Weißer Rabe
"Opa, es fühlt sich so weich an."
Der Rabe pickte sanft an ihren Haaren woraufhin ein glucksendes Lacheln ihrer Kehle entwich. Es kitzelte.
"Es ist ein Rabe," erklärte ihr Opa, der schon einige Vogelrassen gezüchtet hatte.
Sanft streichelte sie sein Gefieder und der Rabe hielt inne. So, als wollte er, dass die Zärtlichkeiten des Mädchens nicht aufhörten. Fasziniert beobachtete ihr Opa die Liebkoserei des Mädchens.
"Weißt du, Emma? Ein Monat lang hatte es gedauert, dass ich diesen Raben zähmen konnte. Und bei dir lässt er alle Vorsicht los."
Bei diesen Worten blickte er auf die Narben auf seinem Unterarm hinab. Ihm schien es, als hätte der Vogel die Narben in seinem Herz auf seine Haut projiziert. Deswegen war er ihm auch nicht böse.
"Wirklich? "
Die Sonne ließ die blonden Haare seiner Enkelin golden strahlen, wodurch er der Überzeugung näher kam, dass sie eigentlich ein Engel war, der versehentlich aus dem Himmel fiel. Was für ein verhängnisvolles Versehen! Es hatte ihre Augen kostet.
Mit geschlossenen Augen genoss der Rabe weiterhin ihre Zärtlichkeiten. Als würde sie das sehen, fing sie auch an zu lächeln.
Ihr Opa erkannte eine Seelenverwandschaft zwischen den Beiden. Eine Verwandschaft, die zur gemeinsamen Verständigung nicht der Kraft der Worte bedurfte.
"Es ist ein weißer Rabe, Emma," sagte er diesmal mit Nachdruck.
Sie hebte ihren Kopf in seine Richtung und eine verwunderte Miene setzte sich in ihrem herzförmigen Gesicht fest.
"Aber es gibt doch nur schwarze Raben, Opa."
Auf einmal öffneten sich die Augen des Raben.
War dieser Vogel in der Lage, die Sprache der Menschen zu verstehen? Denn er wirkte seltsam angespannt und fast bereit um wegzufliegen.
"Nein, meine Liebe. Weiße Raben gibt es nur so selten, wie es Engel wie dich gibt."
Er strich sich durch sein Bart. Eine Geste, die er immer tat, wenn er am Grübeln war. Die Falten um seine Augen herum vermehrten sich.
"Hab ich dir seine Geschichte erzählt?"
"Nein, Opa."
"Gut, dann ist es an der Zeit."
Die Laubblätter knirschten unter seinen Füßen als er zum Wald schritt. Ein Geräusch, das Emma liebte. Sie folgte ihm. Inzwischen hatte sich der Rabe auf ihren rechten Schulterblatt festgekrallt.
"Es war an einem Wintertag, an dem der eisige Wind mir jeden Morgen ins Gesicht peitschte. An dem die Kälte es erschwert hatte, mich von meinem warmen Bett zu lösen. Aber es musste nunmal Holz gehackt werden, damit das Bett auch weiterhin warm bleiben konnte. Also zog ich meine Lederjacke an und machte mich mit einer Axt auf den Weg. Nur wenige Schritte später hörte ich ein Wimmern. Ja, auch Vögeln wimmern. Besonders herzzereißend."
Ihr Kopf wendete sich zu ihrer rechten Seite. Warum 'Rabe' wohl traurig gewesen war?
"Er war verwundet, vom Nest vertrieben worden, schrie, weil er trotz allem noch am Leben bleiben wollte."
Emma spürte jetzt den Asphaltboden unter ihren Füßen. Das Stadtzentrum war in der Nähe des Waldes.
Sie konnte nicht sehen, wie ihr Opa mehrmals atmete als ringe er mit sich. Sie hörte nur, dass er deutlich langsamer ging als vorher. Und sie spürte wie Rabe verwundert ihm nachsah.
