Weißer Griff
Herr Schmidt wachte von einem unsanften Klopfen auf. „Ja“, sagte er nur und schaute durch das große Fenster nach draußen, wo er ein paar graue Dächer und genauso grauen Novemberhimmel sah. Die Tür ging rasch auf und Pflegerin Melanie mit gefärbten, roten Haaren lief ins kleine Zimmer herein.
„Guten Morgen, Herr Schmidt! Na, wie geht es Ihnen denn heute? Haben Sie gut geschlafen?“, fragte sie laut und lächelte ihr gelerntes Lächeln. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und machte das Fenster auf.
„Das Frühstück ist fertig. Sie können runter kommen, Herr Schmidt“, sagte sie, mit dem Rücken zu ihm stehend. Es war Zeit zu gehen, das wusste Herr Schmidt.
Auf dem Weg in den Speisesaal dachte er noch darüber nach, was heute in seinem Leben geschehen könnte: Besuche? Nein, wer wird schon kommen. Arzt? Auch nicht. Vielleicht, spazieren gehen? Er sah nach draußen, es regnete.
Unten angekommen, nahm er ein Tablett und stellte sich wie alle anderen in eine Menschenkette. Als erstes waren die Brötchen da. Herr Schmidt hielt kurz an, um eins auszuwählen, als er auf der Theke ein Messer sah. Es war ein ganz normales Küchenmesser, nur der Griff war nicht schwarz wie gewöhnlich, sondern weiß. Weiß wie... und Herr Schmidt begann sich zu erinnern:
„Michi! Steh auf Michi! Die Sonne scheint schon so lange und du schläfst!“, weckte ihn eine sanfte Stimme. Michi schlug die Augen auf und musste sie gleich zusammenkneifen, so hell war es im Zimmer! Im warmen Sonnenlicht sah er eine weiche Gestalt, die am Rande seines Bettes saß:
„Mama!“, sagte Michi, „Mama!“, wiederholte er, sprang auf und umarmte sie. „Ach, Michi! mein Langschläfer“, streichelte sie ihn zärtlich und lächelte, „na, lauf schon nach unten. Das Frühstück ist fertig!“ Und, Michi lief! Er war ein Kind, er war frei und die Sonne, schien am Himmel noch heller als gestern.
Während Michi schnell die frische Milch trank überlegte er, was er denn heute so machen könnte: Indianer spielen? Nein, das hat er schon gestern. Tier spielen? Aber welches? Plötzlich fiel ihm ein, dass er vor kurzem ein Buch über Mongolen und ihren Anführer Dschingis Khan gelesen hatte. So werde ich heute der große Khan, dachte er mit Vergnügen. Aber ich brauche ein Schwert. Ein Schwert? Wo nehme ich das denn her? Michi überlegte. Da fiel sein Blick auf das große Küchenmesser, das direkt vor ihm auf dem Tisch lag.
Das wird mein Schwert sein! Damit erobere ich die ganze Welt! Er nahm das Messer mit dem weißen Griff, prüfte es ganz genau und streckte siegreich seine Hand in die Höhe. Sonnenstrahlen fielen auf die blankpolierte Klinge und ein heller Blitz durchzuckte das ganze Zimmer. „Ich bin der große Dschingis Khan! Der Herrscher der Welt!“, rief Michi aus, sprang auf und lief nach draußen. In eine Welt, wo nur er allein der Herrscher war.
„Ah, da ist es“, brummte ein Koch als er sein Messer fand. Diese Stimme holte Herr Schmidt wieder zurück. „Bitte, kann ich Ihr Messer haben?“, fragte er plötzlich beherzt.
„Das Messer wollen Sie haben?“, der Koch starrte ihn irritiert an. „Wozu brauchen Sie es denn? Ist doch nur ein ganz normales Küchenmesser?“
Herr Schmidt sah sich um, aber in den müden Augen der Menschenkette fand er nur Fragen und Entsetzen.
„Ach ja, richtig, ist ja nur ein Messer“, stammelte Herr Schmidt, wie zu sich selbst „Wozu brauche ich das? Entschuldigen Sie mich bitte.“ Mit diesen Worten drehte es sich um und ging raus, ohne sein Tablett mitzunehmen. Er wusste, dass es draußen regnete, aber er musste raus.
„Herr Schmidt! Sie haben hier was vergessen. Bitte nehmen Sie ihr Tablett mit! Sie behindern damit die anderen!“, rief die Pflegerin Melanie ihm noch nach.