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Weiss sein am Playa Blanca

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28.12.2004
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Weiss sein am Playa Blanca

Andreas war der einzige Weisse am Playa Blanca. Dabei bemühte er sich seit zwei Wochen an der kolumbianischen Karibikküste um etwas Farbe, aber irgendein Gendefekt sorgte dafür, dass er weder braun noch rot noch gelb wurde.
„¡Ostres! ¡Ostres!“, bewarb ein Händler Austern, während ein anderer ‘Cokteles de Mariscos’ anbot und weiter vorne jemand frisch gefangene Langusten aus seinem Boot lud. Andreas schaute dem Treiben zu. Eigentlich hatte er heute lesen wollen, aber Ruhe suchte man am Playa Blanca vergeblich. Der Strand war eine lateinamerikanische Version Mallorcas. Jetskis rasten zwischen Schnorchlern über die Wellen, Oberschichtteenies tanzten im lauwarmen Wasser zu Reggaeton und überall Strandverkäufer mit ihren ungewohnten Angeboten. „Helados, Empanadas“, rief einer, und als er Andreas’ weisse Haut bemerkte, fügte er leiser hinzu: „Cocaina, good quality, for gringos!“
Andreas hatte Routine darin, Verkäufer zu ignorieren. Als er aber plötzlich zwei Hände auf seinen Schultern spürte, war die Ruhe verflogen. Er wandte sich um und schaute einer Costeña-Frau auf die Silikonbrüste.
„¿Mansaje?“, fragte sie mit tiefer Pornofilmstimme. „Ich bin sehr gut. Sehr sehr gut.“ Sie kniete hinter Andreas nieder mit der Absicht, die Behauptung zu beweisen. Andreas kam ihr zuvor und schickte sie mit einem unwirschen „No“ fort. Sie liess sich nicht beirren und schritt weiter zu einem fetten Kolumbianer, der interessiert ihre Brüste beäugte, aber ebenfalls ablehnte.
„Dulces con coco, con mango, piña y maracuya.“ Die nächste Verkäuferin, dieses Mal ein Mädchen, war bei Andreas’ Badetuch angelangt. Sie stellte den Korb voller selbstgemachter Süssigkeiten neben den Zweiundzwanzigjährigen und erklärte: „Nur 1’000 Pesos das Stück.“
Die Kleine sah aus, als könnte sie das Geld gebrauchen. Das Oberteil ihres Badeanzugs war mit einer Schnur behelfsmässig zusammengebunden. Ihr schwarzes, zerzaustes Haar, das ungewaschene Gesicht, die angekauten Fingernägel, alles an ihr machte einen verwahrlosten Eindruck. Trotzdem war sie hübsch, auf wilde, urtümliche Weise.
„Was schmeckt am besten?“, fragte Andreas.
„Pastel de coco.“ Sie zeigte auf den klebrigen Kuchen aus Kokosstücken und Caramel.
„Entonces quiero uno de esos, por favor.“
Während er eine 1’000er-Note aus seiner Brieftasche suchte, hockte das Mädchen aufrechter hin und erwähnte beiläufig: „Ich mache übrigens auch Sex.“
Wäre er nach zwei Stunden am Playa Blanca nicht auf ein solches Angebot vorbereitet gewesen, hätte Andreas anders reagiert. Jetzt meinte er einfach: „Nicht jetzt, gracias.“ Er überreichte ihr das Geld, nickte freundlich und sagte: „¡Chao!“
„Später vielleicht?“, insistierte das Mädchen, während sie aufstand und den Korb aufhob. „Billig, nur 20’000. ¡Es un buen precio!“
„No, gracias.“
„¡Que lastima! Wie schade!“ Sie liess die Schultern hängen und machte ein enttäuschtes Gesicht. „Wenn du es dir anders überlegst, frag beim Restaurant. Me llamo Lily. “
Während das Mädchen weiter spazierte, konnte Andreas nicht anders, als ihr prüfend auf den Hintern zu schauen. Da war nicht viel Fleisch dran für eine Kolumbianerin. Wie alt war sie? Vielleicht fünfzehn? Sechzehn höchstens. Zu jung, aber alle Anzeichen angeborener Schönheit waren vorhanden. Das Haar war zwar wild, aber es passte zu ihrem Erscheinungsbild. Sie war ein Dschungelmädchen.

