Weihnachtstraum
Der Dezember hatte ziemlich trostlos angefangen. Das Wetter war grau und nass. Jegliche Wintergemütlichkeit blieb bisher aus. Kein Schnee, keine klirrende Kälte... Selbst Kerzenschein und Plätzchenduft vermochten keine Gemütlichkeit, keine Weihnachtsstimmung hervorzurufen.
Noemi versuchte die düstere Stimmung zu vertreiben, indem sie sich mit einem guten Buch vor das flackernde Kaminfeuer setzte. Währenddessen zerrte draußen der Wind an den Fensterläden. Immer wieder wandten sich ihre Gedanken jedoch von dem Buch ab. Die richtige Konzentration wollte sich nicht einstellen. Bald ertappte sie sich dabei, wie sie nur noch in die Flammen sah und sich von dessen Lichtspiel faszinieren ließ.
Erst die Türklingel riss sie von diesem Anblick los. Wer mochte nur um diese Zeit noch unterwegs sein? Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es langsam auf Mitternacht zuging. Zumindest nachsehen, wer es war, wollte sie. Die Türe musste sie ja nicht unbedingt öffnen.
Beim Blick aus dem Flurfenster runzelte Noemi verwirrt die Stirn. Vor ihrer Türe standen drei lustig anzusehende Männer, in Kleidung wie aus einem Märchen.
*Na, zumindest sehen sie lustig und ziemlich harmlos aus,* dachte sie bei sich. *Ich werde doch die Türe öffnen. Vielleicht brauchen sie Hilfe.*
Gedacht, getan. Noemi öffnete die Haustüre und stand den drei lustigen Gesellen gegenüber.
“Hallo,“ sprach der Kleinste der Drei sie sogleich an. “Du bist Noemi, richtig?“
Noemi sah ihn erstaunt an. “Das ist richtig. Wieso?“
“Wir brauchen deine Hilfe.“
*Also doch. Dann hatte ich also recht,* dachte Noemi im Stillen. Laut sagte sie jedoch: “Tatsächlich? Und wobei?“
“Komm einfach mit. Du wirst schon sehen.“
“Ich kann doch nicht einfach mit wildfremden Leuten mitkommen. Wer weiß, was ihr mit mir vorhabt. Wer seit ihr überhaupt?“
“Wir sind Tonttus, dien Weihnachtswichtel.“
“Weihnachtswichtel? Von euch habe ich noch nie gehört.“
“Wir sind aus Finnland und helfen dem Joulupukki, damit das Weihnachtsfest jedes Jahr aufs Neue ein Erfolg wird.“
“Moment! Wer ist der Joulupukki? Und woher wollt ihr sein? Aus Finnland? Das ist doch wohl ein Scherz, oder?“
“Nein, das ist kein Scherz. Der Joulupukki ist der Weihnachtsmann. Und er braucht deine Hilfe. Deswegen sind wir hier. Wir sollen dich zu ihm hinbringen. Ins Weihnachtsdorf, direkt am Polarkreis bei Rovaniemi.“
“Nein, das glaube ich euch nicht. Wer hat euch geschickt um mich reinzulegen?“
“Es ist wirklich so. Zieh dir bitte etwas Warmes an. Am Polarkreis ist es um diese Jahreszeit ziemlich kalt. Und beeile dich bitte, wir sollen in zwei Stunden wieder mit dir zurück sein.“
*Das ist ein Traum. Das muss einfach ein Traum sein,* dachte Noemi bei sich. *Ich mache die Haustüre einfach wieder zu und gehe zu Bett. Es ist schon ziemlich spät.*
Sie drehte sich um. Ging ins Haus zurück und schloss die Türe hinter sich. Keine fünf Minuten später lag sie im Bett und schlief ein.
Ein leichtes Ruckeln ließ sie aus ihrem Schlaf aufschrecken. Als sie die Augen öffnete, sah sie über sich die Sterne im schnellen Flug vorüberziehen. Beim Atmen bildeten sich kleine Wolken. Es war kalt, sehr kalt... Verwirrt sah Noemi sich um. Sie saß in einem Schlitten, zusammen mit den drei Tonttus. Und vor dem Schlitten waren einige Rentiere gespannt. Vorsichtig sah sie über den Schlittenrand nach unten. Wie sie es fast schon erwartet hatte, flog der Schlitten durch die Luft. Weit unter sich sah sie eine verschneite Landschaft vorüberziehen, welche im Sternenlicht glitzerte.
