Mitglied
- Beitritt
- 23.01.2018
- Beiträge
- 4
Weihnachten - fremd und alleine
Weihnachten – fremd und alleine
Er stand am Küchenfenster und sah hinaus in die graue Welt. Die Häuser waren grau, die Straße natürlich auch und ebenso der Himmel. Grau und nass. Es war wieder viel zu warm für diesen Tag, den er mit täglich wachsendem Unbehagen auf sich zu kommen sah. Nun war er da, und er „feierte“
ihn seit ewigen Jahren wieder alleine. Seit ewigen Jahren? Wenn er genau nachdachte, war er heute zum ersten Mal an Heiligabend alleine. Er dachte über das zu Ende gehende Jahr nach, als er Geräusche hinter seiner Wohnungstüre vernahm. Er schaute neugierig durch den Türspion und sah mehrere mit Taschen, Paketen und frohen Gesichtern beladene Menschen, die gerade die Nachbarn gegenüber besuchten. Ihre fröhlichen Stimmen drangen durchs Treppenhaus, und er wandte sich unwillig ab.
Im Frühjahr hatte seine Frau ihn nach -wie vielen? Sehr vielen, ach egal – Jahren verlassen.
Sie hatte ihn wie einen fadenscheinigen Pullover entsorgt und in den Altkleider-Container des Lebens geworfen. Sie hatte ihm bereits seit längerem vorgeworfen, immer griesgrämiger und unleidlicher zu werden. Auch die wenigen Freunde hatten das gemerkt und sich fast unmerklich immer mehr zurückgezogen. Aber wieso verstand ihn denn niemand? Er war seit einiger Zeit arbeitslos, und in seinem Alter gab es eben nichts Neues mehr. Dazu kamen immer noch die paar Euro an Schulden, über die er früher nur gelacht hätte, jetzt aber nicht mehr los wurde. Hinzu kam eine gewisse Sprachlosigkeit, die man aber vielen langjährigen Ehen nachsagte.
Ziellos wanderte er in der Wohnung umher. Die Zeiger der Wanduhr schlichen auf die 18.00 Uhr-Marke zu. Er merkte erst nach einiger Zeit, dass er den Platz im Wohnzimmer anstarrte, an dem in früheren Jahren immer der Weihnachtsbaum gestanden hatte. Jetzt stand da keiner mehr. Sein Blick wanderte weiter zur Uhr. Meistens hatten sie jetzt die Bescherung gefeiert. Vor vielen, vielen Jahren noch mit den Kindern, die er ebenfalls seit Längerem nicht mehr gesehen hatte. Als vor dem Haus die Straßenbahn bimmelte, war das für ihn wie ein Weckruf.
'Ich muss hier raus,' dachte er. Er warf sich irgendeine Jacke über, griff nach den Schlüsseln und floh fast schon aus der Wohnung. Er ging zur Straßenbahnhaltestelle und stieg in die nächste Bahn ein. Es war ihm egal, welches Ziel sie hatte. Nur weg. Er stieg ganz vorne ein, denn die Bahn war recht voll mit Fahrgästen, die unterwegs waren zu Verwandten oder Freunden. Alle waren vollgepackt mit Geschenken. Fröhliches Stimmengewirr flog umher. Er stieg ganz vorne ein, um die fröhlichen Gesichter hinter sich zu lassen und nicht sehen zu müssen.
Als dann noch jemand den Lautsprecher seines Smartphons einschaltete und 'Last Christmas'
ertönte, stieg er an der nächsten Haltestelle aus. Es war die Haltestelle Deutzer Freiheit, und er ging
langsam in die gleichnamige Straße hinein. Hinter der Kirche St. Heribert bog er rechts ab. Es war eine schmale Straße mit unscheinbaren Mietshäusern.
Automatisch hing sein Blick an den Fensterfronten fest. Überall dieser Lichterschein und diese Musikfetzen. Hin und wieder hörte er, wie ein Kind seine Blockflöte malträtierte und ihr oft falsche, abgehackte Töne entriss. Als ihm das Alles bewusst wurde, hielt er den Blick nur noch gesenkt.
Er kam an dem Bürgerzentrum vorbei, in dem mittellose Menschen billig essen konnten und, viel wichtiger, ein paar liebe Worte und Blicke umsonst bekamen. Plötzlich hörte er Weinen, vermischt mit dem groben Lachen mehrerer Männer. Die Geräusche kamen aus der Toreinfahrt hinter der Sozialeinrichtung. Er sah mehrere Männer, nein, eher waren es Jugendliche, fast noch Kinder, die um eine zusammengesunkene Gestalt tanzten, offenbar eine Frau. Sie saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt und hatte die Arme schützend um ihren Kopf gelegt. Zwei der Jugendlichen feixten und schubsten sie hin und her, während zwei andere einen Becher mit Glühwein über sie gossen und die Frau mit Erdnüssen bewarfen. Ohne großes Nachdenken sprang er dazwischen und brüllte die Jungen an.
