alb durch sein Leben geistert.
„Kann ich mit dir reden?“, fragte Marie. Sie stand vor Daniel in der Schulaula, dunkle Ringe um die Augen – Schatten auf dem Schneeweiß ihrer Haut, ergreifend schön in ihrer Traurigkeit - und hinter ihr strömten die Schüler nach Unterrichtsschluss ins Freie. „Du bist doch ein Freund von Konstantin?“
„Ja, sein Einziger.“
Sie sah an ihm vorbei ins Leere und während um sie her der Lärm wogte, schien es, als wäre sie für sich allein – die einzige Besetzung in einem Stück der Einsamkeit.
„Wo musst du jetzt eigentlich hin?“, fragte Daniel.
„Wie?“
„Ich denke nur, dass es sich im Gehen besser redet als hier drinnen, und da kann ich dich auch gleich nach Hause bringen, oder wo du sonst hin willst.“
„Ach so … Danke.“
Sie lächelte zaghaft.
Mit dem Strom der Schüler trieben sie hinaus in den eisig klaren Nachmittag. Nur weit hinten türmten sich Wolken am Horizont. Schweigend gingen sie durch Straßen, in denen sie bald alleine waren. In der Luft hing der Geruch von Rauch.
„Er spricht nicht mehr mit mir.“
Schwarze Leere breitete sich in Daniel aus – ein Gefühl wie dicke Mauern, die ihn umgaben, Mauern, und um ihn her kein Licht.
„Wenn ich ihn sehe, weicht er mir aus. Er läuft weg, sieht mich nicht an, hört mich nicht. Selbst in Deutsch ignoriert er mich. Und ich hab nicht mal seine Handynummer – er hat sie mir nicht gegeben.“
Ihre Lippen zitterten und Daniel dachte unwillkürlich an das zarte Flügelschlagen eines Schmetterlings, der seine Flügel nach einem Sommerregen trocknet.
„Das hat nichts zu sagen, er hat gar keins.“
„Wie?“
„Er findet, er braucht keins. Und er hat eigentlich recht. Sonst will ihn nie wer anrufen.“
„Ist auch egal. Ich nehme an, ich soll dir helfen.“
„Bitte. Du kennst ihn viel länger als ich. Du musst doch wissen, was los ist.“
Er schüttelte Kopf.
„Ich habe keine Ahnung. Das ihr zusammen seit, weiß ich auch nur wegen deiner Halskette und weil ich euch einmal auf dem S-Bahnhof gesehen habe.“
„Er hat dir nichts erzählt?“
„Nichts. Du müsstest mich also erstmal ins Bild setzten.“
„Er hat ein paar Tage lang nicht mit mir geredet. Also nachdem er mich mit in den Kurs genommen hat.“, begann sie tonlos zu erzählen. „Nach einer Stunde kam er dann einfach auf mich zu und hat mich zum Kino eingeladen. Du musst wissen, ich habe vor kurzem meinen Freund verloren … Er hat mich verlassen … Eigentlich dachte ich, ich würde nie wieder einen neuen wollen, schon gar nicht so schnell. Aber als Konstantin so vor mir stand, mit seinem süßen Lächeln, da hab ich mich auf einmal doch gefreut und hab ja gesagt.
Vom Film selbst weiß ich nicht mehr viel. Ich habe mehr ihn angesehen als die Leinwand. Aber Konstantin hat nur auf den Film geachtet. Kein einziges Mal hat er zu mir rüber gesehen. Ich dachte schon, er wolle doch nichts von mir. Aber als der Abspann kam, hat er sich zu mir umgedreht und hat mich geküsst. Ganz plötzlich, ohne was zu sagen. Dann ist er gegangen.“
In seinem Inneren sah Daniel Konstantin in einem der roten Kinosessel, die Augen starr auf die Leinwand gerichtet, und er wusste von dessen Qual - der Möglichkeit, sie zu küssen. Aber bei Daniel tat er es nicht, sondern stand am Ende der Vorstellung auf, verabschiedete sich mit kalter Liebenswürdigkeit und ging. Es wäre besser so gewesen.
„Am Abend hat er dann bei mir zu Hause angerufen. Er war ganz furchtbar lieb und wir haben uns am nächsten Tag wieder getroffen. Aber jetzt redet er kein Wort mehr mit mir.“
„Du hast einen anderen Konstantin kennen gelernt als ich.“, sagte Daniel, das Gesicht halbabgewandt. „Quasi ein Negativ. Wo deiner freundlich ist und lieb, ist meiner distanziert und erhaben. Wo deiner mitfühlt und hilft, spottet meiner und wendet sich ab. Wo deiner warm ist, ist meiner kalt. Ich weiß nicht, welcher der echte ist – nur, dass deiner neu ist. Du hast ihn verändert. Aber jetzt ist er wieder der alte. Und ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, ihn zu ändern.“
Marie blieb vor einem Gartentor stehen. Mit zitternden Fingern fuhr sie über das Silberkreuz an ihrem Hals; ein Lichtstrahl hatte sich darin verfangen und spielte glitzernd auf der Oberfläche. Tränen liefen über ihre Wangen. Daniel nahm sie in den Arm und strich ihr übers Haar, während sie stumm an seiner Schulter weinte.
Hinter dem Gartentor führte ein Plattenweg zur Eingangstür eines niedrigen Hauses. Auf dem Dachfirst saß eine Krähe und blickte auf Daniel und Marie herab. Über ihr türmten sich die Wolken, die immer dunkler wurden. Die ersten Flocken fielen, klein und weiß wie Sterne.