Andreas begann Gefallen am Playa Blanca und seinen unterschiedlichen Gästen zu finden. Er legte sein Buch zur Seite und schaute den Leuten zu, beim Baden, Sandburgen bauen, Aguardiente saufen und Party machen. Hey, dachte er, ich bin in Kolumbien, hier läuft das eben so. Genug mit rumhängen an einsamen Stränden, philosophieren und sonnenbaden. Das hatte Andreas oft genug gehabt in den bisherigen sechs Monaten seiner Weltreise. Jetzt war Zeit für lateinamerikanische Lockerheit. Nach dem Mittagessen beschloss er, sich ein Bier zu gönnen.
Die Silikon-Mädchen waren immer noch da und beim Beobachten lernte Andreas die Spielregeln: Wenn ein reicher Kolumbianer Lust hatte, klopfte er einem Mädchen auf den Hintern. Sie marschierte in Richtung Palmen. Der Kerl folgte ihr. Und einige Minuten später kehrte er zurück als wäre nichts geschehen.
Am späteren Nachmittag entdeckte Andreas auch Lily wieder. Er sah sie durchs knietiefe Wasser waten, damit beschäftigt die Strandgäste zu mustern. Diesmal ohne Korb mit Süssigkeiten. Als sie bemerkte, dass Andreas sie anschaute, gesellte sich das Mädchen zu ihm. „Hola, ¿qué tal?“
„Bien, bien.“ Sie hockte neben Andreas in den Sand, das eine Bein angezogen. „Hast du noch immer keine Lust“, fragte sie. „Wir könnten viel Spass haben zusammen. Good fun, no?“
„No, gracias“, wiederholte der Backpacker. Er lächelte ein wenig schüchterner als beabsichtigt. Sie spielte dagegen die lockere junge Frau und sagte: „Du bist noch sehr jung und ganz alleine hier, nicht? Hast du eine Freundin? Familie?“
„No.“
„Du bist also alleine?“
„Mhm.“
„Wieso dann nicht?“ Sie kam näher und gab sich Mühe, ihre flachen Brüste rauszudrücken. Die laszive Stellung gelang dem Mädchen nur mässig, aber es genügte um Andreas für einen Moment ausser Fassung zu bringen.
„Wenn du willst, kannst du anfassen“, offerierte Lily. „Ist alles echt.“ Sie griff nach Andreas’ Hand und wollte diese an ihren Oberkörper führen. Es reizte ihn, musste Andreas zugeben. Er hatte ja nicht gerade oft Sex auf dieser Reise und schon gar nicht mit hübschen kolumbianischen Mädchen. Trotzdem zog er die Hand zurück.
„Nein, wirklich nicht.“ Lächelnd wehrte er ab, was Lily mit einem enttäuschten Kopfschütteln zur Kenntnis nahm. Ihre Beharrlichkeit war schmeichelhaft, so als würde sich ein echtes Mädchen um ihn bemühen. Echt. Na ja, sie war echt unter der braun gebrannten Costeñahaut. Kein Silikon. Lily war die einzige Prostituierte am Playa Blanca ohne Silikon. Und er der einzige Gringo. Auf eine Art gehörten sie zusammen, fand Andreas.
Lily liess sich in Sichtweite nieder. Sie hockte in den Sand an einer Stelle, wo die höheren Wellen um ihren Hintern schwappten. Die Schnur, die ihr Oberteil zusammen hielt, war in Wasser getränkt.
Andreas studierte den schmalen Rücken des Mädchens und stellte sich vor, was für hässliche Typen diesen Körper schon bearbeitet haben mussten.
Selber hatte er zuletzt mit einer besoffenen Backpackerin in Bolivien geschlafen, vor Monaten. Er war kein Draufgänger wenn es um Sex ging. Nicht der Typ, der nach Thailand fliegt um Minderjährige durchzuficken. Aber darum ging es ja gar nicht. Was ihn an Lily reizte, war die Tatsache, dass sie sich um ihn bemühte.
Die Nachmittagssonne brannte unablässig am Playa Blanca und Andreas begann zu schwitzen. Er warf einen erneuten Blick auf Lilys Rücken und versuchte sich vorzustellen, wie das mit ihr sein musste, da hinten zwischen den Palmen, wenn sie sich auszog und nackt ins Gras sank. In dem Moment schaute das Mädchen in seine Richtung, zwinkerte ihm zu, und Andreas fühlte sich ertappt. Sein Puls stieg an, für einen Moment, und gleichzeitig wurde ihm klar: Für 20’000 Pesos, zehn Schweizer Franken, könnte er das alles wirklich sehen, die Schnur hinter ihrem Rücken lösen, sie küssen und mit ihr ins Gras liegen. Jetzt gleich, nur hundert Meter von hier, und es würde niemanden stören. Er kratzte sich an der Stirn. Er schlug nochmals sein Buch auf, konnte jedoch nicht einen Satz konzentriert zu Ende lesen. Und dann plötzlich kauerte Lily neben ihm.
„15’000 Pesos“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie hatte Stil. Sie massierte nicht seine Schultern wie die Silikonfrauen zuvor. Nein. Wie eine richtige Freundin legte sie sich zu ihm in den Sand, stützte den Kopf auf die Handfläche und erklärte: „Es kommen viele Leute wie du hierher. Sie sagen am Anfang immer, dass sie es nicht wollen. Und am Schluss gefällt es ihnen doch.“
„Ich bin keiner von denen“, sagte Andreas unsicher. „Wirklich nicht.“ Er wich ihrem Blick aus und bemerkte den Kokosnusskuchen, der noch immer auf seinem Badetuch lag. Er nahm einen Biss davon und versuchte Lily zu ignorieren. Aber das Mädchen ging nicht. Sie strich ihre wilden Strähnen nach hinten und verharrte erwartungsvoll.
„Es ist nur Sex“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen, „das ist nichts Schlechtes. Ich mache es jeden Tag.“ Sie rückte näher an den Jungen, so nahe, dass er ihren Atem spüren konnte. „Probier es mal. Du bist sehr schön. Hast eine schöne weisse Haut. Und ich bin doch auch schön, nicht?“
Mit dem Zeigefinger zog sie das bisschen Stoff über ihren Brüsten so weit nach unten, dass sich ihre Brustwarzen erahnen liessen. „Du kannst nicht nach Kolumbien reisen und nie mit einer Kolumbianerin schlafen“, sagte sie. „Wir sind die besten. Das sagen alle.“
Andreas atmete so ruhig er konnte. Zwischen ihren Beinen war eine van-Gogh-Sonnenblume auf das Bikini gedruckt. Sie griff mit der einen Hand an die Stelle und nahm ein Kondom hervor. „Ich bin auch keine billige Nutte, siehst du?“, sagte sie und legte es aufs Badetuch. „Ich warte zwischen den Palmen. Ich bin mir sicher, wir werden eine gute Zeit haben zusammen.“
Okay. Vielleicht drückte sie ihre Brüste zu verkrampft nach vorne. Vielleicht hatte sie keine so künstlich erotische Stimme wie die anderen. Vielleicht war sie nicht geschminkt. Aber sie war gut. Da war eine Spur von Natürlichkeit, die aus Lily sprach. So was wie echte Gefühle. Das Herz des jungen Reisenden pochte wie verrückt.
Ihm war klar, dass auch Lily seine Erregung spüren musste. Sie streifte mit der einen Hand durch sein Haar. Dann erhob sie sich und schritt zu den Palmen, weg von dem bunten Treiben am Strand.
Nur eine Frage blieb zurück bei Andreas: Wieso nicht? Sie wollte es ja auch. Sie wollte es, ganz bestimmt. Ein Schweisstropfen rann ihm über den Nacken. In seinem Körper breitete sich ein angenehmes Kribbeln aus, ein Gefühl der Begierde. Einmal, einmal im Leben musste man sowas ausprobieren. Heute war ein guter Tag. Party am Playa Blanca. Reggaeton und Bier. Und ein bisschen Sex unter Palmen. Andreas starrte übers Meer.
Er legte das Buch beiseite. Richtig denken konnte er nicht mehr.
Zwanzig Meter vom Strand entfernt wartete Lily. Sie band sich die Haare hinter ihrem Kopf zusammen. Als sie Andreas sah, nickte sie zufrieden und sagte: „Super. Komm, wir müssen ein paar Meter gehen.“ Sie nahm ihn bei der Hand. Es war heiss hier, wo keine Brise durch die Bäume drang. Andreas schwitzte.
„Wie willst du es?“, fragte Lily auf dem Weg. Ein Esel stand zwischen den Palmen und schaute dem Pärchen zu. Er grunzte gelangweilt.
„Was, äh, wie?“, erwiderte Andreas ratlos.
„Hm, mach dir keine Gedanken. – Da hinten.“ Über Wurzeln und Äste hinweg gelangten sie zu einer Lichtung im Wald der Kokospalmen. Andreas wusste nicht, wie mit ihm geschah. Aber er liess alles mit sich machen. Als wäre er in einem Film gefangen. Er starrte Lily an, ihre grossen, dunklen Augen. Sie schaute zurück, dann auf seine Badehosen. Mit einer geschickten Handbewegung öffnete sie die Bändel und kniete nieder. Es passierte alles viel zu schnell: Sie zog die Hosen runter, nahm seinen Penis zwischen die Lippen und er realisierte, dass er nicht mehr warten konnte.
„Scheisse“, stöhnte er und fühlte ein kaltes Schaudern seinen Rücken hoch steigen.
Ein Seufzen, als Lily ausspuckte. Das Mädchen nahm es praktisch. „Lo siento“, sagte sie und strich sich Sperma aus dem Gesicht. Andreas zog hektisch die Badehose hoch und lehnte an eine Palme. Der kalte Schauder war noch immer da, gepaart mit einem Anflug von Übelkeit.
„Also, kann ich dann mein Geld haben?“
„Wie viel?“
„Wir haben gesagt 15’000.“
„Für das?“
„Ich habe gerade dein Sperma geschluckt, reicht das nicht?“, erwiderte sie so praktisch, dass es in Andreas’ Ohren ernüchternd klang. „Wenn du nochmals willst, 30’000.“ Als Vorgeschmack zog sie ihr Bikini ein Stück weit nach unten. „Willst du? Das zweite Mal ist immer besser, ich verspreche es.“ Andreas konnte nicht anders, er musste das richtig machen, er musste es zu Ende bringen. „Okay“, sagte er und drückte ihren schmalen, zitternden Körper an sich.

