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Weihnachtstränen
Gleich ist Bescherung. Wie jedes Jahr werden wir uns zusammensetzen, so tun, als würden wir uns vertragen, dann die Weihnachtslieder singen, dann erst die Geschenke auspacken und uns über die Leckereien hermachen. Immer dasselbe Ritual.
Warum können wir nicht einfach den CD-Player aufstellen, Weihnachtslieder von Britney Spears hören und nebenbei Geschenke überreichen, so wie andere Leute auch? Warum geben wir nicht zu, dass es einzig und allein um den Konsum geht und das Ritual der Gewohnheit? Warum müssen wir eine Bedeutung vorheucheln, die gar nicht mehr existiert?
Letztes Jahr war es besonders schlimm. Wir schlugen die Gesangbücher auf und gaben die Lieder zum Besten, die wir in der Adventszeit einstudiert hatten.
Alle bemühten sich. Niemand sollte die Harmonie an Weihnachten stören. Niemand wollte sie stören, weder meine Eltern noch mein Bruder noch meine Schwester. Alle wussten, es gab zu selten die Möglichkeit, zusammenzukommen und nicht im Streit auseinander zu gehen. Sich gemeinsam auf eine Sache zu konzentrieren. Wenigstens einmal im Jahr.
Und als wir dann anhoben, „Stille Nacht“ zu singen und unsere Stimmen zu einem Chor verschmolzen, war es wieder da, das Gefühl.
Es war, als würde plötzlich eine Tür aufgehen zu einer Wirklichkeit, die wir schon lange nicht mehr kannten. Eine, die von Trost und Hoffnung erzählte; von einer Wahrheit, die nur das Herz erfassen konnte; so intensiv, wie nur Inbrunst und Hingabe sie hatten erschaffen können.
Es war eine Wirklichkeit, die einen Menschen aufrecht hielt, wenn er in Not geriet, die ihm Geborgenheit gab, wenn er nicht wusste, was ihm die Zukunft bringen würde.
Und von der wir alle wussten, dass sie nur eine Projektion war, ein Konstrukt, das wir schon lange wegerklärt hatten.
Wie hätten die Menschen damals reagiert, wenn man ihnen bewiesen hätte, dass es die Welt, an die sie glaubten, nicht gab? Wären sie innerlich zerbrochen? Hätten sie in ihrer Verzweiflung ihre Dörfer und Felder niedergebrannt?
Die ins Leere laufende Sehnsucht drohte über mir zusammenzuschlagen, und ich schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Ich hielt das Gesangbuch dicht vor meine Nase. Der Text war nur noch verschwommen zu erkennen.
Gleich ist es wieder so weit. Die Eltern lächeln und meiden den Blickkontakt. Die Geschwister fläzen sich mürrisch auf das Sofa und werfen den Geschenken unter dem Baum abschätzige Blicke zu.
„Alle bereit?“ Mutter lächelt noch einmal in die Runde und schlägt ihr Gesangbuch auf. „‚Stille Nacht’, so wie letztes Jahr?“ Wortlos blättern wir zur entsprechenden Seite.
Unsere Stimmen verschmelzen zu einem Chor und singen von einer Welt, die keiner mehr kennt; von einem Trost, der niemandem mehr zuteil wird; mit einem Schatten der Inbrunst, die früher die Herzen der Menschen erfüllte, wenn sie diese Lieder erklingen ließen.
Ich halte mein Buch dicht vor der Nase, um die Tränen zu verbergen.