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Weiße Weihnachten
Es war der 23.12, draußen herrschte eine zauberhafte Atmosphäre. Mit ihren tief stehenden, schwarz umrandeten Augen sah Cathrin die vom Schnee vollends in weiß gehüllte Nachbarschaft. Im Vorgarten der Nachbarn stand ein zwei Meter großer Tannenbaum, welcher durch die nun halb von Schnee bedeckte, wundervolle Verzierung, aus der Kulisse eines erstklassigen Weihnachtsfilm hätte stammen können. Auf dem vom Schnee befreiten Fußweg war eine Familie unterwegs. Vor allem die beiden Söhne, keiner älter als sechs, schienen die weiße Pracht in vollen Zügen zu genießen. Die Sonne strahlte am blauen Himmel und ließ den Schnee, in dem sich die beiden rotbäckigen Jungen wälzten, noch heller erscheinen. Die Kälte, die Sonne und der Schnee schienen für einen Moment die gesamte Natur zu hypnotisieren. Es war ein Tag, an dem selbst Wintermuffel keine schlechte Laune hätten haben können.
Doch bei Cathrin war das anders. Sie saß, in der einen Hand eine Tasse Kaffe, in der anderen eine Zigarette, in ihrem alten Schaukelstuhl und ihrem Gesicht war keine Regung zu entnehmen. Ihr dünnes, über die Jahre aschgrau gewordenes Haar war zu einem Dutt am Hinterkopf zusammen gesteckt, während zwei Strähnen über ihrem Gesicht lagen. Ihrem Gesicht konnte man die vergangen Jahrzehnte gradezu ansehen. Die faltige Haut umschloss ihre rissigen Lippen genauso wie ihre traurigen, von Erschöpfung gekennzeichneten Augen. Cathrin hatte schon lange kein Weihnachten mehr gefeiert, letzten Monat achtzig geworden hatte sie ihre Freunde und Bekannten weitestgehend überlebt. Zu ihrem achtzigsten Geburtstag hatte sie zwei Postkarten erhalten. Eine von ihrem Sohn aus Florida und eine vom ortsansässigen Hilfsverband, welcher ihr täglich ihr Mittagessen brachte. Ihre Familie, zumindest die Verbliebenen, ihr Mann war vor fünf Jahren an Lungenkrebs gestorben, hatte sie schon seit zwölf Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Hier und da eine Postkarte, das war alles. Nicht, dass sich Cathrin großartig darum gekümmert hätte, nein, sie hatte schon lange mit ihren Söhnen abgeschlossen.
Schon seit sechs Uhr wach, aufgrund ihrer schwachen Blase, verbrachte sie diesen weihnachtlichen Vormittag wie so oft vor ihrem Fenster. Manchmal saß sie bis Abends dort und bewegte sich einzig um zur Toilette zur gehen. Ihr Leben erschien ihr wie so oft leerer als die Versprechen der vielen Politiker, die sie erlebt hatte. Wenn ihre beherrschenden Charakterzüge nicht Feigheit und Gleichgültigkeit gewesen wären, hätte sie ihrem Leben wohl schon lange ein Ende gesetzt. Aber so lebte sie ohne jeglichen Sinn oder irgendeine Art von Beschäftigung vor sich hin. Sie wäre auch gerne umgezogen. Denn diese idyllische Vorstadtatmosphäre war ihr in den letzten Jahren immer verhasster geworden. Allerdings hätte sie nicht gewusst, wo sie hinziehen sollte. Sie konnte sich keinen Ort vorstellen an dem sie sich wohler gefühlt hätte als in diesem Haus in dem sie auf die Welt gekommen war, in dem sie aufgewachsen war und welches ihr ganzes Leben ihr Wohnsitz geblieben war. Das Haus, von der Fläche her gute 300 m² groß, wirkte verlebt. Die Front bestehend aus einer überdachten Veranda, die sich zwei Meter breit und je fünf Meter lang von der Tür zu jeder Seite erstreckte und an beiden Seiten eingerahmt war von einem Rosengewächs, welches augenscheinlich die letzten Jahre keine Heckenschere mehr gesehen hatte. Die teilweise abgeblätterte Farbe, die früher einmal weiß gewesen sein musste, mittlerweile aber ein Mischmasch aus verschiedenen Grautönen darstellte, deutete zusammen mit dem verwitterten Holz der Veranda und den verwachsenen Rosen nur sehr schwach die Eleganz an, den dieses Haus vor zehn Jahren gehabt haben musste. Es war ein großes Haus mit vielen Räumen. Cathrin aber benutzte lediglich drei von ihnen. Das Schlafzimmer, die Küche und das Wohnzimmer mit dem Fenster zur Straße. Gelegentlich benutzte sie noch den Keller in dem es modrig und nach verwesenden Kleintieren roch, um Vorräte zu verstauen oder in Erinnerungen zu schwelgen.
In der Nachbarschaft wurde Cathrin nicht beachtet. Die meisten Anwohner waren junge Paare die hier in der Nähe in der großen Softwarefirma angestellt waren und von dieser die Häuser zugewiesen bekommen hatten. Früher wohnten hier Familien in der dritten Generation, jeder kannte jeden, doch mit der Zeit verstarben Cathrins Jugendfreunde und die Kinder wollten nicht weiter dort wohnen bleiben. Sie machten Karriere und zogen fast gemeinschaftlich in die größeren Städte. Als dann die Softwarefirma diese Grundstücke kaufte, um ihren Mitarbeitern praktischerweise Häuser in der Nähe zur Verfügung zu stellen, ging Cathrin immer seltener vor die Tür. Die Mentalität der jungen Menschen gefiel ihr nicht und die jungen Leute konnte ebenfalls nichts mit der griesgrämigen, völlig unbekannten, alten Frau anfangen.
Sie hatte ebenfalls einige Angebote für ihr Haus bekommen, doch schlug sie sie alle aus. Sie hätte niemals dieses mit Erinnerungen gespicktes Haus verlassen können. Und außerdem, genau genommen war Cathrin ja gar nicht alleine. Denn einmal im Jahr, meistens zur Weihnachtszeit, suchte sie die Gesellschaft ihrer engsten Verwandten. Engste Verwandten? Ihr Mann an Krebs gestorben, ihre Eltern an Altersschwäche und ihre große Schwester, kurz bevor sie wegziehen wollte, durch einen schrecklichen Unfall. Sie war aus dem ersten Stock gekommen, eine Stufe der alten Holztreppe gab nach und sie hatte sich das Genick gebrochen. Das war nun zwölf Jahre her. Beerdigungen veranlasste Cathrin nicht, sie war weder gläubig noch hätte sie gewusst mit wem sie trauern sollte.
Doch seit diesen zwölf Jahren gönnte auch Cathrin sich jedes Jahr einmal etwas Freude. Dann saß sie zusammen mit ihren Eltern, ihrem Mann und ihrer großen Schwester in ihrem Keller und schwelgte in Erinnerungen. Sie entschuldigte sich bei ihren Eltern, dass sie ihre Tabletten weggeworfen hatte, bei ihrem Mann, dass sie ihn hatte weiter rauchen lassen und bei ihrer großen Schwester, dafür dass sie die Treppe angesägt hatte. Keiner von ihnen war ihr böse und so verbrachte sie jedes Jahr einen Abend bei ihnen und schwelgte in Erinnerungen. Doch ohne ihre Köpfe jemals zu enthüllen, denn zu Gesicht bekommen wollte sie sie nicht, so blieben sie in ihrer Erinnerung immer lebendig.