Als Andreas eine halbe Stunde später alleine zurück zum Strand schritt, fühlte es sich an wie Aufwachen aus einem Fiebertraum. Die Erinnerungen waren nur Bildfetzen, nackte Haut, Schweiss, Stöhnen. Der fette Kolumbianer nebenan sah zu ihm, aber ohne echtes Interesse. Andreas watete ins Meer und kühlte sich in den Wellen. Das Leben am Playa Blanca war unverändert, die spielenden Kinder, die Wasserskifahrer, die Segelyachten an den Ankerplätzen. Aber Andreas war sich nicht sicher, ob er noch der gleiche war.
Auf eine Art war er froh, es getan zu haben. Es war wild gewesen, verrückt. Ein Häkchen auf der To-Do-Liste: Einmal mit einer kolumbianischen Hure unter freiem Himmel ficken. Er hatte jetzt drei Nationen auf der Liste: Eine Amerikanerin, eine Schweizerin und eine Kolumbianerin. Nicht schlecht, dafür dass er erst zweiundzwanzig war. Und Lily war gut gewesen, wie versprochen. Der vorgespielte Orgasmus, das unterdrückte Stöhnen, die Leidenschaft in ihren Bewegungen. Sie war echt, in Aussehen und Verhalten. Wenigstens wollte Andreas daran glauben.
Nach dem Sex hatte Lily das Geld genommen, gezählt, das Kondom in die Büsche geworfen, ihm „gracias“ ins Ohr gehaucht, sich die Badesachen angezogen. Sie war verschwunden im Wald wie eine Fee in Kindermärchen am Ende der Geschichte. Damit hätte alles vorbei sein sollen.
Doch aus Andreas’ Gedanken wollte sie nicht verschwinden.
Alle Versuche in seinem Buch zu lesen scheiterten. Er konnte sich nicht konzentrieren. Bei jedem Blinzeln sah er Lily vor sich, Lily, ihre Augen, ihr Lächeln, wie sie ihn anstarrte während er ihre kleinen Brüste streichelte. Am Anfang war es ein nettes Bild. Sie wirkte zufrieden, strahlte ihn genussvoll an. Doch das Bild veränderte sich mit jedem Blinzeln. Von Hure zu Frau zu Kind, von Freundin zu Sklavin. Tief in sich fühlte Andreas Unbehagen aufkommen – bis er schliesslich den Menschen vor sich sah, den er für die echte Lily hielt: Ein kleines, unschuldiges, verwirrtes Mädchen. Dieses finale Bild liess Andreas erschaudern.

Zwei Optionen: Andreas sah die Schnellboote, die in einer Stunde zurück nach Cartagena fuhren. Er sehnte sich danach, mit einem dieser Schiffe den Playa Blanca hinter sich zu lassen und Lily zu vergessen. Er konnte fliehen und diese Episode seines Lebens für immer verdrängen. Doch wenn das nicht ausreichte? Wenn alleine das Erhöhen der Distanz zu Lilys Körper nicht ausreichte um ihre Geschichte aus seinem Gedächtnis zu löschen?
Blieb Option zwei: Lily helfen. Und für diese entschied sich Andreas zuletzt, auch wenn er nicht wusste wie.
Also hielt er Ausschau nach Lily und entdeckte sie ganz in der Nähe. Sie hockte zwischen zwei Typen mit Billabong-Badehosen und liess sich in sexy Posen fotografieren. Der Anblick machte Andreas wütend, obwohl ihm klar war, dass er kein Recht dazu hatte. Er schritt auf das Trio zu, bis Lily ihn bemerkte und aufsprang.
„Willst du nochmals?“ Sie schmunzelte. „Ich habe doch gesagt, ich bin gut.“
„Nein“, sagte er. „Aber ich möchte die Nacht hier bleiben. Geht das?“
„Die ganze Nacht?“ Aus dem Lächeln wurde ein Strahlen und das gefiel Andreas. Sie mochte ihn, ganz sicher. Der Gedanke beruhigte sein Gewissen ein wenig.
Nach kurzem Überlegen schlug Lily vor: „Okay, für 50’000 Pesos kannst du bleiben und wir machen es so oft du willst. Gutes Angebot, nicht? Speziell für dich.“
„Nein, nein“, wehrte Andreas ab. „Also, schau, ich möchte nur sehen wie es hier in der Nacht ist und so, ich ... ähm ...“
Sie grinste. „Ich verstehe.“ Dann sofort wieder geschäftlich: „Aber es sind 50’000 Pesos, egal was du machen willst.“
„Okay. Okay.“ Er suchte das Geld hervor. „Aber du bleibst bei mir.“

