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Weißt du überhaupt, wie man so was fliegt?
Es war noch Nacht. Dunkelheit umhüllte zwei einsame Gestalten. Er stand neben seinem Wagen und hielt die Zügel der Pferde locker in der Hand. Skeptisch sah er sie an: „Weißt du überhaupt, wie man so was fliegt?“
„Ich habe einen Führerschein. Mal ganz abgesehen davon, dass es eine Frechheit ist, dass ich mich als Göttin dazu herablassen musste, einen Führerschein in einer gewöhnlichen Fahrschule von Sterblichen zu machen, kann ich mich nicht erinnern, dass du je einen gemacht hast. Du hast dir einfach die coole Karre geschnappt und bist drauflos gefahren“, herausfordernd sah sie ihn an.
„Das könnte daran liegen, dass das hier“, er deutete auf den Wagen, „kein Auto ist und man deshalb keinen Führerschein dafür braucht. Und für deinen Wagen auch nicht, weshalb es sowieso sinnlos war, dass du diese Schule besucht hast.“
„War es nicht! Ich bin im Gegensatz zu dir nämlich darauf angewiesen, auch in der sterblichen Welt schnell von einem Ort zum nächsten zu kommen. Ich brauchte eine Möglichkeit, mich und meine Jägerinnen zu transportieren, ohne großes Aufsehen zu erregen. Und es erschien mir falsch, von meinen Jägerinnen zu erwarten, dass sie einen Führerschein machen und ich nicht.“
„Meine edle Schwester, die ihren Dienerinnen nicht zumuten will, was sie selbst nicht tun würde“, spöttisch grinste er sie an, bevor er fortfuhr, „Aber meinen Wagen lasse ich dich nicht fahren, dein Führerschein gilt nämlich nur für Autos.“
„Ich weiß, ich bin eine Göttin, allwissend, weißt du noch?“
„Ich bin auch allwissend, weißt du noch?“
„Aber ich bin älter als du, also kann ich mit meiner Allwissenheit besser umgehen als du.“
„Du willst nach all den Jahrtausenden nicht wirklich schon wieder darüber diskutieren, wer älter ist, oder? Wir sind Zwillinge! Das heißt wir sind genau gleich alt!“
„Kein Grund rot anzulaufen Brüderchen, ich ärger dich doch nur. Und jetzt her mit den Zügeln.“
„Vergiss es! Ich wiederhole: Es ist mein Wagen!“
„Ich lass dich auch mal mit meinem fahren.“
„Als ob! Ich werde deinen Wagen genauso wenig von innen sehen, wie du meinen. Du könntest den
Gedanken nicht ertragen, dass ich ihn vielleicht zu Schrott fahre.“
„Gut möglich, aber sag nicht, ich hätte es dir nicht angeboten. Wenn das, was die Menschen da ständig von Sonnenexplosionen faseln, stimmt, geht dein Wagen drauf. Und dann werde ich dich nicht in meinem mitnehmen oder dir zu Hilfe eilen, wenn dein Wagen zerschmettert wird.“
„Er wird nicht zerschmettert werden! Ich bin ein äußerst guter Fahrer und passe auf, dass ich der Erde nie zu Nahe komme und sie nicht ausversehen in Brand stecke. Und all das Gefasel ist genau das: Gefasel! Warum sollte meinem Wagen also irgendwas passieren?“
„Na, weil ich ihn fahre!“
Damit riss Artemis ihrem Bruder Apollo die Zügel des Sonnenwagens aus der Hand, sprang in den Wagen und fuhr los.
Als an diesem Morgen die Sonne über dem Himmel aufging, fuhr zum ersten und einzigen Mal seit der Existenz der Götter, die Mondgöttin den Sonnenwagen über den Himmel.