„Was fällt euch ein? Lasst die Frau in Ruhe! Wisst ihr nicht, was heute für ein Abend ist?“
Die Jungen stoben auseinander. Ein besonders mutiger, offenbar der Anführer, blieb drei Schritte von ihm entfernt stehen und meinte nur spöttisch: „Wir haben doch nur ein bisschen Spaß gemacht.
Das ist doch nur ein Kanakenweib, die hat sowieso keine Ahnung von Weihnachten!“ Er sprach's und rannte den anderen hinterher, die bereits einen Vorsprung gewonnen hatten. Er hätte noch einiges hinterher rufen können, aber wozu?
Er hockte sich vor die Frau und berührte sie an der Schulter. Sie zuckte zurück, hob aber den Kopf und sah ihn an. „Danke,“ sagte sie in fast akzentfreiem deutsch. „Aber ich bin es ja irgendwie selbst schuld, wenn ich mich alleine hier hin setze. Ich habe den Heiligen Abend nebenan gefeiert, wollte aber mal raus an die frische Luft.“ Er reichte ihr die Hand und half ihr, aufzustehen. Er zog ein Papiertaschentuch und wischte so gut es ging den Glühwein aus ihrem Gesicht. Zum Glück war er nicht mehr ganz heiß gewesen, so hatte sie keine Verbrennungen erlitten. Er tupfte auch über die Flecken auf dem alten Mantel, den sie trug, hielt aber plötzlich inne, als ihm sein Handeln bewusst wurde, weil sie sich ihm vorsichtig entzog und seine Hand festhielt. Linkisch zog er die Packung aus der Tasche und gab sie ihr. Sie drehte sich in den Schein einer Laterne und führte die Reinigungsversuche fort. „Ach, egal,“ meinte sie lakonisch, „wenn das getrocknet ist, sieht man das auf dem alten Ding sowieso nicht mehr.“ Da ihr nun das Licht der Straßenlaterne auch ins Gesicht fiel, sah er, dass die Frau die Grenze zur Vierzig vor nicht zu langer Zeit überschritten hatte. Sie war auf eine ungewohnte Art hübsch und wies Züge auf, die ihn an Ägypten , den Libanon oder so erinnerten. Sie war ärmlich gekleidet, aber nicht in traditioneller Tracht und trug kein Kopftuch und natürlich auch keinen Schleier. Mittlerweile hatte sie mit dem Tupfen aufgehört und sah ihn forschend an. „Na, keine Angst vor einem Kanakenweib?“ Peinlich berührt wurde ihm bewusst, dass er sie angestarrt hatte. „Entschuldigung. Darf ich Sie zu einem neuen Glühwein einladen?“
Sie lächelte. „Gerne. Aber wenn ich wünschen darf: Nicht hier, lassen Sie uns bitte woanders hingehen, ja?“ So gingen sie langsam den Weg zurück, den er eben erst gekommen war. Von St. Heribert läuteten die Glocken. Der Nieselregen hatte aufgehört, und die Temperatur war merklich gesunken. 'Unglaublich', dachte er, 'wie angekündigt. Das diese Wetterheinis tatsächlich mal Recht haben...' Sie kamen zu einem einsamen Glühweinstand und stellten sich an einen der Stehtische neben einen Heizpilz. Jetzt war es an ihr, neugierig sein Gesicht zu erforschen. „Du bist traurig.“ Das war alles, was zu sagen war, und es stimmte. Wie selbstverständlich ließ sie die Förmlichkeiten beiseite. „Erzähl' mir Deine Geschichte,“ erwiderte er nur, um sie abzulenken. So erfuhr er, dass Ihr Vater früher einige Jahre syrischer Diplomat in Berlin war und dort seine Liebe zu Deutschland und seiner Kultur gefunden hatte. Als die Mutter in den Wirren des Bürgerkrieges umkam, beschloss er gemeinsam mit der Tochter die Flucht nach Deutschland. Sie selbst hatte die deutsche Schule in Aleppo besucht und die Sprache sehr gut erlernt.. Leider hatte der Vater die Flucht nicht lange überlebt. Nach kurzer Zeit im Asylbewerberheim war er an den Strapazen gestorben.
„Seit diesem Tag lebe ich mit fünf anderen Frauen zusammen in einem Zimmer in einem kleinen, von der Stadt angemieteten Hotel,“ schloss sie ihre Erzählung.
Während sie sprach, hatte er aufmerksam ihr Gesicht studiert. Sie schien mit sich und ihrer überschaubaren Welt zufrieden zu sein. Da waren keinerlei Spuren von Enttäuschung, Schmerz oder Unzufriedenheit zu entdecken. Er sprach sie darauf an. „Warum sollte ich enttäuscht sein? Ich lebe jetzt in Sicherheit in einem freien Land. Ich wurde weder verletzt noch missbraucht, wie es leider vielen passiert ist. Ich hoffe, bald wieder in meinem Beruf als Dolmetscherin arbeiten zu dürfen und eine eigene Wohnung zu besitzen. Warum sollte ich also unzufrieden sein?“ Und dann sagte sie den Satz, über den er noch nachdenken sollte. „Ich bin zwar hier nicht zu Hause, aber ich bin in mir zu Hause!“ „Aber wie kannst du denn zufrieden sein, wenn du nichts zu essen hast und auf offener Straße überfallen wirst?“ „Ach so, du meinst, ich hätte Hunger, weil ich seit zwei Tagen so gut wie nichts gegessen habe? Du glaubst, ich sei überfallen worden, weil ein paar dumme Kinder mich geärgert haben? Woher willst du in Deutschland eigentlich wissen, was Hunger und Durst und was Misshandlungen wirklich bedeuten?“ Sie hatten den Glühwein ausgetrunken und gingen langsam weiter. Sie waren nun am Rheinufer, dort, wo die große Freitreppe langsam Gestalt annimmt, und blickten hinüber auf die hell erleuchtete Kölner Altstadt. Die mächtigen Domglocken riefen zur Christmette. Sie hatten kein Wort mehr gewechselt, doch jetzt blieb sie stehen und sah ihm ins Gesicht. „Aber du,“ meinte sie bedächtig, „in deinem Gesicht lese ich Kummer und Schmerz. Was bedrückt dich so?“ Er wusste nicht recht,was er sagen konnte, womit er beginnen sollte. Hatten seine Sorgen tatsächlich Gewicht im Vergleich zu dem von ihr Erlebten? Doch ihre Augen blickten neugierig, und sie nickte ihm aufmunternd zu. So begann er erst stockend, dann immer flüssiger, ihr sein Leben zu erzählen. Das er verheiratet gewesen sei und Kinder habe. Das sein Beruf ihn aufgefressen und seine Frau ihn verlassen hatte. Das seine Kinder den Kontakt zu ihm immer mehr meiden würden. Er brach stockend ab. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihm kalt war. Sie hatte ihm aufmerksam zugehört. Sie sagte: „Du hast dein Innerstes so gegen jeden deiner Mitmenschen abgeschirmt, dass du selbst nicht mehr hineinkannst. Du hast dich aus deinem eigenen Leben ausgesperrt.“
Sie streckte den Arm aus und beschrieb einen Halbkreis um sich herum. „Du bist zwar hier zu Hause, aber nicht zu Hause in dir selbst!“ Das versetzte ihm einen Stich. „Komm, lass' uns einen Platz in einer Christmette suchen.“ „Aber ... aber bist du nicht...“ „Ja, ich bin Muslimin, aber ich weiß, dass Gott überall ist. So, wie das Brot in jeder Sprache anders heißt, hat auch Gott nur verschiedene Namen. Du kannst deinen Gott in einer Moschee suchen oder so wie ich Allah in einer Kirche zu Weihnachten. Weißt du eigentlich, dass Jesus auch im Islam verehrt wird? Nur ist er dort ein großer Prophet und nicht Gottes Sohn, so wie auch bei den Juden. Auch Maria und Moses und andere Namen sind bei uns bekannt, denn letztlich fußen alle großen Religionen auf dem gleichen Ursprung.“
Sie wandte sich um und ging den Weg zurück. Dabei streckte sie eine Hand aus, und er folgte ihr und ergriff sie. „Wir gehen zurück zu der Kirche, an der wir vorhin vorbei gingen. Dort ist bestimmt noch offen.“ Wie als Bestätigung läuteten nun auch die Glocken von St. Heribert.
Sie gingen hinein. Die Christmette hatte bereits begonnen, und die Kirche war sehr gut besucht.
Trotzdem fanden sie ganz hinten in einer Ecke zwei Plätze und setzten sich. Er fühlte sich beklommen, denn er hatte lange keine heilige Messe mehr besucht, noch nicht mal an Weih-nachten.
Sie saß still neben ihm und er spürte, wie sie die Atmosphäre in sich aufsog. Auch er fühlte, wie sich innerer Frieden in ihm ausbreitete, und er kam erstmals seit langer Zeit zur Ruhe. Als die Messe vorüber war und alle dem Ausgang zustrebten, blieben zwei in sich gekehrte Menschen still sitzen.
Erst als der Küster kam, die Kerzen löschte und die Kirche abschließen wollte, kam wieder Leben in das seltsame Paar. Der Küster wunderte sich über die beiden, insbesondere über die fremd-ländische Frau. Aber er sagte nichts, denn er dachte daran, dass es auch im Nahen Osten christliche Gemeinden gibt. Er wünschte daher nur 'Frohe Weihnachten' und schloss hinter ihnen ab. Mittler-weile war die Temperatur weiter gesunken, und die ersten dicken Schneeflocken umschwebten sie.
So standen sie auf der nun menschenleeren Straße. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, blickte ihm in die Augen und sagte: „Gib' du mir ein Zuhause in deiner Stadt, und ich gebe dir ein Zuhause in dir selbst, in dem du glücklich wirst.“
Ohne ein Wort legte er den Arm um sie. Dann gingen sie gedankenverloren die Deutzer Freiheit hinunter auf der Suche nach einem Taxi.