„Was liest du eigentlich?“, fragte Lily. Die letzten Schiffe am Playa Blanca holten ihre Anker ein. Sie fuhren nach Cartagena und liessen eine Stille zurück, die sich Andreas tagsüber kaum hätte vorstellen können. Er hockte im Sand, neben seinem gekauften Mädchen, und bewunderte abwechslungsweise den Sonnenuntergang und Lilys makellose dunkle Haut. Die Konversation mit ihr verlief stockend. Er hatte herausgefunden, dass sie zwanzig war – beziehungsweise das von sich behauptete –, und einmal Ärztin werden wolle. Eine Ärztin kam alle paar Wochen vorbei und verteilte Kondome und Pillen unter den Mädchen. Sie sei sehr nett und klug.
„Was liest du?“, wiederholte Lily die Frage.
„Das ist von Gabriel Garcia Marques“, antwortete Andreas. „Kennst du ihn?“
„No, ich lese nicht gerne. Worum geht es?“
„Um Liebe, so romantisch es nur geht. Das Buch spielt in Cartagena.“
„Aha“, meinte sie wenig begeistert. „Es wird bald dunkel. Wir können was essen gehen.“
Sie führte ihn zum Restaurant, das inzwischen geschlossen war. Die Silikonfrauen hockten im Sand davor und assen Reste, Fischköpfe, die übrig gebliebenen Muscheln, Reis. Neugierige Blicke trafen Andreas, als sich dieser neben Lily in den Sand setzte. Kichern und Geflüster.
„Reden sie über mich?“, fragte Andreas.
„Ja“, antwortete Lily. „Es passiert nicht oft, dass Männer so lange hier bleiben.“
„Und was sagen sie?“
„Dass du verliebt bist in mich.“
Andreas zögerte einen Moment, bevor er das nächste Stück Kokosnuss in den Mund schob. Er schaute Lily an, die ihren emotionslosesten Blick aufsetzte. „Weshalb denken sie das?“, fragte er.
Ein Schulternzucken zur Antwort.
„Was meinst du dazu?“
„Ich weiss es nicht. Ich verstehe nichts von Liebe.“ Ein kurzes Verlegenheitslächeln, bevor sie geschäftlich fragte: „Möchtest du mit mir schlafen bevor es ganz dunkel ist?“
„Nein.“
„Küssen?“
„Nein, danke.“
Am Eingang des Restaurants stand eine ältere Frau mit tiefen, kleinen Augen. Sie beobachtete die Prostituierten beim Abfälle ins Meer werfen und Geschirr abwaschen. Einige rief sie zu sich und liess sich Geld aushändigen. Lily ging selbständig zu der Dame und nahm ein Bündel Zehntausender aus dem Bikini. Andreas stand daneben und zählte stumm mit: 140’000. Ein Vermögen in Kolumbien. „Wie viel zahlt der?“, wollte die alte Frau wissen. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Andreas.
„Fünfzigtausend für die Nacht.“
Danach diskutierten die beiden zu schnell für Andreas’ Spanischkenntnisse. Er verstand nur, dass die Dame Lily nicht glaubte. Das ging so weit, dass sie unter Lilys Bikini nachschaute, mit den Fingern in den Backen suchte und die Haare durchwühlte. Sie fand nichts, offensichtlich sehr zu ihrem Ärgernis. Ein Murren: „Seid nicht zu laut.“ Dann war Lily entlassen. Sie nahm Andreas bei der Hand und führte ihn hinter das Restaurant, wo unter einem Strohdach die Hängematten der Prostituierten hingen.
„Wer war das?“
„Die Chefin“, erklärte Lily. „Sie gibt uns Essen und alles.“
„Und du musst ihr alles Geld abgeben oder was?“
„Ja, schon, das ist hier so organisiert. Alles ist Gemeinschaftsgeld, davon zahlt sie die Ausgaben und so, wenn jemand schwanger wird und dergleichen. Sie weiss schon was sie damit macht. Der Rest geht an meine Mama.“
Andreas nickte skeptisch, während Lily eine Hängematte ausklopfte und Kissen rein legte. Daneben schnatterten die Silikonfrauen. Eine sagte, Lily habe sich da einen hübschen Gringo geangelt. Sie solle mit ihm nach New York fliegen. Eine andere fand, er müsse krank sein, so blass wie er aussehe. Andreas verstand nicht alles und es war ihm auch egal. Im Moment interessierte ihn nur Lily.
„Also, wenn du ficken willst, weck mich“, erklärte das Mädchen. „Wir können es hier machen. Dann lachen die andern aber. Und sonst gehen wir an den Strand.“
Sie liess Andreas in die Matte steigen. Sie folgte und legte sich ihm gegenüber hin, die Füsse auf seiner Schulter. „Gute Nacht.“

