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Weisheiten Oder Das Ende einer Generation
„Die Wahrheit über die Juden ist“, sagte der alte Mann ruhig, während er sich noch einen Whiskey einschenkte, ohne dabei seinem Gegenüber – ein dürrer, nichtsnutziger Bengel von 19 oder 20 Jahren und zu allem Überfluss auch noch sein Enkel – etwas davon anzubieten, „dass sie uns alle überleben werden.“ Er sagte das, ohne sich darüber zu echauffieren. Er stellte es einfach fest, mit dieser ganz bestimmten Mischung aus erhabener Gelassenheit und Resignation, wie sie bei alten Menschen häufig herauszuhören ist.
„Sie sind klein, widerlich und praktisch ohne herausragende Eigenschaft. Sie sind nicht wie wir. Sie sind weder stark noch mutig.
Aber sie können sich anpassen – wir können das nicht. Dafür sind wir viel zu stolz. Juden sind nicht stolz.
Es ist erstaunlich, wie anpassungsfähig man ist, wenn man auch das kleinste bisschen Menschenwürde abgelegt hat. Juden wissen, wann sie den Kopf einziehen müssen. Wie Kakerlaken sind sie. Unscheinbar, klein und schwach, aber die einzigen, die einen Atomkrieg überleben werden.“
Der Junge, der auf dem Sofa saß, welches dem alten Ohrensessel des alten Mannes zugewandt war, bewegte seinen Hintern auf dem Polster unruhig hin und her. Diesen weißen, schlaffen Hintern; den Hintern, für den er gekämpft hatte.
„Sie sind so“, der alte Mann hielt einen Moment mit leicht geöffnetem Mund inne, als suchte er nach dem passenden Wort und spuckte es dann förmlich heraus, als er es gefunden hatte, „widerlich. Geradezu ekelerregend. Nicht ihre langen Nasen, ihre unrasierten Haare in den Nasen und den Ohren, nicht ihre bucklige, kriecherische und heuchlerische Haltung ist es, die mich so anwidert. Es ist dieser fehlende Stolz, diese Bereitschaft alles, wirklich alles zu tun, um zu überleben. Juden kennen kein Gemeinschaftsgefühl, nicht einmal zueinander. Sie würden für ein paar Pfennig ihren eigenen Großvater verraten. Man kann das in ihren Augen sehen.“ Dabei tippte er sich mit seinen von Arthritis gezeichneten Fingern immer wieder an die Augen. „Voller Niedertracht sind sie, diese Augen. Mit tiefen Augenringen und Krähenfüßen umrandet, während in den Pupillen ein Feuer der Verschlagenheit brennt.“
Während er dem bleichen Bengel die grundlegenden Dinge, die es zu verstehen galt, erklärte, nippte er immer wieder von seinem schottischen Whiskey und bleckte daraufhin die Zähne.
„Verstehst du das?“, fragte er ihn mit einer Spur von Schärfe in der Stimme, auch wenn er beinahe wusste, dass es zwecklos war, den Jungen so etwas zu fragen. Er verstand es ohnehin nicht. Ganz gleich, wie oft er es ihm auch noch erklären würde. Die jungen Leute verstanden immer weniger von dem, wofür er und seine Altersgenossen damals gekämpft hatten. Dabei ging es nicht nur um Deutschland, es ging um die Welt. Es ging um die Bedrohung, die die Juden damals auf den Frieden der Welt ausübten und noch immer taten.
Der blasse Bengel nickte zaghaft. Aber in seinen Augen blitzte keinerlei Verstehen auf. Ein Wunder, wenn er ihm überhaupt zuhörte und nicht gerade an tausend Dinge dachte, die er jetzt gerade lieber tun würde als seinen Großvater zu besuchen.
„Der Deutsche dagegen ist im Allgemeinen zäh, stark und diszipliniert. Er ist hart gegenüber anderen und hart gegenüber sich selbst“, fuhr der alte Mann fort, auch wenn er nur zu genau wusste, dass dieser Weichling von einem Enkel all diese ehrenvollen Attribute nicht verkörperte. Und das obwohl er durch und durch ein Deutscher war. Was für eine Schande für die Familie und sein Vaterland.