In diesem Moment begann der Schlitten seinen Sinkflug. Einer der Tonttus drehte sich zu Noemi um und sagte: “Oh gut, du bist wach. Wir sind jetzt fast da. Dort unten,“ er zeigte auf einen hell erleuchteten Fleck, der immer näher kam, “das ist Napapiiri, das Weihnachtsdorf. Das ist unser Ziel.“
Kurz danach waren sie auch schon gelandet und die Tonttus führten Noemi in eines der Häuser. Irgendwie war es ungewöhnlich still. An einem Ort, an dem es um diese Jahreszeit eigentlich hektisch zugehen sollt, konnte es nicht so ruhig sein. Es war fast so, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben.
In dem Haus wartete eine riesige Menge Tonttus, ähnlich gekleidet wie die Drei in Noemis Begleitung. Und alle sahen sie Noemi an, als diese durch die Türe kam. Die Menge teilte sich und öffnete eine Gasse, die nach vorne, zu einer weiteren Türe, führte. Durch diese Türe führte sie der Tonttu, der bisher mit ihr gesprochen hatte.
“Bitte, setz dich,“ bat er Noemi. “Und entschuldige, dass wir dich auf diese Art hierher gebracht haben. Uns blieb jedoch keine andere Wahl.“
“Ich verstehe gar nichts,“ sagte Noemi. “Was wollt ihr von mir?“
“Das Weihnachtsfest ist in Gefahr. Der Joulupukki ist krank. Seine Kräfte schwinden, da niemand mehr an die wahre Bedeutung des Weihnachtsfestes glaubt. Alle wollen nur noch Geschenke und sind dem Konsum verfallen. Du bist die einzige Hoffnung, die ihm geblieben ist. Wir können in die Herzen der Menschen sehen. Und dein Herz hat uns gezeigt, dass bei dir noch ein winziger Funke vorhanden ist, der die wahre Bedeutung des Weihnachtsfestes in sich bewahrt hat.“
“Ich glaube nicht an den Weihnachtsmann oder an euren Joulupukki. Das ist etwas für Kinder.“
“Das wissen wir. Aber das ist auch nicht so wichtig. Der Joulupukki ist nur das sichtbare Zeichen für die Bedeutung des Weihnachtsfestes. Damit die Kinder besser den Sinn verstehen können. Aber wenn niemand mehr unter den Erwachsenen da ist, der diesen Sinn erkennt, wird der Joulupukki vergehen. Und die Kinder werden dieses Symbols beraubt werden. Bitte, hilf uns dabei, dieses zu verhindern!“
“Ich verstehe immer noch nicht...“
“Dann werde ich dich herumführen und dir unser Weihnachtsdorf zeigen. Vielleicht verstehst du dann.“
Und schon begann die Führung. Der Tonttu, welcher sich als Erno Meripihka vorstellte, erzählte ihr währenddessen von den finnischen Weihnachtsbräuchen, welche auch die Tonttus in ihrem Weihnachtsdorf begingen.
“Weihnachten ist für die Menschen in Finnland ein besonderes Fest, da dieses den Wendepunkt des Jahres markiert. Die Tage werden wieder länger und das Licht siegt über die Finsternis.
Bereits im Herbst wird mit den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest begonnen. Besonders die Frauenorganisationen bereiten die Weihnachtsbasare vor und basteln Weihnachtsdekorationen. Diese Treffen geraten mit ihrer weihnachtlichen Stimmung, der Musik und den angebotenen Speisen zu kleinen Weihnachtsfeiern, liebevoll *Pikkujoulu* genannt.
Am ersten Adventssonntag wird die Festzeit offiziell eingeläutet. Es finden Adventskonzerte statt und die Weihnachtslichter werden aufgehangen. Die Tage bis Weihnachten werden mit Adventskerzen gezählt. An jedem Adventssonntag wird eine weitere Kerze aufgestellt und entzündet. Dieser Brauch wurde aus Deutschland übernommen.