„Scht“, machte Andreas, als alle Silikonweiber eingeschlafen waren. „Scht!“ Er berührte Lilys Unterschenkel, streichelte ihr Schienbein. Im fahlen Mondlicht war der Kontrast zwischen den Hautfarben der beiden noch deutlicher. Der Mädchenkörper hatte die Farbe des Nachthimmels, während seine eigene Haut silbern schimmerte. „Lily“, hauchte der Junge in die Dunkelheit hinein. Sie öffnete die Augen. Ein Gähnen, dann die geflüsterte Frage: „Hier?“
„Am Strand.“
„Okay.“
„Aber ich will nur reden.“
Sie hielt kurz ein: „Dafür bezahlst du nicht.“
„Ich bezahle für die Nacht, auch für reden.“
„Ich bin gut im ficken, nicht im reden.“ Sie verstummten beide weil die Frau in der Matte nebenan ein lautes Schnarchen von sich gab. Als klar war, dass sie nicht aufwachte, flüsterte Andreas: „Komm jetzt!“
Die zwei huschten am Restaurant vorbei ans Wasser. Nur das Rauschen der Wellen, eine sachte Windböe. Die Nächte an der Karibik waren warm und schwül. Am Himmel der Mond, hell genug um die ganze Bucht zu beleuchten.
Mit den Füssen im Wasser fragte Lily: „Also, was soll ich sagen?“
„Wie, was sollst du sagen?“
„Wir reden doch. Normalerweise wollen die Männer, dass ich irgendwas sage.“
„Zum Beispiel?“
Sie zuckte mit den Schultern und sagte mit Latinoakzent: „Let me be your bitch. Fuck me hard.“ Sie verzog das Gesicht und stöhnte gespielt: „Give it to me. Come on, give it to me!“ Sie kicherte, verstellte sich aber gleich wieder und fragte: „Also, was soll ich sagen?“
Auf Deutsch schlug Andreas vor: „Sag: Ich bin kein Hure, nur ein kleines Mädchen.“
Sie sagte es und wollte dann wissen, was es bedeutet.
„Que no eres una puta, pero una chica muy bonita.“
„Wieso sollte ich das sagen?“
„Es gefällt mir.“
Sie vergrub ihre Hände im Sand und fragte: „Ist das so schlimm für dich? Dass ich eine Hure bin?“
„Ich weiss nicht. Es gefiele mir besser, du wärst keine.“ Er musterte sie und fragte: „Machst du das denn gerne?“
„Ja.“ Sie zögerte einen Moment, bevor sie mit funkelnden Augen hauchte: „Mit dir könnte ich es die ganze Nacht treiben. Immer und immer wieder.“ Sie trat so nahe an ihn, dass ihre Hüften die seinen berührten. Sie fasste ihm um die Taille und küsste die Brustwarzen. Andreas spürte, wie kalt ihre Lippen waren. Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Bist du schon lange Hure?“
„Lange genug um zu wissen, dass keiner es mir geben kann wie du“, wisperte sie und fuhr mit den Händen dem Rücken entlang bis unter seine Badehosen.
„Bitte, hör auf damit!“
Sie liess ab von ihm. „Was willst du eigentlich?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Ich bin nicht gut im Reden, hab ich doch gesagt. Relaxe endlich ein wenig, fick mich und dann nimm dein Schiff nach Cartagena. Ist doch alles gut hier.“
Andreas rieb sich am Kinn.
„Du machst dir Sorgen um mich, nicht? Das ist nett, aber echt, es ist alles in Ordnung.“
Auf eine Art machte es ihn wütend, die Art wie Lily mit ihm sprach. Sie war ein Mädchen und benahm sich trotzdem, als wäre er das Kind. „Wie alt bist du wirklich?“
„Zwanzig“, sagte sie bestimmt.
„No lo puedo creer.“
„Glaub es einfach. Ist doch am besten für dich.“
„Aber ich weiss, dass es nicht stimmt.“
„Na und? Du kennst mich eh nicht. Ich bin was immer du willst. Dafür zahlst du und ich bin zufrieden, wenn du mir Geld gibst.“
„Okay“, sagte Andreas. „Die Sache ist, ich interessiere mich nicht für Kunstwesen, ich interessiere mich für echte Menschen, für dich, wirklich dich.“
Lily schüttelte verdrossen den Kopf. „Dafür kannst du nicht bezahlen.“
„Ich weiss.“

