Was ist neu

Weihnachtstränen

Seniors
Beitritt
22.03.2005
Beiträge
1.284
Zuletzt bearbeitet:

Weihnachtstränen

Gleich ist Bescherung. Wie jedes Jahr werden wir uns zusammensetzen, so tun, als würden wir uns vertragen, dann die Weihnachtslieder singen, dann erst die Geschenke auspacken und uns über die Leckereien hermachen. Immer dasselbe Ritual.
Warum können wir nicht einfach den CD-Player aufstellen, Weihnachtslieder von Britney Spears hören und nebenbei Geschenke überreichen, so wie andere Leute auch? Warum geben wir nicht zu, dass es einzig und allein um den Konsum geht und das Ritual der Gewohnheit? Warum müssen wir eine Bedeutung vorheucheln, die gar nicht mehr existiert?

Letztes Jahr war es besonders schlimm. Wir schlugen die Gesangbücher auf und gaben die Lieder zum Besten, die wir in der Adventszeit einstudiert hatten.
Alle bemühten sich. Niemand sollte die Harmonie an Weihnachten stören. Niemand wollte sie stören, weder meine Eltern noch mein Bruder noch meine Schwester. Alle wussten, es gab zu selten die Möglichkeit, zusammenzukommen und nicht im Streit auseinander zu gehen. Sich gemeinsam auf eine Sache zu konzentrieren. Wenigstens einmal im Jahr.
Und als wir dann anhoben, „Stille Nacht“ zu singen und unsere Stimmen zu einem Chor verschmolzen, war es wieder da, das Gefühl.
Es war, als würde plötzlich eine Tür aufgehen zu einer Wirklichkeit, die wir schon lange nicht mehr kannten. Eine, die von Trost und Hoffnung erzählte; von einer Wahrheit, die nur das Herz erfassen konnte; so intensiv, wie nur Inbrunst und Hingabe sie hatten erschaffen können.
Es war eine Wirklichkeit, die einen Menschen aufrecht hielt, wenn er in Not geriet, die ihm Geborgenheit gab, wenn er nicht wusste, was ihm die Zukunft bringen würde.
Und von der wir alle wussten, dass sie nur eine Projektion war, ein Konstrukt, das wir schon lange wegerklärt hatten.
Wie hätten die Menschen damals reagiert, wenn man ihnen bewiesen hätte, dass es die Welt, an die sie glaubten, nicht gab? Wären sie innerlich zerbrochen? Hätten sie in ihrer Verzweiflung ihre Dörfer und Felder niedergebrannt?
Die ins Leere laufende Sehnsucht drohte über mir zusammenzuschlagen, und ich schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Ich hielt das Gesangbuch dicht vor meine Nase. Der Text war nur noch verschwommen zu erkennen.

Gleich ist es wieder so weit. Die Eltern lächeln und meiden den Blickkontakt. Die Geschwister fläzen sich mürrisch auf das Sofa und werfen den Geschenken unter dem Baum abschätzige Blicke zu.
„Alle bereit?“ Mutter lächelt noch einmal in die Runde und schlägt ihr Gesangbuch auf. „‚Stille Nacht’, so wie letztes Jahr?“ Wortlos blättern wir zur entsprechenden Seite.
Unsere Stimmen verschmelzen zu einem Chor und singen von einer Welt, die keiner mehr kennt; von einem Trost, der niemandem mehr zuteil wird; mit einem Schatten der Inbrunst, die früher die Herzen der Menschen erfüllte, wenn sie diese Lieder erklingen ließen.
Ich halte mein Buch dicht vor der Nase, um die Tränen zu verbergen.

 

So, hier mal nachträglich eine Weihnachtsgeschichte von mir. In der entsprechenden Rubrik würde sie wohl keiner mehr bemerken, deshalb bleibt sie hier. Basta. :D

Je härter ihr mich verprügelt, desto eher glaub' ich euch ... :shy:

 

Hallo Megabjörnie,

Megabjörnie schrieb:
Warum können wir nicht einfach den CD-Player aufstellen, Weihnachtslieder von Britney Spears hören und nebenbei Geschenke überreichen, so wie andere Leute auch?
Darum:
Megabjörnie schrieb:
Unsere Stimmen verschmelzen zu einem Chor und singen von einer Welt, die keiner mehr kennt; von einem Trost, der niemandem mehr zuteil wird; mit einem Schatten der Inbrunst, die früher die Herzen der Menschen erfüllte, wenn sie diese Lieder erklingen ließen.
Der Trost ist in der Welt, auch wenn wir ihn wegreden oder wegschenken wollen, wenn wir ihn ersticken unter Britney Spears.

