Weiße Farbe
Sie sitzen nebeneinander auf einer kleinen, weißen Parkbank. Das Wetter hat die Farbe bereits dazu gebracht abzublättern, und darunter das dunkle Holz zum Vorschein zu bringen. Wie ein Sonnenbrand bei dem sich die Haut abschält, nur, dass in diesem Fall die darunterliegende Haut dunkel ist, anstatt hell. Oder, so wie manches Mal unter einer Tapete, die dahinterliegenden Wand zum Vorschein kommt, die sie eigentlich verdecken sollte. Oder wie die Geschichten der Frau, die neben ihm sitzt. Von außen betrachtet unschuldige, süße Anekdoten, aber er weiß, dass sich unter diesen Geschichten eine Leere verbirgt, die sie überdecken sollen. Diese und noch andere Gedanken gehen ihm durch den Kopf, als er auf dieser Parkbank sitzt und mit einem Lächeln auf dem Gesicht den Geschichten lauscht.
„Heute war wieder viel los!“, sagt sie mit großen Augen, die ihn voller Freude anblicken. „Ich war spazieren. Ganz weit. Ich bin durch den Wald gegangen und hab dort zwei Männer getroffen! Und wir haben eine Weile geredet, über zuhause! Ich wollte ja eigentlich nach Hause, aber da brauche ich zu lange. Das hab' ich ihnen auch gesagt. Sie waren sehr nett, haben mich die ganze Zeit angelächelt. Aber dann musste ich wieder zurück, du weißt ja, ich hab' ja noch andere Sachen zu tun. Die Wäsche, wäscht sich ja nicht von allein und das Essen kocht sich ja auch nicht von allein und nichts tut eigentlich irgendwas von allein!“, sagt sie und grinst ihn an mit einem verschwörerischen Unterton, als habe sie gerade einen Witz gemacht, den nur sie beide verstehen. „Ja, du hast Recht. Nichts macht eigentlich was von allein. Alles muss man selber machen!“, antwortet er ihr mit einem vorsichtigen Lächeln. „Du musst ja reden, Peter! Du kochst doch nicht oder machst die Wäsche! Das mache ich doch immer!“, sagt sie und sieht ihn mit einem gespielt anklagenden Blick an. Er wird leicht rot, weil er nicht weiß, was er darauf antworten soll. Deshalb murmelt er mit leicht verlegenem Blick: „Ja, du hast Recht!“ Sie sieht ihn an und lächelt wieder. „Schau nicht so, ich weiß ja du musst arbeiten. Ich mache den Haushalt, das ist nur gut so! Ich weiß noch als du einmal versucht hast, für mich zu kochen! Alles war voller Rauch! Nein, den Haushalt mache ich allein. Das ist besser so!“, erklärt sie ihm. „Ja, stimmt!“, antwortet er darauf. „Du arbeitest auch so viel, ich habe das Gefühl, wir sehen uns kaum noch…“, sagt sie und sieht ihn vorwurfsvoll an. „Dein Sohn, weiß ja kaum noch wie du aussiehst! Simon, er ist so brav! Hilft mir immer!“, meint sie und ihr Ausdruck wird zärtlich, liebevoll, als ob sie Simon vor sich sehen könnte. „Tut mir leid“, murmelt er wieder.
Doch sie sieht in die Ferne und er merkt, dass sie in Gedanken nicht mehr bei ihm ist.
„Ich hab' gestern auch mit Margit geredet. Diese Frau hört einfach nicht auf zu reden. Aber was soll man machen. Ich hab' gelächelt und sie hat geredet!“, sagt sie wieder mit diesem Blick, als würde er genau wissen, was sie meint. Als er nicht sofort reagiert, sagt sie mit leicht verärgertem Blick: „Margit, die Frau von Oliver. Unsere Nachbarin!“ „Ja, natürlich!“, sagt er schnell und sieht zur Seite. „Ja, sie redet und redet. Das muss sie machen und dies muss sie machen. Redet und redet!“, meint sie und schaut ihn an mit diesen unschuldigen, großen Augen. Er nickt bloß und weiß wieder nicht, was er sagen soll. Für einen kurzen Moment wirkt sie stutzig, doch es dauert nicht lange und sie lächelt wieder. Sie sagt ab diesem Moment nichts mehr, sondern lächelt einfach. Es ist ein schöner Tag, blauer Himmel und kaum eine Wolke in Sicht. Alles wirkt friedlich und ruhig, bis auf den einen oder anderen Vogel der vorbeifliegt. Sie sitzen noch eine Weile schweigend nebeneinander, schließlich sagt er: „Wir sollten jetzt reingehen, ich muss leider los.“ Sie sieht ihn an und sagt: „Natürlich, Arbeit! Sicher, wenn du heimkommst, koche ich was Gutes! Du musst Simon heute aber noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen! Er vermisst dich! Er fragt immer nach dir! Er ist so brav, hilft mir immer!“ Er lächelt sie an, traurig, aber das merkt sie nicht. „Sicher, mach ich!“, verspricht er. Dann gehen sie wieder hinein und er bringt sie in ihr Zimmer. Sie setzt sich auf’s Bett und hat wieder diesen entfernten Blick.
