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Weihnachten auf Station 2

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01.09.2002
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Weihnachten auf Station 2

Diese Geschichte ist ganz besonderen Menschen gewidmet. Für Azita, Ursula, Sylvia, Monika, Helga, Sabine, Gabi, Edgar, Petra, Elke, Lizzy, Jürgen, Gerti, Herman, Volker, Christoph, Ulrike, Karin, Alice, Angelika, Maria, Rainer, Hilltrud, Rosie, Ruth aber auch für Fr. Schätzlein, Fr. Böhm, Schwester Rosalinde, Schwester Ulrike, Dr.Brandt und Dr. Wobbe.
Vielen Dank...


Weihnachten auf Station 2

Weit ab der Heimat sitze ich hier mit 23 weiteren scheinbar verlorenen Seelen in einem Kreis um den einsam in der Mitte stehenden Tisch. Nervöse, teils zittrige Hände hatten die Tage zuvor versucht dem kühlen, funktionalen Tisch ein wenig weihnachtliche Atmosphäre ein zuhauchen. Ein einzelnes Weihnachtsgesteck, dessen Kerze aus Gründen des Brandschutzes niemals aufleuchten wird, und eine billige Papiertischdecke mit christlichen Motiven schmücken das vierbeinige Mobiliar. Nur Eingeweihte wissen um die wilden Stunden des Vorabends, als die Alteingesessenen die Frischlinge zu zwei Flaschen Billig-Discounter-Wein und selbst geschmierten Leberwurstbrötchen verführten, in den Stunden als die Station vom Pflegepersonal verwaist, ihre eigene Dynamik entwickelte. Aus den Zimmern der 2.Etage kamen sie hervor, mit Chips, Salzstangen, Weingummi und Hibiskustee und versammelten sich im Aufenthaltsraum wie Regenwasser in einer Pfütze. Vorsichtig praktizierte Anarchie, Schritte zurück ins Leben, erste Therapieerfolge greifen endlich...jetzt erinnern lediglich angetrocknete und übersehene Leberwurstreste an der Tischplatte an das gesellige Beisammensein. Gestern Abend war es unser gemütliches „Wohnzimmer“, jetzt ist es wieder zu unserem „Aufenthaltsraum“ transformiert.
Stationsbesprechung... und doch anders, wärmer, gedämpfter...Weihnachten.
Auf dem Stuhl neben mir sitzt Ashanti. Als sie hier vor acht Wochen in der Klinik ankam, hatte sie lediglich einen Koffer und eine Reisetasche bei sich. Das ist heute anders...Wie so viele besuchte sie hier in Bad Schmatzingen unzählige Theateraufführungen, Konzerte, sonstige kulturelle und sportliche Veranstaltungen jeglicher Coleur und an diesem einen Abend besuchte Sie mit anderen Klinikgästen auch das staatliche Spielcasino. Einmal hineinschnuppern in die Welt der Schönen und der Reichen, im Rücken der eleganten Croupiers stehend die kleine weiße Kugel des Glücks beobachtend, nicht wagend den 2 Euro 50 Willkommensjeton aus den schweißig nassen Händen auf eine Zahl, eine Farbe zu setzen, während im Bruchteil von Sekunden um sie herum Umsätze in schwindelerregender Höhe getätigt wurden. Eintauchen in eine künstlich geschaffene Welt scheinbaren Glamours. Es wurde an diesem Abend immer später und schließlich stellte sich die entscheidende Frage, den billigen Jeton als Andenken zu behalten oder in einem gewagten Akt alles zu riskieren, hopp oder topp...
Eine Viertelstunde später war Ashanti um 70.0000 Euro reicher. Sie spielte nach irgendeinem undurchsichtigen System, aber anstatt zufrieden mit ihrem Gewinn zu sein, forderte sie das Glück immer wieder heraus. Was für ein Wahnsinn...am Ende gewinnt immer die Bank.
Nach einer Stunde stand ihr Gewinn bei 1,2 Millionen Euro und weitere 10 Minuten später musste die Spielbank an diesem Abend schließen, da die Bargeldbestände aufgebraucht waren. Verständlicherweise war Ashanti an diesem Abend recht aufgeregt und fand später in ihrem Zimmer nur schwer in den Schlaf.
Seit diesem Zeitpunkt besucht sie die Spielbank öfters. Es scheint, sie ist dort nicht wirklich mehr willkommen. Neben dem Casino hat man provisorisch eine kleine Gelddruckerei hochgezogen, um immer über die entsprechenden Mittel verfügen zu können. Zwei Croupiers sind mit Nervenzusammenbrüchen in unsere schöne Klinik eingeliefert worden, weigerten sich aber energisch in die Zimmer neben Ashanti ein zuchecken. Sie werden in der Gruppentherapie „Konflikte im Erwerbsleben“ angemessen betreut. Roulette kommt für die beiden noch zu früh, aber sie beginnen bereits mit leichten Würfelübungen bei Mensch-ärger-dich-nicht.
Es gehen Gerüchte um, Ashanti besitze jetzt Ländereien in Übersee, mehrere Flugzeuge, einen privaten Fernsehsender, Häuser im In- und Ausland, und ist nun nicht mehr bei der AOK, sondern privatversichert, was Sie zumindest dahingehend privilegiert, als einzige an unserem Frühstückstisch ihren Kräuterquark mit frischer handgezupfter Kresse gereicht zu bekommen. Außerdem hält sie 80% Anteile an der Klinik hier...