Eine ganze Weile lauschten die beiden den Wellen am Playa Blanca. Sie hockten im Sand und beobachteten die Wasseroberfläche, in der sich das Licht von tausend Sternen spiegelte. Es war Lily, die die Stille durchbrach. „Weisst du“, sagte sie, „ich mache das schon lange. Es gab schon andere Männer, die ein schlechtes Gewissen hatten, keine Ahnung weshalb. Schau, ich brauche das alles. Sonst könnte ich nicht leben. Also bitte, ich bin dir sogar dankbar.“
„Ich hätte dir das Geld ja auch so geben können.“
„Nein“, erwiderte sie, „ich bettle nicht. Ich will dir auch etwas geben für dein Geld und ich habe nun mal nichts anderes als das.“ Sie wies auf ihre Brüste. „Wir Costeñas sind stolz, verstehst du?“
„Und du machst das wirklich gerne?“
Sie lächelte. „Spielt es eine Rolle?“
„Für mich, ja.“
„Okay, dann schau: Mit dir war’s wirklich gut für das erste Mal. Es war schön.“
„Es war nicht mein erstes Mal.“
„Dein erstes Mal mit einer Costeña.“ Sie lachte und rollte sich zu ihm, so dass sie ihm einen sanften Kuss auf die Rippen drücken konnte. Sie blieb am Körper des Jungen liegen und liess sich den Rücken streicheln. „Du hast Eltern?“, wollte der Junge wissen.
„Ja. Mein Vater ist Fischer hier, meine Mutter ist krank, sie stirbt bald.“
„Sagen die nichts dazu, dass du eine Prostituierte bist?“
„Doch, dass es gut ist, schliesslich haben sie mich geschickt.“ Sie kicherte und begann mit den Fingern an Andreas’ Bauchnabel zu spielen.
„Wann?“
„Vor zwei Jahren.“
„Da warst du noch sehr jung, nicht?“
Wieder ein Lächeln aus Lilys Mund. „Weisst du was: Ich glaube, die anderen Mädchen haben schon recht. Du bist tatsächlich verliebt in mich.“
Andreas zuckte nur mit Schultern und wartete, bis Lily ihren Kopf anhob. Sie schaute ihm in die Augen, regungslos aber konzentriert. Einen Moment lang war es still am Playa Blanca. Weit weg ein paar Affen in den Bäumen. Im Meer eine Ankerkette, die in regelmässigen Abständen gegen die Aussenwand eines Boots schlug. Dazwischen, die Stille untermalend, der Atem eines Mädchens.
Schliesslich flüsterte Lily: „Warst du denn schon einmal verliebt?“ Ihr Mund blieb leicht geöffnet, bis Andreas antwortete. „Ja, schon“, sagte er.
„Wie war es?“
„So wie wenn plötzlich alles Sinn macht.“
„Hat sie dich auch geliebt?“
„Ich glaube nicht.“
„Das tut mir leid.“ Sie küsste wieder seine Brust. „Vielen Männern die hierher kommen geht es so.“
„Und dir?“, fragte Andreas. „Warst du schon mal verliebt.“
„Nein.“ Sie legte ihren Kopf seitlich über sein Herz und versuchte das Pochen zu hören. „Schau“, begann sie, „die Älteren hier sagen immer: Als Hure lernst du alles über Sex und nichts über Liebe.“
„Stört dich das nicht?“
„Es ...“ Sie brach ab und schwieg lange. Ihr Blick war starr in die Leere gerichtet, ihr Körper angespannt. Andreas spürte es und auch die Kraft, die in ihr steckte. „Ich denke nicht viel über solche Sachen nach“, antwortete sie schliesslich.
„Hast du nie Gefühle für jemanden, der mit dir was macht?“
„Doch schon, ich bekomme leicht Orgasmen.“
„Ich meine Gefühle. So was wie – du willst nicht, dass jemand weg geht. Du willst jemanden einfach nur festhalten und umarmen. Verstehst du?“
Sie rieb sich die Stirn, biss auf die Unterlippe. „Mit dir, vielleicht“, murmelte sie und korrigierte gleich: „Nein.“ Sie dachte kurz nach und fragte: „Sollen wir zurück zu den Hängematten?“
„Bleiben wir doch hier.“
„Wenn es dir lieber ist“, murmelte sie. „Ich bin sehr müde.“
„Schlaf nur. Du bist nicht meine Sklavin.“
Ein knappes Nicken, dann legte sie ihren Kopf zurück auf die Brust ihres Käufers und schloss die Augen. Ein Kribbeln fuhr durch Andreas’ Körper. Er streichelte sie und liess seine Hand auf dem schmalen Rücken liegen. Er wollte, dass sie hier blieb, bei ihm, für immer.
„Machst du das jeden Tag?“, flüsterte er später. Sie antwortete nicht und die Frage wurde von der Brise am Playa Blanca davon getragen. „Wohnst du in der Nähe?“, fuhr er fort. „Wo sind deine Eltern, deine Freundinnen?“ Andreas legte seinen zweiten Arm um sie, vergeblich auf eine Antwort wartend. Er flüsterte: „Das ist kein Leben für ein Mädchen so schön wie du es bist.“
Aber sie war wahrscheinlich schon eingeschlafen. Gedankenverloren blickte Andreas zu den Sternen. Er versuchte an etwas Normales zu denken, nicht an Armut und Prostitution. Zum Beispiel an die nächste Reiseetappe: Medellin? Oder sollte er direkt nach Panama fliegen und weiter nordwärts, in die USA? Nach diesem Tag hatte er genug vom Stress in Lateinamerika. Etwas Zivilisation, Organisation und Gringokultur, das brauchte er jetzt.
Ein warmer Tropfen Wasser auf seiner Brust, dort wo der Kopf des Mädchens lag, holte Andreas zurück an den Playa Blanca. Er spürte eine Bewegung in Lilys Körper, ein lautlosen Schniefen. Tränen. Das Mädchen weinte, realisierte er.
„¿Lily?“, flüsterte er. „¿Todo bien?“
Keine Antwort. Andreas wusste nicht was tun. Unsicher drückte er Lily an sich, küsste ihr Haar und murmelte: „Ich will dir helfen.“
Mit einem Mal stoppte das Wimmern. „Du willst mir helfen?“, flüsterte sie. Dann lauter: „Du willst mir wirklich helfen?“ Diesmal war die Stimme weder zärtlich noch geschäftlich, sondern einfach nur laut. Sie rammte dem überraschten Andreas einen Ellbogen in die Rippen. „Weisst du eigentlich, was für ein beschissenes Arschloch du bist?“ Ein Glühen in ihren Augen. Sie kniete über ihn.
„Was?“, fragte Andreas verwirrt. Er richtete sich ebenfalls auf. „Ich habe nur gesagt, dass ich dir helfen will. Du weinst schliesslich nicht, weil du so glücklich bist, oder?“
Lily schüttelte den Kopf. „Du hast so was von keine Ahnung. ¡No sabes nada!“, rief sie und wurde immer aufgewühlter. „Du kommst hierher, fickst mich für Scheissgeld und dann redest du über Liebe und all den Dreck als ob mir das irgendwas bringen würde.“ Sie keuchte vor Aufregung. „Du sagst mir, das sei kein Leben für mich! Meinst du ich könne das einfach so ändern, nur weil du’s mir sagst?“
„Ich meinte ... Zum Beispiel könntest du ja nach Cartagena gehen und ...“
„Du bist so ein Arschloch, ein verfluchter Scheisskerl, du bist schlimmer als alle andern! Für dich ist das ein Ferienausflug! Weisst du, was das für mich ist? Das ist mein Leben. Mein beschissenes Leben“
Jetzt wurde sie richtig laut. Sie schrie und weinte zugleich und schlug nach Andreas. Er konnte sie am Handgelenk festhalten, aber das bremste sie keineswegs. „Wieso kannst du mich nicht einfach ficken wie alle anderen und dann abhauen?“ Sie schaffte es, sich los zu reissen. „Einfach abhauen und mich alleine im Dreck lassen!“ Gegen Ende des Satzes ging das Geschrei in Weinen über. Sie stand auf, rannte einige Schritte, schluchzte und fügte hinzu: „Weisst du, was alles ist, was ich habe? Dieses Bikini und es fällt auseinander. Und du mit all deinem Geld und deiner Bildung und deiner Scheisslebenserfahrung glaubst, irgendwas über mich zu verstehen? Fick dich einfach selber, fick dich und komm nie wieder. Ich scheiss auf dein Geld. Tust, als wäre alles so einfach. Du hast keine Ahnung, nicht das geringste Bisschen, von meinem Leben.“
Sie griff in den Sand und warf eine Handvoll nach Andreas. Überfordert starrte er sie an. „Warte“, sagte er, „bleib hier.“ Und weil er nichts anderes wusste, fügte er hinzu: „Ich habe bezahlt.“
„Was willst du noch von mir? Willst du mich vergewaltigen? Mach einfach! Mach schon.“ Sie zerriss das Oberteil ihres Badeanzugs und warf die Fetzen in den Sand. „Mach was du willst mit mir, mir ist alles egal.“
Sie stand da, schluchzte, war halbnackt und verloren am Playa Blanca. Während Andreas sie so sah,
überkam ihn ein Gefühl der Hilflosigkeit, wie er es noch nie gekannt hatte.
„Ich nehme dich mit, weg von hier, ich helfe dir und …“ Aber er wusste, dass sie das nicht wollte, und auch, dass er dazu nicht in der Lage war.
„Wie kann ich dir helfen?“, fragte er schliesslich.
Er hörte ihre zittrige Stimme: „Schau mich nicht mehr an.“
Dann sank Lily in den Sand, suchte die Fetzen ihres Badeanzugs zusammen und begann in die angezogenen Knie hinein zu weinen. Andreas kauerte neben sie. Er sagte nichts mehr. Dafür realisierte er, wie recht das Mädchen hatte: Er wusste nichts über sie.

Der Himmel im Osten verfärbte sich rötlich, als das Mädchen endlich wieder den Kopf anhob, sich die Augen rieb und murmelte: „Tut mir leid.“ Sie deckte die Brüste mit ihren Unterarmen ab. „Ich frage die anderen, ob sie etwas Geld haben. Ich zahle die 50’000 zurück.“
„Vergiss das Geld“, erwiderte Andreas. „Du warst die Nacht bei mir, das zählt.“ Er blickte in die verweinten Augen des Mädchens und erkannte, wie jung und unschuldig sie trotz allem war. Er wollte sie trösten, aber wusste nicht wie.
Sie kämmte sich mit den Fingern das Haar und versuchte die Traurigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Mit leiser Stimme bedankte sie sich bei Andreas für alles und sagte: „Die ersten Fischer fahren bald zum Markt nach Cartagena. Für einige Pesos nehmen sie dich mit.“
Andreas nickte. Er war müde, aber spürte dass die Unruhe in seinem Innersten ihn noch lange wach halten würde. Zumindest brachte die Morgensonne etwas Ordnung in seinen Geist. „Hey“, sagte er zum Mädchen. „Ich habe nicht viel Geld, aber wenn du irgendwas brauchst oder willst, ich kaufe es dir, wirklich.“
Lily blinzelte, geblendet von der Sonne. Ihre Haut glänzte golden. „Ich brauche …“ Aber an der Stelle brach sie bereits ab, überlegte es ich anders und sagte ruhiger: „Kauf mir Kleider, wenn du willst, und etwas zu essen. Schick alles ans Restaurant am Playa Blanca, dann bekomme ich es schon.“
„Das mache ich“, versprach Andreas, froh wenigstens etwas tun zu können. Das Mädchen stand auf, wacklig auf den dürren Beinen. Zum Abschied murmelte sie: „Hoffentlich kannst du bald wieder gut schlafen.“
Andreas liess sie gehen und richtete den Blick übers Meer zur aufgehenden Sonne. Die Nacht war vorbei, seine Haut noch immer weiss, genau wie gestern.

 

Salü Sorontur

Die Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut! Sprachlich und Inhaltlich :-)

Einige Anmerkungen:

Dass ich kein Spanisch kann war ab und zu ein bisschen nervig. Einiges konnte ich erraten, anderes blieb unbekannt.

Ein echtes Dschungelmädchen mit indo-afrikanischem Sklavenblut in den Adern.
Ich weiss, ich bin da etwas heikel, aber lass doch bitte das Sklavenblut weg. Sag doch einfach Blut. Man merkt zwar schon, dass der Typ nichts gutes von Sklaverei (egal in welcher Form) hält, aber das Wort "Sklave" impliziert halt trotzdem eine andere Wahrnehmung einer Person.

„Was schmeckt dir am besten?“, fragte Andreas.
Da glaubte ich einen Moment, dass er den Kuchen kaufen und dann dem Mädchen zurück schenken wolle. Würde noch so zu seiner Art passen finde ich. Stellt sich dann aber später in der Geschichte raus, dass er doch lieber sich selbst den Bauch vollschlägt. Was auch wieder zu seiner Art passt.

Mir gefällt der Konflikt, wie er sich ständig einzureden versucht, dass das Mädchen wirklich Sex von ihm wolle, nicht umgekehrt. Eigentlich weiss er ja, dass das unmöglich so sein kann, und später sieht und hört er es ja mit eigenen Augen und Ohren.

„Na und? Du kennst mich eh nicht. Das ist doch die Idee einer Hure: Ich bin das, was du in mir sehen willst, alles andere ist egal. Dafür zahlst du und ich bin zufrieden, wenn du mir Geld gibst.“
„Okay“, sagte Andreas. „Die Sache ist, ich interessiere mich nicht für Kunstwesen, ich interessiere mich für echte Menschen, für dich, wirklich dich.“
Lily seufzte. „Dafür kannst du nicht bezahlen.“
„Ich weiss.“
Finde ich eine sehr schöne Stelle!! Habe mich einen Moment gefragt, ob das nicht ein bisschen zu weise ist, dafür, dass sie ein junges Mädchen sein soll.
Aber manchmal entwickeln Menschen in aussergewöhnlichen Situationen auch aussergewöhnliche Stärke. Von daher, keine Ahnung, kann schon sein? Auf jeden Fall passt es sehr gut in die Geschichte.

„No, no me gusta leer. Worum geht es?
Heisst "leer" lesen?? Also: nein, ich interessiere mich nicht fürs lesen? so ähnlich?
Ich vermute mal, sie kann gar nicht lesen?!

Auf den Punkt gebracht: Was unterschied ihn von all den Arschlöchern die schutzlose Mädchen für dreckiges Geld ausnutzten? Die Antwort: Dass er sich wirklich Gedanken über das Mädchen machte, dass ihr Wohl ihm wichtig war, ganz ehrlich. Und was war die Konsequenz aus dieser Antwort? Andreas überlegte kurz, aber es war simpel: Dass er sie nicht einfach hier zurück lassen konnte. Er musste sicher stellen, dass es ihr wirklich gut ging. Er durfte es nicht einfach nur annehmen.
Aha, das schlechte Gewissen beruhigen. Aber er schafft es nicht einmal annähernd. Was hat sie denn davon, wenn er noch ne Nacht bei ihr bleibt?

und

Während Andreas sie so sah, dachte er an sein Geld zuhause, die dreitausend Franken die noch auf dem Bankkonto waren, die tausend, die ihm seine Eltern für die Reise schenken wollten, die sechshundert Dollar, die er zum Wechseln in Cartagena hatte. Er brauchte das alles – um heim zu fliegen, die WG in Basel zu bezahlen für das nächste Semester, in der Mensa zu essen und ab und zu ein Bier mit Kollegen zu trinken. Was blieb da für Lily übrig? Er lebte ja nicht mal teuer und hatte trotzdem kaum was vor. Was konnte er tun?
Die Sache war, und das wurde Andreas in diesem Moment klar: Er konnte nichts tun. Er war hilflos.