Der erste Advent ist auch das Zeichen für die Geschäftsleute die Innenstädte weihnachtlich zu schmücken und zu beleuchten. In Pietarsaari verwandelt sich jedes Jahr zur Weihnachtszeit die Straße Storgatan in eine Weihnachtsallee.
Der 06. Dezember wird in Finnland nicht als Nikolausfest gefeiert. Er ist der Unabhängigkeitstag der Finnen.
In den schwedischsprachigen Teilen Finnlands wird am 13.Dezember der Lucia-Tag begangen. Die Königin des Lichts wird aus zehn Mädchen gewählt. Diese Wahl ist mit einer Wohltätigkeitsauktion für die Gesundheitsfürsorge verbunden.
Am letzten Adventssonntag wird der Weihnachtsbaum ausgesucht, welcher am Heiligen Abend aufgestellt und geschmückt wird. Besonders gerne werden Landesflaggen, als Symbol für die Völkerfreundschaft, in die Bäume gehängt.
Zu einem finnischen Weihnachtsfest gehört natürlich der Saunagang. Am Heiligen Abend kann man von fast jedem Saunahäuschen Rauch aufsteigen sehen.
Der Heilige Abend selbst wird mit der gesamten Familie verbracht. Bereits erwachsene Kinder verbringen die Feiertage gemeinsam mit ihren Eltern.
Pünktlich um 12 Uhr mittags wird in Turku, der alten finnischen Hauptstadt, der Weihnachtsfrieden verkündet, dem die meisten Finnen lauschen, egal ob per Radio oder Fernseher. Diese Zeremonie ist für die Finnen von größter Bedeutung und hat sogar rechtliche Gültigkeit. In dieser Zeit begangene Verbrechen werden deutlich härter bestraft.
Bei Einbruch der Dunkelheit begeben sich die Familien zu einem Gottesdienst auf den Friedhof. Auf die Gräber der verstorbene Angehörigen werden Kerzen gebracht und entzündet. Die unzähligen Kerzen, welche im Schnee schimmern, bieten einen unvergesslichen Anblick.
Mit der Rückkehr ins gemütliche Heim wird die Bescherung eingeläutet. Traditionell werden meist selbst gefertigte Gaben verschenkt. In den letzten Jahren kamen jedoch gekaufte Präsente in Mode. Teilweise ist jedoch wieder ein Trend zurück zum Ursprung zu erkennen.
Nun folgt das traditionelle Weihnachtsmahl mit Fisch, Aufläufen, Milchreis, Weihnachtsbrot und dem Weihnachtsglögg.
Der erste Weihnachtstag bildet einen Antiklimax zu der vorhergehenden Hektik. Er wird ruhig mit der ganzen Familie und den Freunden verbracht. Niemand ist an diesem Tag allein. Die meisten Finnen besuchen den Weihnachtsgottesdienst oder verfolgen ihn am Fernseher.
Der 26. Dezember ist der Tag des Heiligen Stephan oder auch Tapaninpäivä. Dieser Tag wird mit Schlittenfahrten, fröhlichen Partys zu Hause mit Freunden oder dem *Tapani*-Tanz in Restaurants gefeiert. “
Noemi lauschte der Erzählung Ernos still und freute sich über die Ähnlichkeiten und besonders die Unterschiede, welche sie zwischen den finnischen und den deutschen Weihnachtstraditionen entdeckte. Während des Gesprächs besuchten sie die Werkstätten der Tonttus, die Rentierställe und auch das Büro des Weihnachtsmannes. Doch der Joulupukki selbst war nirgends zu sehen.
“Wo ist denn der Joulupukki?“ fragte sie schließlich Erno.
“Ihm geht es inzwischen so schlecht, dass er sein Haus am Korvatunturi, dem *Ohrenberg*, nicht mehr verlassen kann. Die Hoffnung verlässt ihn und dadurch wird er geschwächt.“
Mitleid regte sich in Noemi. Sie hatte schon viele Menschen gesehen, die an ihrer Hoffnungslosigkeit gestorben waren. Sicher konnte dies auch dem Joulupukki zustoßen. So ein Dahinscheiden war immer schlimm. Irgendetwas musste sie doch tun können.
