Weiße Lilien
„Haste ma' 'ne Mark?“
„Wir zahlen jetzt mit Euros!“
„Haste ma' 'ne Mark, 'ne Mark?“
„Nein, lass mich in Frieden!“
„Haste...“
Der Mann hält mir eine weiße Lilie entgegen. Verkaufen will er sie. Loswerden. Er ist alt, grau, verwirrt, mit einem Bein mehr bei den Toten als bei den Lebenden. Und doch macht mir der Mann Angst. Nicht vor ihm, nicht um ihn. Fremde sind mir egal. Angst um mich. Woher? Ich weiß es nicht.
„... ma' 'ne Mark?“
In Panik beginne ich zu laufen, ich will dem Alten entfliehen. Meine Schritte stolpern vor mir über das graue Kopfsteinpflaster. Die grellen Fassaden mittelalterlicher Fachwerkhäuser ziehen an mir vorbei. Ihr Holz ist frisch, erst kürzlich renoviert. Das gammlige, alte wurde ersetzt. Nicht mehr tauglich.
Die Sonne scheint, ein Vogel singt, und noch im Laufen vergesse ich den Alten. Ich habe es geschafft, mein Ziel erreicht, meiner Angst entflohen. Allein setze ich mich auf eine verlassene Holzbank, bestaune den Weg der hinter mir liegt und wiege mich in Zufriedenheit. Im Weglaufen bin ich gut.
Ein paar schneeweiße Lilien blühen im Zierbeet neben der Bank. Und wieder die selbe Angst. Nicht vor den Blümchen, nicht um sie. Die Natur ist mir egal. Angst um mich. Woher? Ich weiß es nicht.
„Hübsch, nicht wahr?“
Ich halte in meiner Bewegung inne. Gerade will ich noch meinem Trieb folgen. Die Blumen ausreißen. Ihrem Leben ein Ende bereiten. Doch ich erkenne, dass das meine Sorge nicht beruhigen doch vertiefen würde. Ich beruhige mich. Die Sonne. Der blaue Himmel.
Das Mädchen, das zu mir spricht ist schön. Und jung. Doch selbst auf ihrem kindlichen, reinen Gesicht zeigen sich schon Fältchen und ihre Augen wissen, was Abschied nehmen heißt. Und ich habe Angst. Nicht vor dem Mädchen, nicht um sie. Kinder sind mir egal. Angst um mich. Woher? Ich weiß es nicht.
„Komm mein Kind.“
Die Mutter nimmt sie bei der Hand. Zerrt sie von mir. Die Kleine ist gefangen. Frei sein wird sie später. So frei, wie ich es bin. Eine weiße Lilie steckt in ihrem Haar.
Meine Flucht ist sinnlos. Und was ist mit meiner Angst? Ich gehe zurück. Zurück zum alten Mann. Unterhalte mich mit ihm, über Euros, seine Kinder und ihren Tod. Der Mann erzählt viel, aber er antwortet nicht auf meine Fragen. Der Mann erinnert sich, weint.
Und morgen wird man eine weiße Lilie auf dem grauen Kopfsteinpflaster finden, auf dem er heute noch schlief.
Und meine Angst wird erst zu Ende sein, wenn sie sich erfüllt.