„Wenn das tierische Gegenstück des Juden die Kakerlake ist, so ist der deutsche Vertreter im Tierreich der Jack Russel Terrier. Sicherlich ist er nicht der Größte, dafür jedoch äußerst widerstandsfähig, zäh, hartnäckig und ohne zu zögern bereit, sich für seine Gemeinschaft zu opfern.“
Mit wachen Augen musterte er den Jungen, ehe ihn ein rauer Husten schüttelte und den Kopf ein wenig senken ließ.
Wieder sah er, immer noch mit leicht gesenktem Kopf, zu dem Jungen auf, der gerade verstohlen auf seine Armbanduhr glotzte, wohl in dem Glauben, unbeobachtet zu sein.
Mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln griff sich der alte Mann seine Pfeife und die Tabakdose und begann behutsam damit, seine Pfeife zu stopfen.
„Was viele nicht wissen und die meisten nicht wahrhaben wollen, ist, dass der Krieg unvermeidlich war. Ich spreche hier nicht von dem ganzen Mist über die Krise der Weimarer Republik und die Repressalien des Versailler Vertrages, ich rede vom Judenproblem.“
Der alte Mann steckte sich die Pfeife in den Mund.
„Hitler war sicher nicht der erste Mensch, der dieses Problem erkannte“, presste er mit der Pfeife zwischen den Zähnen hervor, ehe er sie wieder aus dem Mund nahm, um ungestört fortfahren zu können, „aber doch sicherlich der erste, der den Mut aufbrachte, etwas dagegen zu unternehmen.“
Mit langsamen, wohl bedachten Zügen entzündete er die Pfeife und stieß den Rauch in kleinen, dichten Wölkchen heraus.
„Und damit meine ich, ernsthaft etwas dagegen unternommen.
Den Juden zu verbieten, ein Gewerbe auszuüben…Da lache ich mich doch tot. Als ob so etwas ausreichen könnte. Die finden immer einen Weg.“
Eine besonders dicke Rauchwolke hing wie ein Vorhang einen Moment in der Luft und verdeckte seine Sicht auf den Jungen. Ob er auch diese Gelegenheit nutzen würde, um abermals auf die Uhr zu sehen? Warum konnte ihn nicht mal ein anderer der Enkel besuchen? Warum musste es immer diese Halbeportion sein?
Dieser kleine Scheißer hatte doch keine Ahnung. Als er selbst noch in diesem Alter war, war er bereits in den Krieg gezogen. Was wusste dieser Bengel, der in seinem ganzen Leben noch nichts Anständiges gearbeitet hat, vom Leben? Vom Sterben? Vom Töten?
„Es gab nur einen Weg. Und wir Deutsche haben die Pflicht übernommen, uns dieses Problems anzunehmen. Irgendeiner musste es schließlich tun.
Das will heute keiner mehr wahrhaben“, er fuchtelte nun wild mit der Pfeife in der Luft herum, um seine Worte zu bekräftigen, „aber wenn Hitler damals nichts unternommen hätte, wäre heute keiner von uns hier. Und niemand dankt es einem.“
Die eben noch brodelnde Wut war einer grauen, drückenden Resignation gewichen. Der Resignation eines in die Jahre gekommenen und vom Leben gezeichneten Mannes. Verständnislos sahen ihn die strahlendblauen Augen des Jungen an – zweifellos das Deutscheste an ihm.
Der Rauch, der nach oben stieg und sich gemächlich an der Zimmerdecke sammelte, war für einige Augenblicke das einzige, das zwischen den beiden stand. Dann setzte der alte Mann erneut an, wie ein Stein, der einen Abhang hinunterrollte – immer mehr Fahrt aufnehmend.
Das war nun schon der dritte Whiskey, den sich der alte Sack einschenkte. Dabei war er noch nicht einmal eine halbe Stunde hier. Ein unauffälliger Blick auf seine Armbanduhr bestätigte dies. Es war nicht einmal halb vier. Der Junge unterdrückte mit viel Mühe einen entnervten Seufzer. Da saß er nun schon wieder, gefangen in einen Monolog über die Verdorbenheit der Juden. Und es schien für ihn kein Entkommen zu geben. Eineinhalb Stunden musste er mindestens bleiben. Auch wenn er nicht sicher war, ob der Alte überhaupt noch ein Empfinden für Zeit hatte, so würden doch seine Eltern bemerken, wenn er nach einer knappen Stunde schon wieder zuhause wäre.