“Möchtest du ihn sehen? Ich kann dich zu ihm bringen.“
“Ja, bitte...“
Schnell brachte der Rentierschlitten sie nach Korvatunturi. Die Weihnachtsfrau öffnete die Türe und bat sie ins Haus. Man sah ihr an, dass sie viel geweint hatte.
Noemi sah den Joulupukki an, der mit geschlossenen Augen in seinem Bett lag 7und sich nicht rührte. Es war ein trauriger Anblick. Lange hielt sie es nicht bei ihm aus. Sie gesellte sich wieder zu Erno und der Weihnachtsfrau, welche sich leise miteinander unterhielten.
“Bring mich bitte wieder nach Hause,“ bat Noemi. “Mich macht dies alles so traurig. Ich kann gar nicht richtig nachdenken.“
“Sicher. Ich bringe dich so schnell zurück, wie ich dich hierher gebracht habe.“
Am nächsten Morgen wachte Noemi in ihrem Bett auf und fragte sich, ob sie das Ganze nur geträumt hatte. Ein Blick auf ihren Kalender verriet ihr jedoch, dass ihr ein ganzer Tag fehlte. Auf dem Wohnzimmertisch stand eine kleine Blechdose mit einem Zettel drauf.
Terve Noemi!
Die Weihnachtsfrau hat mir Gebäck für dich mitgegeben, Zimtsterne und Pfefferkuchen. Lass sie dir schmecken und erinnere dich immer an deinen Ausflug an den Polarkreis.
Erno
*Es war doch kein Traum,* dachte sich Noemi. *Ich muss dort gewesen sein. Ich kenne sonst keinen Erno.*
Noemi rief ihre Freunde an und lud sie für ein Adventskaffeetrinken ein. Am Nachmittag, als diese sich eingefunden hatten, erzählte Noemi ihnen von ihrem *Traum* und berichtete von den finnischen Weihnachtstraditionen. Auch ihren Freunden fielen verschiedene Traditionen anderer Länder ein. Sie diskutierten rege die wahre Bedeutung des Weihnachtsfestes und stellten bald fest, dass ihnen die alten Traditionen besser gefielen als der Konsumdrang der im Allgemeinen herrschte. Gemeinsam beschlossen sie, die schönsten Traditionen aufleben zu lassen und sich zu Weihnachten keine gekauften Geschenke zu überreichen.
Nun verging der Dezember fast wie im Fluge. Weihnachten kam immer näher. Endlich stellte sich bei Noemi auch Weihnachtsstimmung ein. Sie buk Plätzchen, bastelte an Weihnachtsschmuck und Geschenken, schrieb Briefe und lud ihre Familie und Freunde zu einer großen Weihnachtsfeier bei sich ein. Alle sagten zu und versprachen jeweils etwas Besonderes mitzubringen.
Das große Weihnachtsfest wurde sehr schön. Es gab verschiedene traditionelle Weihnachtsspeisen, Lieder wurden gesungen, niemand fühlte sich allein. In allen Herzen brannte das Feuer der Freude und Liebe.
Am ersten Weihnachtstag wurde Noemi durchein leises Glockenklingeln wach. Sie ging hinunter ins Wohnzimmer und sah noch durch das Fenster, wie der Joulupukki auf seinem Rentierschlitten Richtung Norden verschwand. Auf ihrem Wohnzimmertisch lag ein Briefumschlag, welchen sie sogleich öffnete.
Terve Noemi!
Danke für deine Hilfe. Die Hoffnung ist Dank dir und deinen Freunden wieder in mein Herz zurückgekehrt.
Ich freue mich sehr, dass ihr euch wieder auf die alten Weihnachtstraditionen besonnen habt und die verschiedenen Länder und ihre Sitten in eure Feier einbezogen habt.
Sei dir gewiss, ich werde immer an dich denken. Halte die alten Traditionen weiterhin wach!
Näkemiin ja tavataan taas,
Joulupukki
Noemi freute sich schon jetzt auf das nächste Weihnachtsfest.
Loppu
Frohe Weihnachten! Hyvää joulua!
Merry Christmas! Kala Christouyenna!
Feliz Navidad! Natale hilare!
Joyeux Noel! Meri Kirihimete!
Glaedelig Jul! Gajan Kristnaskon!