Gut, ihre Garderobe wirkt seit neustem ein wenig „overdressed“, Gucci, Dior, Lagerfeld, Chanel.... Mir ist das egal, ich kann gut mit Ashanti. Vor wenig Tagen hat Sie mich nach meiner Lieblingsfarbe gefragt...türkisblau...
Just in dieser Farbe steht seit gestern ein nagelneuer Porsche vor der Klinik und da Weihnachten ist, habe ich so ein Gefühl...
Ich werfe einen Blick auf Eduard.
Auch für ihn wird es langsam Zeit nach Hause zurück zukehren. Seine feuerroten Hände sind mit Ekzemen übersät und eitern teilweise, kein schöner Anblick, allerdings auch keine unmittelbare Folge seiner psychosomatischen Erkrankung. Er hat am Wochenende vielmehr versucht seine 21 Paar Socken im Handwaschbecken zu waschen und dazu irgendein Zeug benutzt, dass seinen Händen gar nicht gut tat. Chlorhaushaltsreiniger wie ich es ihm aus einer heiteren, aber inkompetenten Laune heraus empfohlen hatte, sind der Sache wohl doch nicht ganz gerecht geworden. Egal, ich kann gut mit Eduard.
Ganz plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Dr. Feuer und Schwester Rosie betreten den Aufenthaltsraum. Die beiden wirken erschüttert und nehmen der weihnachtlichen Stimmung etwas von ihrer Reinheit. Mit stockender, ungewöhnlich zittriger Stimme berichtet der Arzt von der menschlichen Tragödie, die sich heute Morgen zugetragen hat. Die Selbsthilfegruppe „Waschen und Bügeln“, übrigens alles Patienten männlichen Geschlechts, ist kläglich gescheitert und das gerade jetzt, wo es aufwärts zu scheinen ging. Die Jungs waren so fit, so motiviert...was war geschehen...?
Heute sollte ihr großer Tag sein, Vorwäsche, Waschprogramme, Weichspüler...alles hatten sie verinnerlicht. Und als sie dann mit ihrer Schmutzwäsche vor der Gemeinschaftswaschmaschine standen, wenige Schritte vor dem großen Ziel, wurden sie mit der Brutalität der Wirklichkeit konfrontiert.
Es waren nur acht Worte die ihre scheinbare konstante Stärke zum Einsturz brachte.
„Bügel- BH bitte in den separaten Waschsack waschen“
Keiner von ihnen, keiner besaß einen BH und schon gar nicht einen Bügel- BH.
Nicht wissend, noch nicht einmal ahnend, wie sie mit dieser unerwarteten Situation umgehen sollten, brachen sie zitternd zusammen, um sich dann irre lachend in den verwinkelten Gängen der Klinik zu verlieren. Pflegepersonal ist ihnen seitdem auf den Fersen, man konnte jedoch erst einen Flüchtigen, bei dem Versuch sich mit der Wäscheleine im Trockenraum zu strangulieren, stellen.
Eine schlimme Geschichte, die mich nicht kalt lässt.
Auch Dr. Feuer spürt unsere Betroffenheit, denn sensibel sind wir alle.
Sofort beginnt der Arzt mit dem autogenen Training, heute einmal mit weihnachtlichen Einschlag.
„...und wir beginnen mit der Körperreise...spüren Sie ihren rechten Fuß, spüren Sie wie er den Boden berührt...“
Ich schließe meine Augen und höre die sonore Stimme von Dr. Feuer. Schnell bin ich ganz in mir und endlich kommt auch die weihnachtliche Komponente zum Tragen.
„...die Nacht ist ganz still,...die nacht ist ganz ruhig...stille Naaaaaacht, ...heilige Naaaaacht....“
Mir wird ganz warm um’s Herz.
Ich verliere ein wenig die Konzentration auf mein Ich, denn auf dem Gang draußen ist ein Riesenlärm. Ich kann einige Wortfetzen aufnehmen.
„Bügel- BH...hahaaa....bügel,bügel den BH...hahahahaha.......“
So hat es keinen Zweck. Dr. Feuer holt uns in die Wirklichkeit zurück.
Ich werfe einen Blick hinaus in das winterliche Bad Schmatzingen. Vor dem Haus steht die Selbsthilfegruppe „Rauchen und Frieren“. Man sagt dieser Gruppe den größten therapeutischen Erfolg nach. Nirgendwo ist das gegenseitige Verständnis, die Solidarität untereinander, die Toleranz größer als in dieser Selbsthilfegruppe.
Eng zusammen gekauert, der Kälte trotzend, stehen sie um die Straßenlaterne. In ihren klammen Händen halten sie dampfende Pappbecher mit wärmenden Kaffee und kontrastreich heben sich roten, tropfenden Nasen aus bleichen Gesichtern ab. Monoton treten sie auf der Stelle, damit ein Rest Körperwärme an ihnen hoch kriechen kann. Wenige Schritte von der Gruppe entfernt liegt der erfrorene Körper eines ehemaligen Mitgliedes. Viel zu viele gehen in diesem bitterkalten Winter aus dem Leben. Die Zurückgebliebenen durchsuchen den steifen Körper nach ein paar Zigaretten und werden fündig. Es bleibt der Trost, dass dieser Tod nicht umsonst war. Diese bewegende Szene rührt mich und eine Träne rollt über meine Wange. Ich schäme mich nicht, ich lasse meine Gefühle zu...das habe ich gelernt.
Weihnachten auf Station 2...kann es etwas Schöneres geben

