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Weiße Wände
Ihr Bett ist schmal. Wir liegen eng beieinander. Viertel nach elf. Draußen schreit jemand. Eine Flasche zerschellt auf dem Asphalt. Ich drehe mich auf den Rücken. „Weiße Wände“, sage ich. „Kein Bild, nichts.“
„Ich mag weiße Wände. Die Klarheit.“
„Mein Schlafzimmer ist rot.“ Ich lege meine Hand auf ihren Bauch, der weich und entspannt ist.
„Euer Schlafzimmer.“
„Ich schlafe seit einem Jahr auf der Couch.“
„Warum trennt ihr euch nicht, wenn da nichts mehr ist?“
Mondlicht fällt durch die Spalte im Vorhang.
„Ist nicht so einfach.“
„Doch“, sagt sie. „Ist es. Es ist so einfach.“ Sie lässt ihren Kopf auf meine Brust sinken. „Ich habe Angst vor dem Verlorengehen. Kannst du das verstehen?“
Der Flur ist dunkel. Als wir uns umarmen, kommt sie mir klein und zerbrechlich vor. „Ich ruf‘ dich an“, sage ich und greife nach der Türklinke. Sie nickt schweigend. Der Cherokee steht unten vor dem Haus. Ich gehe noch ans Büdchen gegenüber, kaufe eine Schachtel Marlboro und Cherry Coke. Im Wagen zünde ich mir eine Zigarette an und drehe die Anlage auf. Ihr Schlafzimmer im Rückspiegel. Dritter Stock. Hinter den Vorhängen gedämpftes Licht. An der nächsten Ampel öffne ich die Dose. Die Cola ist eiskalt und zuckersüß.
Nach Mitternacht, kaum Verkehr. Ich fahre mit Hundertzwanzig auf den Zubringer. Das Mobiltelefon vibriert in meiner Brusttasche. Tyler Childers singt: It takes twice as long to build bridges you burn. And there is hurt you can cause time alone cannot heal. Ich zünde mir noch eine Zigarette an, öffne das Seitenfenster. Die frische Luft tut gut. Das erste Mal bin ich ihr auf einer Vernissage begegnet, zu der mich ein Freund spontan mitgeschleppt hat. Ich kam gerade von der Jagd und hatte bei einem Kiosk um die Ecke drei Flaschen Mühlen gekauft. Der Künstler, dessen Werke an diesem Abend präsentiert wurden, hieß Nigel. Nigel war anwesend, wollte aber nicht mit dem Publikum sprechen. Stattdessen las eine Kunsthistorikerin einen Text über moderne Kunst vor. Ich trank das Bier, das ich in einer Plastiktüte mitgebracht hatte und tat so, als lese ich den Ausstellungskatalog. Sie stand mit einem Glas Wein vor einem der Bilder. Sie war mir gleich aufgefallen. Zierliche Figur. Lange, braune Haare. Augen wie flüssiger Honig. Komplett in schwarz gekleidet. Später erzählte sie mir, ihr Lieblingsfilm sei Only Lovers left alive von Jim Jarmusch. Ich schenkte ihr das letzte Bier, und wir tauschten Nummern aus. Ein paar Tage danach schrieb sie mir eine SMS: Ich hab so ein krasses Nähebedürfnis. Ich weiß, dass du das nicht erfüllen kannst, ich wollte dich das nur wissen lassen.
Die Lastwagen werden weniger. Wieder das Mobiltelefon. Ich drehe die Musik lauter und nehme die nächste Abfahrt, vorbei am Campingplatz. Im Sommer habe ich dort ein paar Wochen in einem gemieteten Wohnwagen verbracht. Ich wollte einfach nicht mehr streiten. Seltsame Tage. So ruhig, dass ich nicht einschlafen konnte. Vor dem Fenster des Wohnwagens hingen billige Leuchtgirlanden. Kleine Lampions in allen möglichen Farben. Rot. Blau. Gelb. Ich habe sie jede Nacht angeknipst und so lange angestarrt, bis mir die Augen zugefallen sind.
Hinter dem Campingplatz die Fabrik. Dichte Rauchschwaden hängen über den Schornsteinen. Ich nehme eine Abkürzung, umgehe die Ampeln. An der Talsperre vorbei durch den Wald. Die Straße wird abschüssig, Trespengras schlägt auf die Frontscheibe. Hinter der Dickung öffnet sich die Landschaft. Unten in der Senke der Stausee, eine große, dunkle Fläche. Das Mondlicht spiegelt sich auf dem Wasser, sanftes Glitzern. Wir haben Jason Isbell gehört, Reissdorf in Dosen getrunken und uns das erste Mal an einer Straßenecke geküsst. Weiße Wände. Sie ist Sechsundzwanzig. Vielleicht verstehe ich es einfach nicht mehr. Den Schatten auf der Fahrbahn sehe ich erst im letzten Moment. Ich steige auf die Bremse, die Hinterreifen brechen aus, und ich lenke dagegen, bis der Wagen auf dem Randstreifen zum Stehen kommt. Meine Hände zittern, als ich die Musik abstelle. Im Lichtkegel der Scheinwerfer erkenne ich die Umrisse eines länglichen, flach auf dem Asphalt ausgestreckten Körpers. Hinter mir absolute Dunkelheit. Ich lasse den Motor laufen und steige aus.
