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Weihnachten im Land von Tausendundeinenacht
Weihnachten im Land von Tausendundeine Nacht
Es ist Freitag Nachmittag. Das große Freitagsgebet am Mittag in der Moschee ist schon lange vorbei. Schläfrig liegt das Dorf Darau am Ufer des Nils in der Hitze. Heute findet kein Kamelmarkt statt. Fast alle Kinder und sogar einige Erwachsene des kleinen Ortes haben sich, wie jeden Freitag, im Hof des alten Sayed Gamal versammelt. Sie sitzen auf geflochtenen Matten aus Palmenblättern um einen halbverfallenen Brunnen, im Schatten von drei hohen Dattelpalmen.
Durch das alte eiserne Hoftor, das schon seit vielen Jahren unbeweglich schief in den Angeln hängt und dessen hellgrüne Farbe an vielen Stellen abgeblättert ist, weht ein sanfter warmer Wind. Die Palmenwedel rascheln leise. Es hört sich an wie ein Summen aus der nahen Wüste. Die langen Schatten des nahen Abends lassen die Blätter der Palmen im Takt des Windes auf dem staubigen Zementboden des Hofes tanzen.
Sayed Gamal hat wie immer auf dem Brunnenrand Platz genommen. So können ihn alle sehen und gut verstehen, wenn er die Zuhörer mit seinen zauberhaften Geschichten in eine andere fremde Welt entführt. Meist erhöht er die Aufmerksamkeit seiner Bewunderer, indem er die Stimme vertrauensvoll senkt, um dann in der spannungsgeladenen Atmosphäre mit donnerndem Gepolter den unerwarteten Höhepunkt zu setzen. Niemals wiederholt oder ähnelt sich eine seiner Geschichten, denn sie leben und spielen allesamt im Land von Tausendundeine Nacht.
Heute erzählt Sayed Gamal eine Geschichte von einem kleinen Mädchen, das sich in der Wüste verlaufen hat. Seine Zuhörer hängen förmlich an seinen Lippen.
Nur die kleine Leila, die schon oft den Geschichten von Sayed Gamal zugehört hat, ist diesmal nicht bei der Sache. Ihre Gedanken wandern in ein fernes Land. Sie hat von einem Jungen der Kamelkarawane gehört, es gäbe ein Land, in dem die Menschen genauso helle Haare haben wie die Farbe des Mondes, wenn er nachts die weite Wüste erleuchtet. Außerdem würde sich dieses Land am Ende des Jahres über Nacht in eine weiße kalte Winterlandschaft verwandeln. In den Wintermonaten bestünden die Lieblingsspiele der Kinder darin, mit dem Schlitten über den Schnee zu gleiten und auf zugefrorenen Seen mit Schlittschuhen große Kreise zu ziehen. Sie könnten sogar dicke Männer aus Schnee bauen! Außerdem bekämen in jener Zeit alle Kinder kleine Geschenke von einem alten Mann, den sie den heiligen Nikolaus nennen. Aber jedes Kind hätte noch mehr Wünsche, die dann Ende des Monats Dezember von einem kleinen Baby erfüllt würden.
Leila fragt sich nun, ob es dort wohl auch Sandstürme gibt, die das ganze Land plötzlich in ein rötliches Licht tauchen und jeden Grashalm unter dem Wüstensand ersticken lassen? Mit diesem feinen scharfen Sand, der so schrecklich weh tut, wenn er direkt ins Gesicht peitscht. Zu gerne hätte Leila jetzt gewußt, ob es dieses Land in der Ferne überhaupt gibt und wie so ein Schlitten und Schlittschuhe oder gar ein Schneemann aussehen.
Sayed Gamal hat die besondere Gabe sofort zu erkennen, wenn seine Zuhörer unaufmerksam sind und seiner Geschichte nicht mehr folgen. Ihm ist daher nicht entgangen, dass Leila, die wie immer ganz vorne in der ersten Reihe sitzt, mit ihren Gedanken ganz woanders ist. Er kann sogar ihre Gedanken lesen! Blitzschnell erfaßt er ihre Träumerei. Mit einem sonderbaren Unterton in seiner warmen tiefen Stimme und den Blick fest auf Leila gerichtet, erzählt er seine Geschichte weiter.
„ .......und das Mädchen Leila nimmt die Einladung des Zauberteppichs zögernd und ängstlich an. Unsicher setzt sie sich in die Mitte des Kelims, den ein dunkelrotes Muster ziert. Der Teppich sagt zu Leila: Nur Mut, wir fliegen jetzt zu den Bergen, die so hoch sind, dass die weißen Bergspitzen fast den Himmel berühren. Im weißen Winterwunderland gleiten wir dann wie auf einem Schlitten durch den weichen Pulverschnee, vorbei an verschneiten Tannen, bis ganz hinab ins Tal zu einem zugefrorenen See."
Sofort ist Leila‘s Aufmerksamkeit wieder ganz bei Sayed Gamal, und ihre großen dunkelbraunen Augen heften sich auf seine vollen Lippen mit dem schmalen weißen Oberlippenbart. Sayed Gamal nimmt Leila mit seinen Augen, die sich in den buschigen silbrigen Augenbrauen zu verstecken scheinen, gefangen und entführt sie in ein weitentferntes fremdes Land. Er fährt mit seiner Geschichte fort:
„......und eine vorbeihuschende Windböe wirbelt Leila eiskalte Schneekristalle so heftig ins Gesicht, dass es schmerzt, so wie bei einem Sandsturm in der Wüste. Unten im Tal geht die Reise weiter bis zum Ufer eines zugefrorenen Sees. Hier hält der Teppich an und fordert Leila auf, abzusteigen und sich umzusehen."