Aber die wussten ja nicht, wie es hier war. Jede Woche hier zu sitzen und immer wieder die gleichen Geschichten zu hören. Über die Juden und die Deutschen und all das. Und dabei die ganzen Macken des Alten zu ertragen. Besonders dieses ekelerregende Geräusch, das der Alte immer beim Sprechen von sich gab; als hätte er eine große Menge Schleim im Hals, die er immer wieder hervorwürgte und herunterschluckte. Das war eigentlich das Schlimmste.
Der Alte tippte sich mehrfach an sein Auge. Was hatte er gerade gesagt? Bestimmt wieder etwas über die Schlechtigkeit der Juden, welche man ihnen von den Augen ablesen konnte.
„Verstehst du das?“, bellte ihn der Alte plötzlich an. Fast wäre der Junge zusammengezuckt, so unvermittelt traf ihn diese Aggressivität. Der Junge verstand einfach nicht, wieso der Alte ihm ein jedes Mal aufs Neue diese Frage stellte. Er streute sie permanent in seine immer gleichen Erzählungen ein, wie ein Chefkoch eine Prise Salz. Der Junge begriff auch nicht, was es an den Geschichten des Alten nicht zu verstehen gab. Der antisemitische Scheiß war doch extra dafür konzipiert, dass ihn selbst die einfältigsten Menschen verinnerlichen konnten – wie zum Beispiel dieser alte Sack. Doch müde von den eintönigen Erzählungen nickte der Junge matt.
Die Aufzählung der deutschen Eigenschaften und Tugenden hatte der Alte wohl eins zu eins von Adolf Hitler übernommen. Bemerkenswert, wie lange so etwas im menschlichen Gedächtnis verhaften konnte, selbst wenn es nur so ein verkümmertes wie das des Alten war.
Ohne Zweifel, der tierische Vertreter des Deutschen ist der Jack Russel Terrier. Wenn sein Herrchen „Fass!“ brüllt, denkt er nicht, er handelt. Blinder gehorsam und immer auf die Gunst seines Herrchens bedacht.
Als der Alte von einem Husten gepackt wurde, nutzte er die Chance, um einen zweiten kurzen Blick auf seine Uhr zu werfen. Verging die Zeit denn hier überhaupt nicht?
Nur mit Mühe konnte er ein gespielt überraschtes und verächtliches Schnaufen unterdrücken, als er sah, dass sich der Alte jetzt auch noch seine Pfeife stopfte. Der Junge empfand ein seltsames Gefühl der Ungerechtigkeit bei dem Anblick seines Whiskey trinkenden und rauchenden Großvaters. Wieso lebte dieser alte antisemitische Sack noch, während seine Großmutter – eine ebenso herzliche wie kugelrunde Frau – schon seit fast fünf Jahren tot war?
Einmal mehr stellte er sich die ernsthafte Frage, wieso er diesen alten Giftsack eigentlich noch besuchte. Seine Cousins und Cousinen taten es schließlich auch schon längst nicht mehr. Machte er es gerade deshalb? Aus Mitleid?
Beim Anblick des dicken und unermesslich alten Rauchers, der sich gerade einen großen, dunkelgelben Klumpen Ohrenschmalz aus seinem Ohr puhlte, befielen ihn diesbezüglich allerdings starke Zweifel. Angewidert sah er mit an, wie sich der Alte den Klumpen Ohrenschmalz auch noch einige Augenblicke vor seine Augen hielt, als betrachtete er einen Goldnugget, und ihn daraufhin an der Lehne seines Sessels abwischte.
Der Geruch des Tabaks, der ihm zaghaft in die Nase stieg, überdeckte zumindest für den ersten Moment den Gestank des Hauses. In dem alten, baufälligen Gebäude roch es für gewöhnlich fürchterlich. Es roch nach Moder, getrocknetem Schweiß, altem Rauch und jahrelang geschlossenen Fenstern. Kurz es stank nach alten Menschen.
Während der Alte von der beinahe göttlichen Mission der Deutschen, die Welt von der Sklaverei der Juden zu befreien, berichtete, erholte sich sein Geruchssinn vom ersten Schock des Tabakaromas.