Schöner Text, der einmal auf eine andere Art Nachdenklichkeit erzeugt, da er das Gute immer wieder negativieren will.

Und ob die Geschichte hier bleibt, werde ich erstmal mit meinen Kollegen beraten. Nix Basta :D

Lieben Gruß, sim

 

Hi MB,

Weihnachtslieder von Britney Spears? Gibt es sowas? *schauder*

Mir gefällt die Geschichte sehr gut. Dein Protagonist redet sich ein, dass es das Gefühl, das er empfindet, gar nicht geben kann. Kann man Empfindungen rational wegerklären? Möglich. Will man das, zumal, wenn es positiv sind? Vielleicht auch das.

Ein weiterer interessanter Blick auf das Weihnachtsfest.

Kleinigkeit:

Wortlos blättern wir nach der entsprechenden Seite.
Klingt irgendwie nach "Jetz fahren wir nach Aldi". Vielleicht "Wortlos blättern wir (und/,) suchen die (entsprechende) Seite"?

Viele Grüße,
Naut

 

Hi sim und Naut!

Ich bin froh und erleichtert, dass die Geschichte bei euch Anklang findet. Ich dachte schon, sie wäre zu handlungsarm oder würde die Problematik nicht ausführlich genug beleuchten oder wäre zu viel "Tell".
Aber da nichts von all dem der Fall ist, kann ich ja aufatmen *puh*.

Eure Interpretation gefällt mir und ist auch nah an meiner Intention. Mein Grundgedanke war die verlorengegangene Spiritualität: Wie kann man Weihnachtslieder noch mit Inbrunst singen, wenn man selbst nicht mehr glaubt? Wirkt es nicht ein wenig hohl?
Und daraus entstand dann diese kleine Geschichte. Irgendwie wollte sie mal erzählt werden. ;)

@sim:

Und ob die Geschichte hier bleibt, werde ich erstmal mit meinen Kollegen beraten. Nix Basta

Bittööööö ... :schiel: Hier sind doch noch andere Geschichten mit Weihnachtsthematik. Weiß gar nicht, was du hast.

@Naut:

Hm, stimmt, an dieser einen Stelle hab ich selbst ein Weilchen gekaut. Muss mir was Besseres überlegen.

Ciao, Megabjörnie

 

Hallo Megabjörnie,

warum hab ich letztes Jahr eigentlich nichts in der Weihnachsrubrik gelesen? Wahrscheinlich, weil ich dachte, dass in allen von Weihnachtsmännern die Rede ist. *g* Und deine war ja zum entsprechenden Zeitpunkt noch gar nicht da.
Eine schöne Geschichte, finde ich. Leise, ohne viel Handlung und trotzdem sehr aussagekräftig. Es hat mich nicht einmal gestört, dass es eine Weihnachtsgeschichte war - vielmehr fand ich sie Allgemeingültig.

Weiter so!

LG
Bella

 

Hi Nachtschatten&Bella!

Hach, noch mehr positive Resonanz! Ich fühle mich sofort viel besser.

Und du hast die Tränen des Prots gut versteckt, indem du geschrieben hast, dass die Schrift nurnoch verwischt zu erkennen war.

Die Technik der indirekten Beschreibung. Ich benenne nicht den Hergang, sondern zeige seine Wirkung aus der Innenperspektive der Figur. Ein wichtiger Kniff! :klug:

Was die Allgemeingültigkeit angeht, so gebe ich euch zu 50% Recht. ;)
Weihnachten wird bei uns mit viel höherem Aufwand gefeiert als alle anderen spirituellen Feste. Diejenigen, denen der religiöse Gehalt etwas bedeutet, feiern es auch mit größerer Inbrunst als zum Beispiel Ostern, obwohl dieses doch wegen der Auferstehungsthematik viel wichtiger ist.
Gefühle, wie sie der Prot hat, können sich an Weihnachten einfach viel besser verdichten. Er hätte sie natürlich auch, wenn er zufällig in einen Gottesdienst hineingeraten würde, aber da kann er weglaufen, während das hier nicht möglich ist. ;)
Ansonsten ist dies natürlich eine allgemeine Thematik. Mir ging es um das Verlorengehen der Religion. Wir haben nun eine viel rationalere, aufgeklärtere und vor allem offenere Gesellschaft, als wir sie hätten, wenn wir alle immer noch fromme Kirchgänger und fleißige Beter wären. Um das zu belegen, muss man sich nur die Gruppen ansehen, für die Religion obenan steht: Die religiösen Rechten in den USA, die Islamisten, die immer den Eindruck vermitteln, sich in der modernen Welt mit all ihren relativen Wahrheiten nicht zurechtzufinden und verbissen, fast panisch um sich zu schlagen. Und die Gemäßigten scheinen alle viel konservativer zu sein als der areligiöse Rest der Gesellschaft.
Niemand von uns bereut die Loslösung von solch "überkommenen" Werten; nur manchmal, wenn wir Zeuge eines spirituellen Rituals werden, beschleicht uns das ungute Gefühl, dafür einen Preis zu zahlen. Selbst wenn es, wie in dieser Geschichte, nicht mehr mit der Kraft des Glaubens gespeist wird, hat es noch genügend Kraft, um Wehmut auszulösen.