Damit kommt auch meine einzige inhaltliche Kritik: Warum glaubt er, dass er nichts gegen ihre Situation tun könne??? Natürlich kann man was dagegen tun, auch mit wenig oder sogar gar keinem Geld. (Organisationen/Petitionen etc gibts zur genüge) Nur Dauert es länger bis es Wirkung zeigt, und vielleicht nicht genau bei diesem Mädchen, sondern vielleicht eher generell.

Aaaaber: Mit deiner Geschichte zeigst du natürlich viel mehr die schreckliche Realität auf. Ja, nach dem ganzen Erlebnis, nach der eindrücklichen Offenbarung des Mädchens, - ist er noch immer weiss. Noch immer ist ihm trotz seinem scheinheiligen Getue alles scheissegal, Hauptsache er hat sein ruhiges Leben in Basel. Nicht einmal das scheint er kapiert zu haben. Dass die "Weissen" trotz ihrer Bildung und ihres Geldes vom Leben von 90% der Erdbevölkerung keinen Schimmer haben. Manchmal wünschte ich mir schon, man könnte solche Leute einfach mal schütteln, bis diese klebrige, undurchdringliche, scheinheilige, weisse Weste von ihnen abfällt.

--> wie du siehst ein emotional behaftetes Thema, also meiner Ansicht nach seeehr geeignet in einer KG zur Diskussion zu stellen :-)

Sprachlich/Grammatikalisch ist mir nichts aufgefallen. Bin aber auch nicht gerade die Fachperson darin.

Liebe Grüsse,
Siiba Bulunji

 

Hallo Sorontur,

auch ich habe die Geschichte gern gelesen. Die Kleine, sie hat mir gut gefallen und auch er erschien mir sehr glaubhaft. Obwohl auch ich mich manchmal fragte, ob sie nicht doch schon sehr erwachsen ist, aufgrund so mancher Äußerung. Und vielleicht täte es gut, sie nicht so klug daher kommen zu lassen, sondern an mancher Stelle, ihr doch das naive Kind zu gönnen. Irgendwann glaubte auch ich nicht mehr, es mit einer Fünfzehnjährigen zu tun zu haben.

Vom Stil her empfand ich die Geschichte sehr sauber geschrieben, wenn auch sehr brav. Da gab es keine Stelle, an der ich dachte: hey - genial! Alles plätschert so wunderbar vor sich hin, an manchen Stellen war es mir fast zu viel - zu ausführlich. Aber ich bin auch ein Freund der Dichte und kenne genügend Leser, die dieser Art sehr zugetan sind. Das ist Geschmackssache, keine Frage.

Schön und angemessen fand ich die Beschreibung der Umgebung. Unaufdringlich schiebst Du die Reisekatalogbilder dazwischen. Nicht so plakativ - hier seht nur die Gegensätze, sondern eher subtil, als wenn es eigentlich nicht von Bedeutung ist.

Fazit: für mich könnte die Geschichte ein wenig mehr Tempo haben, weniger - dafür pointierter. Aber mit Interesse gelesen, spannendes Thema und ein toller letzter Satz, wenn auch mit Füllwörtern gefüllt ;).

Die Nacht war vorbei, aber seine Haut war noch immer weiss, genau wie gestern.

Die Nacht war vorbei, seine Haut immer noch weiss, genau wie gestern.

Vielen Dank für die Geschichte.
Beste Grüße Fliege

 

Hallo allerseits

Als erstes muss ich mich entschuldigen für die ewig lange Antwortzeit … Ich habe die (äusserst interessanten und hilfreichen!) Kritiken damals gelesen, mir einiges dazu überlegt – und mich anderen Texten gewidmet. Jetzt fand ich endlich die Zeit, diese Geschichte zu überarbeiten.

Neben einer sprachlichen Generalüberholung (Füllwörter, weniger Spanisch, Kürzungen) habe ich mich im Speziellen den Charakteren gewidmet, allerdings nicht ganz so wie ihr das vorgeschlagen habt … In meiner Vorstellung hat Lily während der Zeit, die sie als Prostituierte arbeitet, sehr intensiv über ihre Situation nachgedacht, trotz ihres Alters. Der Naive in dieser Hinsicht ist Andreas, der sich als Aussenstehender in ihr Leben einmischt. In allen Bereichen die nicht mit Sex und Prostitution zu tun haben ist Lily dagegen tatsächlich ein Mädchen. Diesen Gegensatz versuche ich nun stärker zu betonen.

Es freut mich dass ihr die Geschichte interessant und das Thema spannend und wichtig findet! Mich jedenfalls beschäftigt das Thema sehr, nach allem was ich auf meinen Reisen erlebt und von Freunden erfahren habe.

Grüsse!

 

Hallo Sorontur,

eine muntere Geschichte, gut zu lesen, auch nachvollziehbar und in weiten Teilen sehr nachfühlbar. Besonders treffend dargestellt fand ich dieses Erst-nicht-wollen und dann Doch-Wollen des Protagonisten. Männer funktionieren so einfach! ;-)

Nun ist die Idee 'Freier verknallt sich in Hure' weder neu noch sonderlich originell, wenn nicht besondere Aspekte hinzukommen. An denen mangelt es in der Story aber, statt dessen wird das Klischee des armen, ausgebeuteten, aber selbstbewußten Mädchens bedient. Und natürlich macht sich der junge Mann darüber Gedanken, "was für hässliche Typen diesen Körper schon bearbeitet haben mussten". ***Gähn!*** Gehts noch ausgelutschter? Müssen Freier eigentlich immer alt, häßlich und bierbäuchig sein? Und wäre die Situation moralisch einwandfrei und ehrenhafter, wenn sie jung, hübsch und waschbrettbäuchig daherkämen?

Zum Ende hin wird's dann richtig triefig: "Er blickte in die verweinten Augen des Mädchens und erkannte, wie jung und unschuldig sie trotz allem war." Was man nicht so alles in verweinten Augen erkennt ...

Passend dazu darf dann auch der gutmenschliche Hinweis auf die Hautfarbe nicht fehlen, um ganz doll hintergründig rassistisches Verhalten des Protagonisten / der Weissen anzudeuten.

Ohne den Zeigefinger könnte die Geschichte richtig stark sein!

Viele Grüße vom
gox

 

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