- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Weiße Elefanten beim Ballett
Wenn sie ein Land wäre, hieße sie Indien. Indien nimmt keine Entwicklungshilfe mehr an. Das las sie zufällig im Internet.
Anna ist wie der weiße Elefant, selten, weich, blass, schön und nutzlos. Nutzlos wie verrostende Busdepots, versumpfende Staudämme. Nutzlos der Unterricht, weil er sie nicht wirklich weiterführen wird. Auch für die Trainerin, weil sie zu viel in Anna investiert. Weil es die anderen Teilnehmer ablenkt, nervös macht. Weil es die anderen in Frage stellt.
Übungen an der Stange. Am Barre. Sich im Spiegel anschauen, ist für Anna schlimmer als Üben. Noch schlimmer die Pausen, das Umziehen, wenn die anderen verstohlen ihren Körper betrachten. Sie ist keine Wiedereinsteigerin, sondern Spätanfängerin.
21 160 - Ein Zahlenpaar, das allem im Wege steht. 21 Jahre, 160 Pfund. Aus der Sicht der Trainerin, die natürlich viel hübscher ist, mit einem optimistischen Pferdeschwanz, ergibt sich ein Weitwinkeleffekt: die zierlichsten Ballettschülerinnen in der Mitte, die Größeren weiter außen, und am Rand, die Breiteren und Schweren, die lieber beim Tanzen allein in den Spiegel schauen. Anna steht schon fast an der Wand, in der Nähe des Ausgangs. Die Trainerin lächelt ihr aufmunternd zu und gibt ihr genauso hoffnungsvolle Korrekturen.
Ein Foto hängt zuhause in Annas Zimmer. Ein Zeitungsausschnitt, eine Ballerina mit ähnlich schwieriger Zahlenkombination. Vielleicht 25 160. Nur nicht Pfund, sondern Kilo. Und dieses schwergewichtige Mädchen gleitet in den Spagat, als täte sie nie etwas anderes, eleganter, müheloser als all ihre Kritiker. Manches schaut aus ihrem Tutu heraus. Eine angesichts der Fleischmassen eher klein geratene, weiche Brust über einem enormen Bauch. Eine Welle schlagende Bauchfalte. Bauchwelle.
Annas Freundin sagte beim Betrachten des Bilds: Beweglichkeit ist etwas Überschätztes. Auch ohne Beweglichkeit kann man eine gute Tänzerin sein.
Das wollte Anna nicht glauben. Sie hätte gern ein „hohes Bein“, würde nicht nur gern Seit-, sondern auch Längs- und Überspagat können, doch fürchtet sie die kleinen Mikroverletzungen in der Muskelstruktur, die Verwandlung in undehnbares Bindegewebe, die noch größere Unflexibilität.
In erster Linie kommt sie wegen des Klaviers zum Unterricht. Und noch mehr als das Klavier, liebt sie das Französischlernen: Port de bras - Tor der Arme. Pas de chat – Katzenschritt.Und ohne Klavier und Katzenschritt würde sie gleich zu Hause bleiben.
Anna fragt sich, warum ihr die Trainerin in grenzenloser Geduld immer wieder hilft. Warum sie es noch gut meint. Anders als ihre Mutter, von der sie den Kurs geschenkt bekommen hat. Ihre Mutter hatte sie nur vor allen blamieren wollen, wie sie es gern am Heiligabend tut und manchmal auch an anderen Tagen, Pfingsten zum Beispiel, wo sie ihr einen Badeanzug Größe 46 mit einem eingenähten 34er-Etikettchen schenkte.
Es liegt in der Familie. Alle sind talentlose Schenker. Die Geschenke ihrer Tante sind stets teuer, immer gebraucht und vermeiden den Schmerz der Entsorgung. Und wie die weißen Elefanten, die der König von Siam an ungeliebte Höflinge weiterreichte, dürfen die wertvollen Dinge aus dem Tantenbestand nicht weiterverschenkt, noch bei Ebay veräußert werden. Doch hat das Deckmäntelchen des Guten etwas Tröstliches, wenn sie an die geschmacklosen Mitbringsel ihrer Schwägerin denkt, die sichtlich nur den Gang zur Mülltonne gespart haben. Anna macht Geschenke lieber auf, wenn keiner zuschaut.
Deine Mutter meint es doch nur gut, meint Annas Freundin und das ist nicht als Trost, sondern als Vorwurf gemeint. Das macht Anna noch trauriger. Sie weiß nicht, worüber sie großzügiger hinweg sehen sollte, über den mühsam getarnten Neid ihrer Freundin, die selbst gern tanzen würde oder die bösen, unbeholfenen mütterlichen Schenkversuche. Lieber sind ihr die Geschenke ihres Bruders. Eine offensichtliche Aufforderung zum Tausch.
Probleme beim Pirouettendrehen. Ein Problem, dass zum Glück nicht nur sie, Anna, hat. Jede sucht sich einen Punkt an der Wand. Doch meist ist der Punkt beweglich, der Pferdeschwanz oder Chignon einer Mittänzerin oder noch lieber die schöne, etwas zu große Nase der Lehrerin. Und mitten im Pirouettenversuch fällt Anna ein, dass ihre Mutter sie mit dem Geschenk vielleicht nur vordergründig ärgern wollte, dass sich hinter dem von ihr so sehr erhofften Lacher in der Kuchenrunde etwas anderes versteckte. Die Lücke. Der weiße Fleck im Wünschespiel. Vielleicht gehörte ihre Mutter zu denen, die anderen, wenn auch unbeabsichtigt, etwas geben, was sie selbst einmal wollten. Und vielleicht war weder Lug, noch Betrug, noch Anmaßung dabei und im Schenken öffneten sich unverhoffte Einblicke. In mütterliche Lücken, gut versteckt und in einem unvermuteten Sinn doch gut gemeint.