Ihre Küsse schmecken, wie Küsse schmecken sollen. Wenn sich unsere Lippen berühren, rückt alles andere in weite Ferne, übrig bleibt nur die Verschmelzung. Die Luft ist klar und kalt, mein Atem kondensiert, dünne, weiße Wolken. Dunkle Tieraugen starren mich an, ganz ohne jedes Geheimnis. Die Läufe der Ricke stehen schräg abgewinkelt vom Körper ab, der Rücken durchtränkt von Blut, die Wirbelsäule gebrochen. Ich bleibe am Rand des Lichtkegels stehen und lege meine Hand auf den offen stehenden Äser, dann ziehe ich die Ricke an den Hinterläufen von der Straße auf ein Stück feuchtes Grün. An der Flanke klafft ein langer Riss, teilt den weichen Bauch in zwei Hälften. Mitten im schartigen Gewebe sehe ich die Bewegung, ein regelmäßiges, rhythmisches Zucken. Das Schlagen eines Herzens.
Der Tod schmeckt nach Kupfer, sagte mein Vater früher immer. Ich fahre mit den Fingerkuppen den Riss nach. Das Blut ist warm und klebrig. Sternenklare Nacht. Heller Mondschein, Sauensonne. Ich gehe zurück zum Auto, nehme die Dose Cola von der Mittelkonsole. Das Auspuffrohr glüht rot. Ohne seine Mutter wird das Kitz nicht überleben. Das weiß ich. Tatsachen. Fakten. Wahrheiten. Das Mobiltelefon vibriert. Ich hole es aus der Hemdtasche, lege es auf den Fahrersitz und trinke den letzten Schluck.
Für einen Moment zweifle ich, einen Moment halte ich inne, höre auf eine Stimme, warte auf ein Zeichen. Nichts. Ich ziehe die Ricke bis auf einen flachen Felsvorsprung, rolle sie über den Grat, und sie verschwindet in der Dunkelheit. Der Hang ist steil. Es geht schnell. Unten fällt sie ins Wasser. Ein kurzes Geräusch noch. Sie ist weg.
Ich fahre. Ich rieche das Blut an meinen Händen. Kupfer. Ich denke an meinen Vater, der schon lange tot ist. Was hätte er getan? Ich denke an die Bilder von Nigel. An ihre kleinen, dunklen Brustwarzen. In der Küche brennt Licht. Ich sehe die Schemen meiner Frau hinter der Fensterscheibe. Sie sitzt am Tisch, wartet. Ich werfe die Dose in die gelbe Tonne, ziehe die Stiefel vor der Tür aus, lasse sie auf der Schmutzmatte stehen. In dem Wohnwagen, den ich im vergangenen Sommer gemietet habe, schlief ich manchmal komplett angezogen - Hemd, Jacke, Blundstones. Ich habe mich einfach so hingelegt, es war mir egal. Ich schließe die Haustür auf, drücke die Klinke mit dem Ellenbogen herunter. Im Flur der Geruch von gebratenem Fleisch. Auf dem Tisch steht eine offene Flasche Schwarzriesling. Sie sitzt da, raucht eine Zigarette. Ihr Haar ist hochgesteckt und noch feucht von der Dusche.
„Wie war das Spiel?“, fragt sie.
„Was?“
„Wie hat der FC gespielt?“
„Unentschieden.“ Ich gehe zur Spüle, drehe den Wasserhahn auf, halte meine Hände unter den Strahl.
„Ist das Blut?“
Ich nicke.
„Bist du nicht ein bisschen zu alt dafür?“
„Ich hab' mich nicht geprügelt. Ist von `nem Stück Fallwild. Oben an der Talsperre. Ich habe es von der Straße gezogen, die Ecke da ist ziemlich gefährlich.“ Ich nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setze mich an den Tisch. Sie tippt mit dem Zeigefinger auf den Rand ihres Weinglases. „Modeste“, sagt sie. „Modeste und Schaub.“
Ich sehe sie an. Sie lächelt kalt und sagt: „Zwei Null.“
„Zwei Null“, wiederhole ich und öffne das Bier mit der Kante meines Feuerzeugs.
„Du hast das Spiel nicht gesehen.“ Sie schüttelt den Kopf und nimmt einen Schluck Wein. „Du warst … es gibt da jemand anderen, so ist's doch, oder nicht?“
Ich schweige. Ich trinke. Der Tod schmeckt nach Kupfer.
