Weihnachtszauber
Der Klang unzähliger Glocken erfüllte die schneidend kalte Luft, die Straßen waren hell erleuchtet von tausend Kerzen, die hinter den Fenstern brannten. Am heiligen Abend war die Stadt still und verlassen; nur eine einsame Gestalt wanderte durch die Gassen. Er hatte niemanden mehr, mit dem er Weihnachten feiern konnte. Den Glauben an Gott hatte er schon vor langer Zeit verloren.
Hinter den Fenstern sah er Weihnachtsbäume, liebevoll geschmückt, rot, golden, blau und silbern leuchten. Hörte das Lachen der Kinder, die die Geschenke des Christkinds öffneten. An diesen schönen Traum konnte er sich aus seiner Kinderzeit erinnern, doch er war verblasst, unwirklich. „Träume sind Schäume, es lohnt sich nicht, ihnen nachzuhängen“...und doch träumte er.
Schnee bedeckte die Wege und Häuser, weiße Weihnacht; von Kindern gebaute Schneemänner säumten seinen Weg, kleine Schneemänner, große Schneemänner, Schneehasen, Schneebären, liebevoll gekleidete und geschmückte Kinderträume. Vor langer Zeit hatte auch er Schneemänner gebaut, mit seinen Freunden. Doch das war lange vorbei, es erschien ihm fast wie ein Traum, ein schöner Traum, der aber nie wirklich gewesen war.
Die Sterne leuchteten am einem schwarzen Himmel, wie kleine Lichter, die den Weg weisen, Milliarden von Kerzen, die die Dunkelheit erleuchten. Hatte nicht einst ein Stern jemandem den Weg gewiesen? Er erinnerte sich vage an ein Märchen, das eine solche Geschichte erzählte. Könnte ihm nicht auch ein Stern den richtigen Weg zeigen? Angestrengt sah er hinauf zu dem schwarzen Himmel, den Milliarden von Sternen, suchte nach einem besonders hellen Licht. Doch er konnte keins entdecken. Einsam und verlassen stand er in der kalten Stadt und wieder einmal wurde ihm bewusst, dass Träume sinnlos waren. Wut und Traurigkeit wallten in ihm auf.
Plötzlich stieß er gegen etwas und landete im kalten Schnee. Ein Schneemann war unter ihm zerbrochen, ein Kindertraum. Verwirrt blickte er auf, in die Augen eines alten Mannes, die vergnügt auf ihn herablächelten.
„Sie haben wohl mit ihren Gedanken in den Sternen gehangen, was?“, fragte dieser.
Er richtete sich auf und klopfte sich den Schnee vom Mantel.
„Nein, ich habe nur gerade in eine andere Richtung geschaut. Entschuldigung.“, antwortete er.
„Etwa die vielen schönen Schneemänner betrachtet?“
„Nein, ich mag Schneemänner nicht besonders.“
„Aha, dann haben sie sicher durch die Fenster geschaut und die schönen rot, golden, blau und silbern leuchtenden Weihnachtsbäume bewundert.“
„Ich mag auch keine Weihnachtsbäume. Ich mag keine Weihnachtsgeschenke, ich mag das Christkind nicht und ich mag das Läuten der Glocken nicht.“
Der Alte ging ihm langsam auf die Nerven, er wollte ihn so schnell wie möglich wieder loswerden.
„Es scheint, als würden sie Weihnachten nicht besonders mögen.“, sagte dieser nun.
„Nein, ich mag Weihnachten nicht. Ich verabscheue es.“
„Oh. Das ist aber schade. Aber warum mögen sie Weihnachten nicht?“
„Ich mag Weihnachten nicht, weil...“
Moment mal, der Alte war doch tatsächlich drauf und dran, ihn in ein Gespräch zu verwickeln!
„Das geht sie überhaupt nichts an! Ich werde jetzt gehen.“
„Nicht so hastig. Sie haben doch nichts vor, richtig?“
„Nein.“ „Trotzdem gehst du mir auf die Nerven, was willst du eigentlich von mir?“, dachte er sich.
„Nun, dann können wir doch auch ein Stück gemeinsam gehen. Machen sie einem alten Mann eine Freude und leisten ihm Gesellschaft?“
„Gut, von mir aus.“ „Verdammt, jetzt hat er mich doch ausgetrickst! Na gut, eine Weile werd’ ich ihn wohl ertragen.“
So gingen sie gemeinsam weiter, schweigend, bis der Alte wieder das Wort ergriff.