Ich habe die Geschichte vor dem Hintergrund der wachsenden Rolle von Religion in der Gesellschaft geschrieben, und mit der Frage im Hinterkopf, wie wir mit unserer aufgeklärt-liberalen Gesinnung, die alles und jedes in Zweifel zieht, dagegen anstinken können.

Okay, das war jetzt ein wenig weit ausgeholt. :D

Jedenfalls danke für euer Feedback. Es gibt mir das Gefühl, dass meine Geschichten langsam besser werden. ;)

Ciao, Megabjörnie

 

Megabjörnie schrieb:
Die Technik der indirekten Beschreibung. Ich benenne nicht den Hergang, sondern zeige seine Wirkung aus der Innenperspektive der Figur. Ein wichtiger Kniff! :klug:
Das ist es übrigens, was mit "Show don't tell" gemeint ist (und nicht der Schwachsinn, den hier im Board manche über erzählende Passagen verbreiten). :klug::klug:

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Megabjörnie,

zunächst einmal: Ich habe Deine Geschichte gerne gelesen! Der Titel hatte es mir angetan - irgendwie finde ich ihn poetisch ... :)

Es gefällt mir, wie Du mich als Leserin zunächst auf eine falsche Fährte gelockt hast, ich erwartete nämlich, dass Du eine Art Albtraum-Familien-Weihnachten mit Streit und Tränen (der Wut und Enttäuschung vielleicht) schildern würdest. Die Wendung, die Deine Geschichte dann nahm hat mich angenehm überrascht und berührt; sicherlich weil ich etwas Ähnliches wie Dein Prot immer wieder selber erlebe ... :D.

Jetzt noch ein wenig Textkram:

Textmeckerei entfernt. Meine Anregungen wurden aufgenommen! :)

Es war, als würde plötzlich eine Tür aufgehen zu einer Wirklichkeit, die wir schon lange nicht mehr kannten.
Fand ich richtig schön!

Textmeckerei entfernt. Meine Anregungen wurden aufgenommen! :)

Das Ende ist sehr schön und berührend!

Lieben Gruß
al-dente

 

Hi al-dente!

Yeah, noch eine Rückmeldung. So langsam lässt es sich an. Und ich dachte schon, mein klugscheißerischer Philosophiepost würde die Kritiker abschrecken. :D

Tut übrigens gut, zu wissen, dass man mit solchen Empfindungen nicht allein ist *schnüff*. :crying:

Die falsche Fährte war gar nicht mal beabsichtigt. Dachte, es würde irgendwie passen ... Manchmal erzielt man eben unverhoffte Nebeneffekte. Oder hat mein Unterbewusstsein in seiner unendlichen Weisheit alles geplant? Dann wäre ich ein Supergenie! :idee:

Deine Anmerkungen sind sehr hilfreich. Ich wusste doch, dass da irgendwas stört, ich konnte nur beim besten Willen nicht erkennen, was ...
Danke jedenfalls. :)

@Naut: Ja, und man kann es auch auf deutsch ausdrücken: "Nicht beschreiben, sichtbar machen". :klug: :klug: :klug:
Ich seh schon, wir sind ein gutes Team. :D

Ciao, Megabjörnie

 

Hey megabjörnie,

gefällt mir jetzt noch besser - Dein Text. :)

Ich hab' das Gemecker in meinen obigen posting entfernt! :D

Gruß
al-dente

 

Na ja, es wäre eigentlich für den zukünftigen Kritiker nicht von Nachteil, wenn er wüsste, in welcher Weise sich der Text verbessert hat. ;)
Sofort wieder hinschreiben, los! :D

Hey, mein 800. Beitrag! Juhuuuuuuuuuuuh! :bounce: :bounce: :bounce:

 

Auch wenn das jetzt total OFF-TOPIC ist: Wieder Hinschreiben geht nicht mehr, ich speichere doch nicht mein gesamtes Gemecker!!!! :D

 

Dann mach es aus dem Gedächtnis. Das ist ein Befehl!!!
Sonst zwinge ich dich, alle Geschichten von mat zu lesen. :baddevil:

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom