Weihnachten einer Mutter
Von der Gefahr der weihnachtlichen Persönlichkeitsspaltung
„Mami!“ Meine achtjährige Tochter strahlt vor Glück. „Guck mal. Genau der Adventskalender den ich mir gewünscht habe. Woher wissen das denn die Engel?“ Kurzzeitig sprachlos stottere ich nur „Weil … weil …ähm … Du es bestimmt geträumt hast“, fällt mir spontan ein. Töchting ist’s zufrieden und zieht freudig und „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ trällernd ihrer Wege.
Ach, war das schön, als ich selbst noch so klein war, gönne ich mir einen kurzen Ausflug in die Vergangenheit. Kein Erklärungsbedarf – es sei denn, der Wunschzettel war mal wieder gar so voll. Ich ließ mich damals schneller und dauerhafter von den Düften, dem Licht und all den kleinen und großen Geheimnissen der Weihnachtszeit einfangen und machte mir höchstens darüber Gedanken, was ich den Eltern und Geschwistern basteln könne. Denn: „Du musst den Weihnachtswichteln aber auch mal helfen. Die schaffen das doch gar nicht allein“, habe ich noch die alljährliche Ansprache meiner Mutter im Kopf. Damals war ich ganz und gar Kind zu Weihnachten.
Heute mache ich mir Gedanken über Adventskalender, Nikolauskleinigkeiten und Weihnachtsgeschenke für alle meine Lieben – und wie ich sie so wegpacke, dass keiner sie vorher findet. Ich bin Geheimniskrämer, Verstecker, Schenker. Ich bin Engel, Nikolaus, Wichtel, Weihnachtsmann, Christkind – ob ich nicht alle Jahre wieder in der Vorweihnachtszeit Gefahr laufe, dass sich all diese Persönlichkeiten neben meiner eigenen entwickeln?
Es kann ja schließlich nicht die ständig beschäftigte Mutter sein, die am Abend vor dem ersten Dezember den Adventskalender hinhängt. Nein, das sind die Engelchen – die ja die leuchtenden Kinderaugen mitsamt den intelligenten Köpfen dahinter aus den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern kennen und genau wissen, was der jeweilige Herzenswunsch ist.
Auch den Wunschzettel, abends vertrauensvoll mit bunten Stiften in der ungelenken Kinderhandschrift geschrieben und aufs Fensterbrett gelegt, habe natürlich nicht ich weggenommen sondern das Christkind, das bei uns die Geschenke bringt. Ein wenig Flitterstaub auf dem Teppich zeugt von seinem da gewesen sein und wird am Morgen ausgiebig bestaunt.
Am sechsten Dezember geht die Schizophrenie weiter. Nikolaus – selbstverständlich wieder ich. „Tooooolll, diese Haargummis! Und Bürste und Spiegel gleich dazu, da kann ich mich ja noch ordentlicher fertig machen morgens.“ Anna – Lena sitzt im Schlafanzug vor der Zimmertür und betrachtet freudig die Kleinigkeiten, die aus den frisch geputzten Stiefeln purzeln. Wenn Du es doch nur jetzt tätest, denke ich, und ein leiser Seufzer entringt sich mir.
Bei selbst gebackenen Plätzchen am alljährlich in die Vorweihnachtszeit gehörenden Bastelabend rutsche ich dann knapp an einer Enthüllung vorbei. „Mami, wieso basteln wir denn eigentlich Geschenke? Die für die Erwachsenen bringt doch der Weihnachtsmann“ tönt es im Brustton der Überzeugung lebenserfahrener acht Jahre von gegenüber. Wieder gerate ich ins Stottern. „Ja aber … der … der schafft das doch alles gar nicht allein. Überlege doch mal, wie viele Menschen es auf der Welt gibt.“
„Dafür hat er doch die Wichtel. Und die machen doch auch den Schmuck für die Bäume und schenken sie uns, nicht?“
„Ähm … ja eigentlich …“ muss ich eingestehen, um ihren Glauben nicht zu erschüttern. Aber meine Antwort war nicht ausreichend, denn das genau ist längst passiert: „Oder gibt es den Weihnachtsmann etwa gar nicht wirklich?“ Die grünen Augen schauen mich entsetzt an und schwimmen schon in Tränen. „Doch, doch. Den gibt es schon. Wir helfen ihm bloß“, versuche ich die Situation zu retten, was mir zum Glück auch gelingt. Die Tränen versiegen.
„Dann mache ich jetzt zwei ganz besonders schöne Glocken. Die legen wir dann vor die Tür, als Geschenk für den Weihnachtsmann und das Christkind.“ Die Zungenspitze saust von einem Mundwinkel in den anderen, als sie sich mit Feuereifer über ihre Bastelei beugt. Vorsichtig lasse ich die angehaltene Luft entweichen.
An Heiligabend ist es dann ganz verrückt. Die Weihnachtsstube ist schon seit dem Morgen verschlossen, das Mädchen, das sonst nicht genug davon bekommen kann, draußen zu spielen, sitzt barmend auf der Treppe. „Wann ist es denn endlich soweit? Wann klingelt es denn endlich? Ist der Weihnachtsbaum schon geschmückt? Was haben die Wichtel denn drangehängt?“ löchert sie mich mit Fragen, sobald sie mich zu fassen bekommt. Sie weiß genau, dass Erwachsene in die Weihnachtsstube dürfen – sie darf noch nicht.
In der Küche schmort schon das Weihnachtsessen und ich laufe in Schürze und mit aufgelösten Haaren durchs Haus, um noch die letzten ach so gut versteckten Geschenke zu finden und unter den am Vorabend längst geschmückten Baum zu legen. Denn neben Engel und Nikolaus – die baumschmückenden Wichtel habe ich dieses Jahr meinem Freund überlassen – bin ich nun auch noch Christkind.
Dann ist es endlich soweit. Das Glöckchen klingelt zum Zeichen, dass Weihnachtsmann und Christkind mitsamt den Wichteln mit dem Schmücken der Weihnachtsstube fertig geworden sind. Die Tür öffnet sich, das Glockengeläut von der (lange gesuchten und schließlich noch vom letzten Jahr auf dem Plattenteller gefundenen) Weihnachtsplatte verklingt und der Wiener Knabenchor von 1976 stimmt ein „Oh du fröhliche“ an.
Und da sind sie wieder. Die leuchtenden Kinderaugen, die mich vertrauensvoll anstrahlen und mir ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Das helle Köpfchen, das noch fest daran glaubt, dass es Adventskalenderengel, Nikolaus, Weihnachtswichtel, Christkind und Weihnachtsmann wirklich gibt.
Spätestens dann weiß ich, warum ich ihr diesen kindlichen Glauben erhalten möchte, indem ich selbst, fast multiple Persönlichkeiten entwickelnd, als eben diese Personen agiere. Warum ich Flitter auf den Wohnzimmerteppich streue, am Nikolausmorgen einen Herrenschuh mit möglichst viel Dreck in der Sohle auf der Terrasse gründlich ausklopfe, um einen Fußabdruck zu hinterlassen. Warum ich mit einer Bratpfanne Schlittenspuren in den Schnee auf dem Rasen ziehe – und mich bemühe, die Fußtapfen der Rentiere nicht allzu menschlich aussehen zu lassen.
Dann ist für mich Weihnachten.