"Seine Mutter hatte ihm vom Nest vertrieben. Weil er anders war. Darum wollte sie ihn nicht lieben. Aber das soll nicht heißen, dass er weniger wert war als seine Geschwister. Denn wohingegen sie pechschwarz waren, war er schneeweiß und glich einem Engel."
Mehrmals biss er sich auf die Lippen, hörte nicht die vorbeifahrenden Autos, denn seine Gedanken waren schon laut genug.
Schließlich blieb er vor dem Eisentor eines Heims stehen.
"Emma, gib mir deine Hand."
Sie gehorchte ihm. Ihre kleine Hand war unter seiner großen Tatze kaum zu sehen. Seine vernarbte, raue Hand stellte ein Kontrast zu den ihren dar.
Aber dafür hatte er auch hart gearbeitet.
"Wie fühlt es sich an?"
"Warm", war ihre Antwort und sie lächelte ihn an. Eine Zahnlücke machte sich bemerkbar.
"So soll's auch bleiben."
Er kniete sich, doch überragte sie trotzdem enorm, wodurch er sich beugen musste.
"Hör gut zu Emma. Dieser Rabe wird dich niemals im Stich lassen, denn er braucht dich umd du wirst ihn auch brauchen."
Sie mochte das alles nicht. Sie mochte es nicht wie leise Opa sprach, als wollte er verhindern, dass sie zusammenbrach. Sie mochte es nicht, wie er runtergekniet war als wollte er imsgeheim um Gnade bitten. Dass er auf einmal von einer Zukunft sprach.
Sie mochte das alles nicht.
Tränen rollten ihr über die Wangen, wodurch ihr Opa noch tiefer in Selbsthass versank.
Er drückte ihre Hände noch fester.
"Ich bin nicht besser als die Mutter dieses Raben. Bitte, Emma. Du sollst mir niemals vergeben. Gott hatte mir ein Engel geschickt, um ihn zu bewahren und meine Sünden los zu werden. Aber ich bin ein zu großer Sünder."
Ihre Hände zitterten auf einmal. Ihr Opa weinte stumm, was sie nicht sah. Doch das Zittern sollte sie nie wieder vergessen können. Wie das Beben einer großen Mauer fühlte es sich an. Als würde ein Baum, anden sie sich lange Zeit gelehnt hatte, drohen umzufallen.
Abrupt ließ er los und stand mit einem Ruck auf. Emma war verwirrt und verzweifelt zugleich.
Der Tag hatte doch so angefangen, wie jeder andere auch. Wann hatte Opa diesen Entschluss gefasst?
Dieser drehte sich zu ihr um.
"Wenn du jemals wieder mein Duft riechen solltest oder das Gefühl kriegen würdest, ich sei in deiner Nähe.…so ist es bloß die Spur einer lebendigen Erinnerung. Für dich bin ich gestorben."
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"Warum bleibt der Herr jedesmal dort stehen und guckt den Kindern zu, Frau Wiseck?"
Frau Wiseck lächelte schief. Eine Andeutung auf Mitleid.
"Sie irren sich. Er schaut nicht den Kindern zu. Er beobachtet jedesmal eine bestimmte Person. Folgen Sie doch seinem Blick."
Die junge Besucherin folgte neugierig ihrer Anweisung und stellte fest, dass er eigentlich Emma beobachtete.
Sie war auf den Ast eines Baumes geklettert, während ihr Rabe über ihr in Kreisen flog. Die Kinder hänselten sie oft, weil sie das Gefühl hatten, dass sie merkwürdig war. Doch bei der letzten Auseinandersetzung hatte der Rabe auf einen der Jungen so stark gepiekt, dass sie sich nicht mehr in ihre Nähe trauten.
Der Wind tanzte mit ihren goldenen Haaren. In ihrer Hand hielt sie etwas ganz fest.
"Was hält sie in ihrer Hand?"
"Ein Grießbeutel. Ich erwärme ihn für sie. Sie meint, dass die Wärme des Beutels sie an jemanden erinnern würde, der in ihr noch weiterlebt."