Der Zauber des Geschichtenerzählers hat gewirkt. Leila ist nun in der fremden Welt angekommen und taucht ein in eine andere Kultur. Sie steht am Seeufer und spürt den kalten Schnee unter ihren nackten Füssen, der durch ihre Körperwärme leicht zu schmelzen beginnt. Das Eis auf der Oberfläche des Sees ist viele Zentimeter dick und hart wie Beton. Viele Kinder vergnügen sich mit sonderbaren Schuhen auf dem Eis, die eine Eisenschiene unter der Sohle haben. Damit können sie ganz schnell auf dem geforenen Wasser hin und her gleiten. Andere rodeln mit einem Schlitten einen nahen verschneiten Berghang hinunter. Sie jauchzen vor Freude, wenn sie eine Kurve fahren und der Schnee hinter ihnen hoch aufwirbelt. "Aha", stellt Leila fest, "ein Schlitten ist also ein Wagen ohne Räder."
Einige Kinder haben sich um einen bunt geschmückten Tannenbaum versammelt. An seinen mit Schnee bedeckten Zweigen hängen viele silbrig glänzende Kugeln und rotbackige Äpfel. Dazwischen entdeckt Leila auch kleine aus Holz geschnitzte Engelfiguren mit goldenen Haaren und langen weißen Kleidern. Diese Engel interessieren Leila ganz besonders, denn sie scheinen alle zu musizieren. Einige spielen auf einer Flöte, andere haben eine Posaune oder eine Harfe in den Händen. Wieder andere singen aus einem Liederbuch. Leila´s Herz schlägt schneller.
Unter der Tanne befindet sich eine windschiefe Hütte aus Strohmatten mit einer Krippe. Darin liegt ein kleines Kind. "Seltsam", denkt sie, "diese Hütte sieht genauso aus wie die vielen Unterstände auf den Feldern unseres Dorfes, wo Menschen und Tiere gleichermaßen Schutz vor der brennenden Sonne finden."
"Wer ist dieses Baby?" fragt Leila eines der Mädchen, das gerade seinen Wunschzettel neben die Krippe legt. „Bist du aber dumm! Das ist doch das Christkind, das alle Wünsche erfüllen kann,“ antwortet das Mädchen. Geringschätzig sieht das Mädchen mit den langen, blonden Zöpfen Leila an, die so anders aussieht mit ihren schwarzen zersausten Locken, dem bunten Sommerkleid, ohne Strümpfe und Schuhe. "Und warum erfüllt das Kind alle Wünsche?" fragt Leila mutig weiter. „Weil Weihnachten ist und das Christkind Geburtstag hat," erklärt das Mädchen.
Als Leila wieder zu ihrem Teppich geht und darauf Platz nimmt, schaut ihr das Mädchen mit großen erstaunten Augen hinterher. Elegant schwebt der Kelim Richtung Dorfmitte weiter. Alle Häuser sind von Schnee bedeckt und aus ihren Kaminen steigt dunkler Rauch in die eisige Winterluft. "Der Rauch riecht hier genauso wie bei uns in Ägypten, wenn Mama auf dem offenen Feuer kocht," stellt Leila zufrieden fest. In einem Vorgarten entdeckt sie sogar einen großen Schneemann. Er hat eine lange Möhrennase. Seine Augen und der Mund bestehen aus kleinen Kohlenstückchen. Am Hals wärmt ihn ein langer Schal, und auf dem Kopf trägt er einen alten Hut.
Leila ist glücklich, denn sie weiß nun, was Weihnachten ist. Es ist dasselbe Fest, dass jedes Jahr im neunten Monat des Mondes zu Hause in Ägypten gefeiert wird. Nämlich dann, wenn die Fastenzeit, also die Zeit des Ramadan, vorüber ist. In der letzten Nacht warten alle darauf, dass der Morgenstern am frühen Morgenhimmel aufleuchtet. Dann ist endlich Aid al-Fitr, das Fest, zu dem alle Kinder Geschenke erhalten.
Jetzt erhebt sich Sayed Gamal vom Brunnenrand und rückt seinen weißen Turban zurecht. "Genug für heute," sagt er lächelnd in die Runde und schlüpft in seine ausgetretenen Pantoffeln. Leila ist fasziniert von der Geschichte, die Sayed Gamal diesmal erzählt hat. "Schade," denkt sie, "dass sie schon zu Ende ist."
Jetzt stehen alle Zuhörer auf, rollen ihre Matten zusammen und verlassen den Hof. Nur Leila bleibt noch sitzen. Mittlerweile ist die Sonne untergegangen. Der silberne Mond hat seinen Platz am Himmel eingenommen. Leila hat ihre Beine angewinkelt und ihr dünnes Kleid eng um die Knie gezogen. Sie fröstelt und drückt ihre nackten Füße fest auf den sonnengewärmten Betonboden. Das kleine Christkind, das so liebevoll lächelt, geht ihr nicht aus dem Kopf. "Gibt es außer Allah, dem Allmächtigen, noch jemanden, der Herr über die gesamte Welt ist?", fragt sich Leila verunsichert.
Der Geschichtenerzähler, der Leila's Gedanken lesen kann, geht auf sie zu und streichelt liebevoll über ihren Kopf. "Allah ist groß und mächtig," sagt er zu ihr. "Vergiss alles andere. Das war doch nur ein Märchen und hat überhaupt nichts zu bedeuten." Leila nickt stumm und schaut auf den Boden. Sie nimmt Sayed Gamal’s Hand, der sie noch bis zum Tor begleitet. Dort verabschieden sich beide, und Leila macht sich auf den Heimweg.
Doch als Sayed Gamal in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen ist, zieht Leila vorsichtig einen kleinen aus Holz geschnitzten Engel aus der Tasche ihres Kleides und lächelt zufrieden.