Auf dem Nachtkästchen steht ein Hochzeitsfoto. Zwei junge Menschen, die nebeneinander stehen und lächeln. „Also, ich muss jetzt los, ich komm dich bald wieder besuchen!“, sagt er und lächelt sie aufmunternd an. „Ja, die Arbeit. Du arbeitest zu viel. Wir sehen uns kaum noch“, antwortet sie ihm. „Ich komm' wieder sobald ich kann!“, sagt er und fühlt sich schuldig. Schuldig, weil er die Besuche vor sich herschiebt. Schuldig, weil „sobald ich kann“, eigentlich „sobald mich mein schlechtes Gewissen zu sehr plagt“ heißt. Als er gerade das Zimmer verlassen will, kommt ihm eine der Schwestern entgegen. „Herr Müller, schön Sie zu sehen!“, sagt sie, etwas zu enthusiastisch. „Ja, ich wollte wieder mal auf Besuch kommen!“, sagt er. Er weiß, er sollte öfter kommen, dennoch schiebt er es immer wieder vor sich her. Es ist nicht, dass er sie nicht liebt. Das tut er und er ist dankbar, für all' die Dinge, die sie für ihn getan hat. Es ist nicht, dass er sie nicht in seinem Leben haben will. Das will er, er will ja, dass sie ein Teil seines Lebens ist. Bloß weiß er nicht, was er sagen und wie er sich verhalten soll in ihrer Nähe.
Er kann ihr nicht sagen, dass er nicht Peter ist. Dass Peter vor drei Jahren gestorben ist und sie damals schon nicht mehr gewusst hat, wer er gewesen ist. Oder, dass Simon keine Gute-Nacht-Geschichte mehr braucht, weil er mittlerweile erwachsen ist und eine eigene Familie gegründet hat. Seinem eigenen Sohn Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hat und auch dieser mittlerweile zu alt dafür ist. Er kann ihr nicht sagen, dass er ihr Enkel ist und nicht ihr Ehemann. Das wäre grausam, selbst wenn sie es vermutlich bald vergessen würde. Also setzt er sich stattdessen mit ihr auf die Bank und hört ihr zu. Sagt Sachen wie „Ja, stimmt!“ oder „Ja, natürlich!“ und entschuldigt sich für Dinge, von denen er keine Ahnung hat, weil er nicht weiß, was er sonst sagen soll. Für die eine Stunde ist er Peter und sieht zu, wie sich ihr Gesicht aufhellt, wenn sie ihm von ihren „Abenteuern“ erzählt, von all den Dingen, die sie noch erledigen muss, und von Simon, der ihr immer so brav hilft. Für die eine Stunde ist er die weiße Farbe über dem dunklen Holz. Die Schwester tritt ans Bett. Sie sieht sich das Hochzeitsfoto an, aus dem seine Großeltern der Welt entgegen lächeln. „Sie sehen genauso aus wie Ihr Großvater, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“, fragt sie. „Ja!“, sagt er nur und lächelt seine Großmutter an. „Ich muss jetzt los. Bis zum nächsten Mal!“, verabschiedet er sich, drückt seiner Großmutter noch einen Kuss auf die Stirn und geht. Draußen pikt währenddessen eine Amsel an einem Stück Farbe, das angefangen hat sich von der Parkbank zu lösen. Es reißt ab und die Amsel fliegt davon, mit einem Stück weißer Farbe im Schnabel.