 

die Tage zuvor versucht dem kühlen
versuchtKOMMA
ein zuhauchen
ein Wort
in den Stunden als die Station
StundenKOMMA
Abend besuchte Sie mit anderen
sie klein
hineinschnuppern in die Welt der Schönen und der Reichen
das "der" vor Reichen kann weg
nicht wagend den 2 Euro 50
wagendKOMMA
70.0000 Euro
entweder 700.000 (siebenhundertausend) oder 70.000 (siebzigtausend)
Es scheint, sie ist dort nicht wirklich mehr willkommen.
Es scheint, sie ist dort nicht mehr wirklich willkommen.
was Sie zumindest dahingehend privilegiert
sie klein
Auch für ihn wird es langsam Zeit nach Hause zurück zukehren
Zeit, nach Hause zurückzukehren.
Er hat am Wochenende vielmehr versucht seine
versuchtKOMMA
wo es aufwärts zu scheinen ging.
tut mir Leid, ein lustiger Fehler:
aufwärts zu gehen schien
spüren Sie ihren rechten Fuß, spüren Sie wie
Ihren groß; spüren SieKOMMA wie
die nacht ist ganz ruhig
Nacht groß
zusammen gekauert
ein Wort
roten, tropfenden Nasen
rote, tropfende Nasen
hoch kriechen
ein Wort
Hi WhistlingSnake,
schöne, friedliche Geschichte :heilig:
Wieder eine mehr, bei der ich nicht verstehen kann, wieso sie noch keine Kommentare hat.
Der Anfang mit Ashanti erinnert ein ganz klein wenig an "Der Spieler" von Dostojewski.
Deine Geschichte habe ich sehr gerne gelesen.
Aber in Satire erscheint sie mir sehr fehl am Platze. Vllt findest du ne bessere Kategorie

 

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