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Weihnachten das ganze Jahr
Starr sitzt Alfred auf der Bank vorm Kaufhaus. Unsere Lebkuchen lässt er unberührt. Den Plastikbecher voll Weihnachtspunsch hält er in der Hand, ohne zu trinken. Ein Glimmen stiehlt sich in seine, die Umgebung scannenden Augen, und seine Wangen röten sich, während er Susi und mir von sich erzählt. Schmallippig stößt er die Worte aus, es scheint, als würde er mit jeder freigelassenen Silbe, Platz in seinem Inneren schaffen für so etwas wie Behaglichkeit. Diese Behaglichkeit breitet sich um uns aus wie eine Haut, polstert das harte Holz der Bank, erwärmt die Kälte, lindert den Lärm, macht die in und aus dem Kaufhaus hastenden Menschen unsichtbar.
„Damals war ich wer, habe in einer Bank gearbeitet, mit Anzug und Krawatte, eine Frau hatte ich, sie war schön, eine rassige Frau, da hat mich mancher drum beneidet. Zwei Kinder, Korbinian und Annegret. Ein schönes Leben war das, mit Urlaub in Österreich, in der Schweiz und auf Teneriffa. Dann ist sie fremdgegangen, meine Frau, hat sich scheiden lassen, und ich musste aus dem Haus und zahlen. Da habe ich einen Fehler gemacht, leider habe ich mit dem Alkohol angefangen. Gut, dass der Punsch ohne Alkohol ist.“, er nimmt einen Schluck, „Da musst du aufpassen, im Winter, da trinke ich abends nichts Hochprozentiges mehr, sonst kannst du erfrieren. So wachst du alle zwei Stunden auf und machst dich warm.“
„Gott zum Gruß, darf ich mich vorstellen?“, tritt ein junger Mann an uns heran. „Ich bin John und das ist Maria“, weist er auf ein Mädchen in dickem Parka und einer Jeans, aus deren zerrissenen Quadraten Gänsehaut herausbeult. Johns Winterjacke steht offen, der Reißverschluss ist kaputt. Wo er sich eine neue kaufen kann, fragt er, ich weise auf das Kaufhaus hinter uns.
„Wir sind Studenten der Bibelschule München, darf ich euch segnen?“
John segnet uns und erzählt, wie verdorben er war.
Bevor Jesus in sein Leben trat, wäre er sogar drogenabhängig gewesen.
„Heroin?“, fragt Susi schaudernd.
Nein, er hat gekifft.
Die Bibelstudentin Maria setzt sich neben Alfred, versenkt sich nassen Blickes in seine Augen, um ihm zuzuhören, während John uns in Beschlag nimmt.
Schließlich wollen wir weiter, zu den anderen Obdachlosen. Alfred versucht, uns zurückzuhalten. Die seien gefährlich, und dreckig, sie stehlen. Einer darunter, Freddy, war bei der Fremdenlegion, sagt Alfred.
„Ein brutaler Hund, der sticht dich ab, eiskalt! Der hat eine Freundin, die ist Millionärin, will ihm eine Wohnung schenken, aber der lacht sie nur aus, der will auf der Straße leben, nicht wie ich, mir bleibt ja nichts Anderes übrig.“
John gibt ihm einen Flyer für eine christliche Unterkunft.
„Hm, solche wie mich wollen die nicht, ich habe da leider ein Problem mit dem Alkohol“, Alfred schaut auf seine Schuhe.
Wir reden ihm gut zu, verabschieden uns und ziehen weiter.
Als wir uns zu Freddy auf das Lager in der Mauernische des Kaufhauses setzen, ist Alfred wieder da. Er schmeißt den Flyer des Bibelstudenten in die Ecke seines Schlafplatzes neben Kumpel Freddy. Die zwei haben drei Wände und ein Dach über dem Kopf. Ein luxuriöser Unterschlupf, wenn man Platte macht, so nennen sie das Leben auf der Straße.
„Jetzt kommt der Paul, der ist verrückt, aber harmlos“, kündigt Alfred einen Besucher an. Paul begrüßt uns freundlich, rastlos läuft er auf und ab, hat einen großen Hund im Schlepptau, den er liebevoll umsorgt.
Freddy beherrscht das Gespräch, an ihm ist ein Philosoph verloren gegangen. Persönliches gibt er nicht preis.
Passanten bleiben stehen, schauen uns an mit einer Mischung aus Abscheu und Interesse.
Nach Stunden verabschieden wir uns. Alfred schenkt uns Schnapspralinen aus einem Adventskalender, mit dem er beschert wurde.
Wir gehen ins U-Bahn Sperrengeschoss und geben dem Bissverkäufer den restlichen Punsch. Meine Schnapspraline vermache ich einem knienden Mann, der wohl von der Bettelmafia ausgebeutet wird. Durchgefroren gehen wir nach Hause, jede in eine andere Richtung. Was für ein Glück, ein Zuhause zu haben.
Dieser skurrile Nachmittag geht mir nicht aus dem Sinn. Ich schreibe darüber in den sozialen Netzwerken: viele Likes, viel Lob, aber keine Bereitschaft, sich uns bei einem weiteren Besuch anzuschließen. In mir wächst die Idee eine Tragikomödie zu entwickeln, um der Parallelwelt der Obdachlosigkeit eine Bühne zu geben.
Meine Theatergruppe ist interessiert. Heimatlos, so wird das Stück heißen.
Am nächsten Tag gehe ich mit zwei Frauen aus der Theatergruppe zum Kaufhaus. Alfred sitzt nicht auf seiner Bank. Wir suchen Freddy auf. Er erzählt uns, das Alfred Schwierigkeiten bekommen habe und nun in einer Unterkunft lebe.
„Er hat sich nicht an die Gesetze der Straße gehalten.“, sagt Freddy. „Auf der Straße kannst du nicht zu jemanden sagen: „Ich hau dir aufs Maul!“, und es dann nicht machen. Wenn du das nicht machen willst, darfst du das auch nicht sagen.“
Der Obdachlose, der auf Alfreds Platz sitzt, ist nicht gesprächig. Ein Passant bleibt stehen, begrüßt Freddy freundschaftlich. Kurze Zeit später gesellt sich eine Frau zu uns. Sie ist Vermieterin, vermutlich Freddys besagte Freundin. Wie eine Millionärin sieht sie jedoch nicht aus. Besorgt mustert sie Freddy, er scheint Erfrierungen im Gesicht zu haben. Sie fasst an seine Fußknöchel, stellt Wassereinlagerungen im Gewebe fest, gießt den beiden Obdachlosen Brennnesseltee auf unseren Punsch, der soll entwässernd wirken. Freddy holt eine Rotweinflasche hervor, um den Tee-Punsch aufzuwerten.
Dieser Nachmittag ist vergnüglicher, als es die Umstände vermuten lassen, eine Tragikomödie des Lebens.
Zu Hause lese ich in der Abendzeitung von vorgestern, dass sich Obdachlose vorm Kaufhaus geprügelt haben. Einer ist verletzt, seiner Sachen beraubt und von seinem Schlafplatz vertrieben worden. Die Polizei hat ihn in ein Notquartier gebracht.
Ich denke an Alfred und hoffe, es geht ihm gut.