„Warum mögen sie Weihnachten nicht?“
„Ich habe ihnen bereits gesagt, dass sie das nichts angeht.“
„Aber über irgendwas müssen wir doch sprechen, sonst sinkt die Stimmung auf den Nullpunkt. Also sprechen wir doch über ihre Abneigung gegen Weihnachten.“
Wieder lächelte der Alte vergnügt zu ihm hinüber.
„Welche Stimmung? Es ist kalt, seit Stunden bimmeln überall diese verdammten Glocken, in jedem Fenster sieht man diese kitschigen roten, goldenen, blauen und silbernen Tannen, sieht Kinder die Geschenke von einem Christkind, das es gar nicht gibt, auspacken und zu allem Überfluss ist es noch nicht einmal richtig dunkel, weil der ganze Himmel heute Nacht voller Sterne ist! Das ist doch unerträglich!“
„Was ist falsch am Glockengeläut?“, fragte der Alte unvermittelt.
„Es nervt mich.“
„Warum?“
„Weil...ach, ist doch egal.“
„Was ist falsch an rot, golden, blau und silbern geschmückten Weihnachtsbäumen?“
„Sie sind kitschig.“
„Sind sie wirklich nur kitschig?“
Auf diese Frage antwortete er erst gar nicht.
„Was ist falsch am Schnee? Was ist falsch an Schneemännern?“
„Schnee ist mir zu kalt und Schneemänner sind Kinderkram.“
„Was ist falsch an dem Traum vom Christkind?“
„Es ist ein Traum, eine Lüge!“
„Aber ist es nicht schön zu träumen?“
„Es ist sinnlos.“
„Und was ist falsch an den Sternen?“
„Auch sie sind nutzlos.“
Etwas in der Miene des Alten veränderte sich. Er wirkte nicht mehr vergnügt, sondern war plötzlich zornig geworden.
„Sagen sie das nicht, dazu haben sie kein Recht!“, sagte er finster.
„Und warum nicht?“
Jetzt wurde es ihm langsam zu bunt. Erst bestand der Kerl darauf, mit ihm am heiligen Abend spazieren zu gehen und stellte ihm dumme Fragen und nun glaubte er auch noch, ihm Vorschriften machen zu können.
„Weil sie keine Ahnung davon haben!“, antwortete der Alte. „Ich werde ihnen jetzt mal was sagen: Sie verabscheuen Weihnachten, weil sie es nicht verstanden haben!“
„Das geht sie überhaupt nichts an!“ Nun brüllte er.
„Ich möchte ihnen eine Geschichte erzählen.“, sagte der Alte ruhig.
„Aber ich möchte sie nicht hören.“
„Doch, das wollen sie.“
„Nein.“
„Sie werden sie hören müssen, ob sie wollen oder nicht.“
„Der Kerl macht mich wahnsinnig. Verdammter alter Spinner, ich will deine Geschichte nicht hören, sie interessiert mich nicht.“
„Oh doch, sie interessiert sie.“ Nun grinste der Alte wieder schelmisch.
„Habe ich das laut gesagt? Woher weiß der Typ, was in meinem Kopf vorgeht?“
Das Grinsen des Alten wurde breiter und wuchs schließlich zu einem Lachen an.
„Werden sie mir nun zuhören?“
Die Sache war ihm nicht mehr geheuer. Was war das für ein komischer alter Kerl?
„Na gut.“
„Sehr schön.“ Der alte Mann schien zufrieden. „Wissen sie, was Sterne sind?“
„Planeten, die irgendwo im Weltraum herumschwirren?“
„Falsch!“, lachte der Alte. „Sterne sind Träume!“
„Der Kerl ist wahnsinnig.“
„Nein, das bin ich nicht!“, der Alte grinste. „Jeder Stern an diesem großen weiten Himmel ist der Traum eines Menschen. Manche leuchten heller als andere, manche sind nur sehr klein, aber alle sind Träume. Für alle Träume, die jemals von jemandem geträumt wurden, hat Gott am Himmel einen Stern entzündet.“
„Gott ist ein Märchen.“
„Ist er das? Woher wissen sie das so genau?“
„Ich weiß es, weil...“ Er wusste es nicht.
„Sehen sie, sie wissen es eben doch nicht!“ Der alte Mann lächelte glücklich. „Also, für jeden Traum hat Gott am Himmel einen Stern entzündet, so wie die Menschen eine Kerze entzünden.
Vor langer Zeit hatten nun viele Menschen denselben Traum. Sie träumten von einer besseren Welt.“
„Träume sind Schäume“, zitierte er.