Irgendwann löste sich Marie von ihm. Auf ihrem Gesicht glänzten noch Tränen und wie sie ihn ansah, war es eine Anklage für Daniel.
Konstantin zeichnete. Mit wenigen Strichen schuf er seine Formen, einen Kreis, vier Striche, simple Geometrie, um dann innezuhalten und sekundenlang wie verloren auf das Blatt zu starren. Als er wieder ansetzte, hatten seine Bewegungen ihren Schwung abgelegt; nun tasteten sie, probierten, zögerlich und wie zur Flucht bereit, und langsam gaben die Kohlestriche den Formen Inhalt. Im Hintergrund lief Musik – Toward Dead End von Children of Bodom
I’m walking towards dead end an I’m walking all alone
Als Daniel das Zimmer betrat, legte Konstantin den Kohlestift beiseite, wandte sich aber nicht um. Daniel trat hinter ihn und blickte über seine Schulter hinweg auf das Bild. Es war eine Weltkugel, mit Stäben gespickt und auf zwei Strichkonstruktionen, die an Brückenpfeiler erinnerten, durch eine öde Weite wankend.
„Es ist gut geworden.“
„Danke für die Blumen.“
Es klang nicht echt, eher wie eine Floskel, die nicht mehr verstanden wurde.
„Was stellt es da?“, fragte Daniel, obwohl er vor der Antwort zurückschreckte, sie nicht wissen wollte.
„Mich.“
„Das tut mir leid.“
Dann wusste er nicht mehr, was er sagen sollte und nur die Musik lief weiter.
No matter where I am, I’m alone
„Können wir rausgehen?“
Konstantin antwortete nicht. Er blieb dem Schreibtisch zugewandt und blickte auf die Kohlezeichnung in seiner Hand. Die Bahnhofsuhr zerstückelte die Zeit, während das Lied seinem Ende entgegen strebte.
In die Stille hinein, die auf die Musik folgte, sagte Konstantin: „Es ist Zeit“, erhob sich, und sie verließ das Haus.
Draußen war es Nacht. Die Sterne waren von Wolken verdeckt, aber vom Himmel kam der Widerschein der nahen Stadt – wie ein Licht aus weiter Ferne, aus einer anderen Zeit. Sie gingen durch Straßen, in denen hie und da Laternen ihre Lichtkreise warfen, und dann hinaus aufs freie Feld, wo der Schnee in den Ackerfurchen leuchtete. Aus Richtung Osten rauschte ein Autobahn.
„Stört es dich, wenn ich rauche?“
Konstantin sah ihn an, spöttisch, doch mit halbem Lächeln.
„Hast du wieder angefangen?“
Daniel gab keine Antwort, zog nur eine Schachtel aus der Jackentasche, zündete sich eine Zigarette an. Das Feuerzeug flammte in der Dunkelheit und beleuchtete sein Gesicht.
Auf einer Brücke überquerten sie die Autobahn. Die Autos, deren Scheinwerfer grelle Streifen in die Dunkelheit schnitten, schienen Daniel ebenso fremd und sonderbar zu sein wie das matte Leuchten der Wolkendecke. Dort unten gab es keine Worte, die gesprochen werden mussten.
„Du weißt, worüber ich mit dir reden will?“
„Natürlich.“
„Warum hast du sie verlassen?“
„Es wäre falsch, bei ihr zu bleiben.“
„Du meinst, es passt nicht mit deinem Weltbild zusammen.“
„Auch.“
„Das ist Mist.“
„Vielleicht. Aber eigentlich geht es doch um etwas anderes. Es heißt Identität wäre die Balance zwischen individuellen Wünschen und den Forderungen der Umwelt – ein Drahtseilakt ohne Sicherheitsnetz und ständiger Veränderung unterworfen. Dabei verhalten sich die Dinge anders. Die Gesellschaft, die Welt, das Leben zerren an dir und verändern dich, sobald du es zulässt. Ich habe es zugelassen und Marie hat mich verändert.“
„Vor zwei Wochen hätte ich nichts gesagt. Es hätte mir nicht gefallen, was du sagst, aber ich hätte geschwiegen. Weistu was, so schweig.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber jetzt geht es nicht mehr nur um dich.“
„Und es wäre besser, ich bliebe bei ihr? Du weißt, dass es falsch war von Anfang an. Ich bin nicht der Richtige für sie, kann es nichts sein. Sie suchte nur eine neue Beziehung, um ihren Schmerz zu vergessen. Sie hätte jeden genommen, nur hat sie der Falsche gefragt. Sollte ich mich demnach zwingen, ihr eine Farce spielen, ein Trauerstück, in dem nur eine der Figuren die Wahrheit kennt?“
„Nein. Es stimmt, dass ihr nicht zusammen passt. Du bist nicht so. Und, dass ich dich herausgefordert habe, tut mir leid. Aber du musst mit Marie reden. Das bist du ihr schuldig. Vielleicht versteht sie dich nicht, aber du musst ihr eine Chance geben.“
Konstantin erwiderte nichts und sie gingen schweigend unter dem leuchtenden Wolkenhimmel. Inzwischen lag die Autobahn weit hinter ihnen und ihr Rauschen war nur noch ein Murmeln in der Ferne. Daniel fühlte sich Konstantin seltsam nah. Zum ersten Mal hatte dieser seine Ängste offenbart. Und etwas wie geheimer Stolz regte sich tief in seinem Inneren – die Anerkennung des Charakteristischen.
„Ich werde gehen.“, sagte Konstantin irgendwann. Seine Stimme klang traurig. „Ich werde gehen und ihr sagen, warum ich einsam bin.“