„Weißt du eigentlich, dass du ein richtiger Feigling bist? Warum sagst du es nicht einfach? Warum sagst du nicht die Wahrheit? Ich meine, du musst es nicht sagen. Ich weiß, dass es so ist. Ich weiß es!“
„Nicht. Ich will nicht streiten.“
„Wir streiten nicht. Wir reden.“
„Ja?“
Sie atmet aus. „Ja.“
„Es gibt jemand anderen …“
„Ich weiß.“
„Okay, dann weißt du es …“
„Nigel“, sagt sie. „Auf der Vernissage von diesem Nigel.“
„Was war da? Was soll da gewesen sein?“
„Hannes hat erzählt, dass er dich mitgenommen hat.“ Sie senkt den Blick. „Und ich dachte noch, du und Kunst?“
„Hannes“, wiederhole ich.
„Ja." Sie führt das Glas an die Lippen, setzt es wieder ab. „Sie soll ziemlich jung sein.“
„Sie mag weiße Wände.“
„Weiße Wände?“
„Ja, die Klarheit.“
„Wir, wir bräuchten auch mal Klarheit, oder?“, fragt sie und legt die Hand auf den Hals. „Ich hab‘ gedacht, ich hab wirklich gedacht, wir kriegen das wieder hin, und nach Irland, da, da war es gut, ich hab gedacht, das wird wieder, da hängt so viel dran, wir geben uns noch `ne Chance, irgendwie schaffen wir das, ganz ehrlich …“
Die dunklen Augen der Ricke, wie sie mich angestarrt hat, seelenlos, ohne jeden Funken.
„Aber … so, so kann das einfach nicht mehr weitergehen.“ Ihre schmalen Finger umfassen das Glas. „Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ich höre dir zu.“
„Ist alles nicht so einfach, ich …“
„Doch“, unterbreche ich sie. „Ist so einfach.“ Ich trinke einen Schluck, stelle die Flasche auf den Tisch und hole die Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche. „Ich zieh wieder in den Wohnwagen, und dann … dann suchst du dir was, in Ruhe, so was braucht Zeit. Ich glaube, das wäre die beste Lösung, bevor wir zu irgendwelchen Anwälten gehen. Brauchen Abstand von allem. Von uns. Muss nicht schmutzig werden, das willst du nicht, und ich will das auch nicht. Mit dem Haus und alles, das sehen wir dann.“
„Einfach so?“
„Ja.“
Sie schnippt mit dem Finger. „Nach all den Jahren … und das war`s, das ist alles?“
„Manchmal ist das so. Manchmal muss man eine Entscheidung treffen.“
„Ja“, sagt sie. „Ja, da hast du Recht.“
Wir sehen uns schweigend an.
„Und du willst wirklich in diesem Wohnwagen leben?“
Ich zünde mir eine Zigarette an, nehme zwei, drei Züge, asche in den Kronkorken. „Ist doch der Wohnwagen von meinem alten Freund Hannes … nein, schon okay, ich mag es, und ist ja auch nicht für ewig.“
„Nein“, sagt sie. „Ist nicht für ewig.“
Später liege ich auf der Couch im Wohnzimmer. Ich habe eine Otis Redding Scheibe aufgelegt, das dritte, vierte oder fünfte Bier getrunken und die halbe Schachtel geraucht. Draußen dämmert es. Ich denke an nichts. Ich schließe die Augen. Otis singt. Als ich aufwache, ist es zehn Uhr morgens. Im ganzen Haus ist es still. Ich gehe in die Küche, wo die leere Flasche Wein auf dem Tisch steht. Im Mahlwerk die letzten Bohnen. Ich setze Wasser auf. Die Schwanenhalskanne war ein Geschenk von ihr. Zum Vierzigsten. In meinem Mund der Geschmack von schalem Bier und kaltem Rauch. Ein stechender Schmerz hinter meiner Schläfe. Ich halbiere mit dem Jagdmesser eine Zitrone, presse den Saft in die Kaffeetasse. Mein Mobiltelefon vibriert. Eine SMS. Ihre Nummer ist unter Kurt – Drückjagd abgespeichert.
Das, was ich dir gerade schreibe, ist sehr ehrlich und ungefiltert. Ich denke an dich. Aber auch an das größere Ganze. Was für mich möglich sein könnte und was nicht. Ich denke da seit heute Nacht drüber nach. Ich war lange nicht so mit jemandem, wie in den letzten Tagen mit dir. Trotzdem fehlt mir etwas. Ein Gefühl, was ich brauche, um mich weiter auf Dich einzulassen. Das Gefühl, dass ich alles von dir will. Dass es für mich keine Grenzen gibt. Eine gewisse Form der Bedingungslosigkeit.
Ich lasse das Telefon auf der Anrichte liegen, setze mich an den Tisch, lege beide Hände um den Flaschenhals. Das Glas ist kalt, glatt, perfekt. Modeste und Schaub. Zwei zu Null. Ich lache, dann lasse ich die Flasche vom Tisch rollen. Sie fällt auf die Kacheln, zerspringt in große und kleine Scherben.
Das Kitz wartete darauf, geboren zu werden. Weder tot noch lebendig. Nein, es war richtig. Es war das einzig Richtige.