„…Die finden immer einen Weg.“ Der Alte machte eine unerwartete kleine Pause. Sollte er diese Gelegenheit nutzen? Der Junge überlegte nicht lange, sondern sagte sofort: „Also, es ist schon so spät und ich muss ja morgen wieder zur Uni…“ Eigentlich hatte er vorgehabt, noch ein wenig weiterzureden und zu erklären, dass er noch viel zu tun hatte, aber der Alte unterbrach ihn einfach barsch, indem er aussprach, was der Junge schon hundertmal gehört hatte. „Und wir Deutschen haben die Pflicht übernommen.“
Der Gestank war mittlerweile unerträglich, während der Rauch allmählich das Zimmer vernebelte. Wie ein hartnäckiger Schnupfen kroch er seine Nase herauf. Der Rauch selbst hatte, im Gegensatz zum Duft des Tabaks, nichts Angenehmes. Er widerte ihn an. Alles hier. Der Junge hatte nur noch einen Gedanken: Raus hier!
„Was glaubst du denn, was die Juden vorhatten?! Denkst du, die wollten eine Überraschungsfeier für uns veranstalten?! Nein! Die wollten uns versklaven. Das wollen sie noch immer. Das ist eine Macht, diese Juden.“ Der Junge konnte sehen, wie der Kopf des Alten eine ungesunde, rote Farbe annahm und immer dunkler wurde.
„Und natürlich musste Hitler daran scheitern, sie zu vernichten. Mussten wir scheitern. Dafür sind die Juden viel zu mächtig. Die lassen das gar nicht zu.
Darum haben wir auch den Krieg verloren. Weil die Juden nicht wollten, dass wir gewinnen.“ Milliarden kleiner Spucketröpfchen flogen dem alten Sack aus seinem weit aufgerissenen und wutverzerrten Maul, als er anfing zu schreien.
„Aber ich bin froh, ich bin heilfroh, dass wir es trotzdem versucht haben! Weil wir uns das nicht mehr länger gefallen lassen durften. Hilflos mussten wir mitansehen, wie diese Juden immer mächtiger wurden. Wie sie erst das Kaiserreich stürzten und dann die Weimarer Republik.
Hätten wir uns das länger gefallen lassen dürfen?!“
Der Alte schrie mittlerweile aus vollem Hals. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Die Hauptschlagader an seinem Hals trat deutlich hervor. Auch an seiner Schläfe waren nun die dicken, blauen Linien unübersehbar.
„Und mit welchen niederträchtigen Waffen sie kämpften. Dieses Pack. Anstatt uns im gerechten Kampf auf einem Schlachtfeld gegenüberzutreten, manipulieren sie alles von hinten heraus; die beiden Kriege. Diese hinterlistigen Arschlöcher, lassen Millionen ihrer eigenen Landsleute sterben, um die moralischen Sieger zu sein und am Ende zu siegen. Diese Brudermörder. Weißt du, wer all diese Juden umgebracht hat? Weißt du das?! Habt ihr das in der Schule gelernt? Hat man euch das beigebracht? Sicher nicht! Dort heißt es nur, Hitler und die Deutschen. Diese verlogenen Arschlöcher an den Schulen haben wohl vergessen, wer ihre Väter und Großväter sind.
Aber ich sage dir, wer all die Juden in den KZs umgebracht hat.
Es waren die Juden selbst.
Das war doch ihr Plan.
Wie dieser Nigger. Dieser Gandhi. Gewaltloser Widerstand. Ha!“
Im ersten Moment hielt der Junge das für einen empörten Aufschrei. Aber das war es nicht. Spätestens als der Alte seine kraftlose Hand in seine Brust krallte und seine Augen vor Schreck und Schmerz weit aufriss, begriff der Junge.
Der Alte rutschte von seinem Sessel nach vorne auf die Knie.
Erschrocken sprang der Junge auf, blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als sich der Kehle des Alten ein ersticktes Keuchen entrang. Mit hilflosen Augen sah er durch den fast undurchsichtig gewordenen Schleier zu seinem Enkel empor. Bittend, flehend.
Panisch tastete die alte, knöcherne Hand nach einem Halt. Der Sessellehne, dem Kaffeetisch oder irgendetwas anderem. Immer wieder griff sie ins Leere.
Ihrer Kräfte vollends beraubt versuchten die Lippen des Alten irgendwelche Silben zu formen. Zwecklos.
Dann brach er zusammen und krachte auf den Boden wie ein mit Zement gefüllter alter Sack.
Einige Augenblicke lang sah der Junge noch regungs- und teilnahmslos auf den zuckenden Haufen Fleisch zu seinen Füßen herab. Dann griff er seine Jacke, die über der Sofalehne hing, und stieg bedächtig über seinen sterbenden Großvater hinweg und verließ erleichtert das Haus.