„Auch das wissen sie nicht.“, konterte der Alte.
„Natürlich weiß ich das, denn Träume sind noch nie in Erfüllung gegangen!“
„Sind sie sicher?“
Nein, er war sich plötzlich nicht mehr sicher.
„Wie gesagt, den Traum von einer besseren Welt träumten damals viele Menschen. Darum entzündete Gott einen besonders großen, hellen Stern. Er war größer und heller als alle anderen Sterne am Himmel und er erhellte die ganze schwarze Nacht. Wissen sie, welcher Stern das war?“
Etwas in seinem Kopf begann fieberhaft zu arbeiten, er erinnerte sich, Kerzenschein, Glockenläuten, helle Kinderstimmen, die Weihnachtslieder sangen und über allem die Stimme seiner Großmutter, die ihnen die Weihnachtsgeschichte erzählte...
„Der Stern von Bethlehem!“, rief er aus.
„Genau, dieser Traum war der Stern von Bethlehem. Und weil so viele Menschen diesen Traum träumten, beschloss Gott, ihn wahr werden zu lassen.“
„Wenn ein Mensch träumt, bleibt es ein Traum, wenn viele Menschen träumen, kann es Wirklichkeit werden.“ Er erinnerte sich an den Ausspruch seines Großvaters.
„Richtig.“, antwortete der Alte. „Und Gott beschloss, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren Traum wahr werden zu lassen. Und er sandte seinen Sohn Jesus Christus auf die Erde und wies den Menschen mit dem Licht ihres eigenen Traumes den Weg. Doch nicht viele sahen auf zu den Sternen und folgten ihrem Traum. Und die wenigen, die es taten, waren machtlos gegen die Masse derer, die Jesus nicht als ihren wahr gewordenen Traum erkannten.“
Das Gesicht des alten Mannes zeigte nun Traurigkeit.
„Und so erlosch der Stern von Bethlehem und mit ihm die Möglichkeit, den Traum von einer besseren Welt zu erfüllen.“
Tränen rannen über seine Wangen.
„Doch noch heute träumen die Menschen den Traum von einer besseren Welt. Und so läuten sie jedes Jahr ihre Glocken, schmücken Weihnachtsbäume rot, golden, blau und silbern, machen sich Geschenke, so wie Gott ihnen einst ein Geschenk machte, und erzählen ihren Kindern von dem Christuskind, dem schönsten Traum den die Menschheit je geträumt hat. So feiern sie die Chance, die Gott ihnen damals gab. Und sie entzünden Milliarden von Kerzen, kleine Sterne in der Dunkelheit dieser Welt, die ihre Träume ausdrücken sollen.
Weihnachten ist das Fest, das alle Menschen durch den einen Traum, den sie alle träumen, vereint.“
In den Augen des Alten lag nun Hoffnung.
„Sie müssen an den Traum von Weihnachten glauben!“, bat er.
„Denn je mehr Menschen diesen Traum träumen, desto größer wird der Weihnachtsstern werden. Und vielleicht wird der Weihnachtstraum dann doch noch wahr.“
„Genau!“, bestätigte der Alte freudig. „Soll ich ihnen einmal den Stern von Weihnachten zeigen?“
„Ja, bitte.“
Und der alte Mann zeigte auf einen kleinen Stern, einen wahrhaft winzigen Stern, der trotz seiner Winzigkeit strahlte wie hundert andere Sterne.
„Das“, sagte er, „ist der Stern von Weihnachten.“
„Aber er ist so klein!“
„Ja, er ist sehr klein. Aber es gab eine Zeit, in der es ihn überhaupt nicht gab.“
Es entsetzte ihn, dass der Stern von Weihnachten so klein war. Das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Doch dieser kleine Stern weckte in ihm auch den Wunsch, den Stern wachsen zu lassen.
„Lassen sie ihn wachsen. Läuten sie eine Glocke, schmücken sie einen Tannenbaum rot, golden, blau oder silbern und schenken sie den Weihnachtstraum auch anderen Menschen.“
Und er beschloss, den Stern wachsen zu lassen, damit der Traum eines Tages doch noch erfüllt werden könnte.
Als er sich nach dem alten Mann, der zurückgeblieben war, umdrehte, war die Straße leer. Er stand ganz alleine vor einem zerstörten Schneemann. Offensichtlich war jemand über ihn gestolpert.
„Die armen Kinder, sie haben sich so viel Mühe gegeben.“Und dann bückte er sich und begann, den Schneemann Stück für Stück wieder aufzubauen...