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Weiße Augen
Weiße Augen
"Dein Vagabundenleben wird dich noch ins Grab bringen!"
Wie oft er diese Worte in den letzten Tagen hörte, konnte er kaum sagen.
Immer und immer wieder hörte er die Stimme seiner Mutter, die ihm vor Jahren
diesen Satz mit auf den Weg gab. Das Schlimme dabei war, dass das Piepsen
der Geräte genau die Melodie, die damals in diesem Satz lag, wiedergab. So
gab es für ihn kein Entrinnen. Er war den Worten ausgeliefert. Und das bis
an das Ende seiner Tage.
Die Zeugenaussagen waren alles andere als befriedigend. Ein Mann, mit Jeans
und Turnschuhen bekleidet, betrat das Lokal, ging zielstrebig auf einen
Tisch zu und erschoss zwei Gäste. Danach verließ er das Lokal und keiner der
Anwesenden konnte Näheres über den Mann berichten.
Zum dritten Mal in diesem Jahr war auf diese Art und Weise ein Mord
geschehen und die Anhaltspunkte wurden immer geringer anstatt mehr. Am
Anfang wurde der Mörder in die Altersklasse von Mitte zwanzig bis Anfang
vierzig eingestuft, jetzt behaupteten manche Zeugen, er sei höchstens
zwanzig Jahre alt. Das Gleiche geschah immer wieder mit seiner Haarfarbe.
Beim ersten Mord lag die Beschreibung des Schopfes noch bei glatt,
dunkelblond bis braun. Jetzt allerdings waren gewellte und rötliche Haare
hinzu gekommen.
Nur bei der Augenfarbe waren sich alle Zeugen einig. Der Mörder hatte weiße
Augen.
Sämtliche Anfragen bei Medizinern und Optikern ergaben, dass es unmöglich
sei, die Augenfarbe so zu verändern dass sie weiß sei, auch von Menschen,
die weiße Augen hätten, war bisher noch nichts bekannt.
Die Polizei stand vor einem Rätsel, und die Medienwelt kreierte plötzlich
ein Wesen, wie es unheimlicher nicht hätte sein können. Von einem
Außerirdischen bis hin zu einem von der Gentechnik kreierten Monster wurde
alles erfunden, was die menschliche Phantasie hergab.
Die Angst in der Stadt wurde immer größer. Sämtliche wichtige Einwohner,
oder solche. die sich als wichtig ansahen, veranlassten Schutzmaßnahmen, die
von Bodyguards bis hin zu kugelsicheren Fahrzeugen reichten.
Doch diese Vorkehrungen waren nicht mehr nötig.
Denn der "augenlose Killer", wie er mittlerweile von einem Boulevardblatt
getauft wurde, hatte kein Interesse mehr daran, jemanden in dieser Stadt zu
töten.
Er war um sechzigtausend Euro reicher, Besitzer eines Flugtickets nach
Jamaika und hatte sich mittlerweile von der Tatwaffe, den Turnschuhen und
den weißen Haftschalen, die er einem Requisiteur für Horrorfilme geklaut
hatte, entledigt.
Ihm konnte also weder die Polizei, noch die Presse etwas anhaben. Die
einzigen Spuren, die zu ihm hätten führen können, waren beseitigt und er
konnte endlich mit der Maskerade aufhören.
Er konnte wieder leben. Er konnte wieder er sein und auch riskieren, erkannt
zu werden.
Er durfte endlich wieder Spaß haben. Und den würde er auch noch an diesem
Abend bekommen.
"Da hast du deinen Tee Hagen. Trink ihn langsam und denke nicht mehr an das,
was geschehen ist."
Elfi warf zwei Stück Zucker in den dampfenden Becher, goss etwas Milch hinzu
und rührte langsam in dem Gefäß.
"Lieb von dir, Elfi", antwortete Hagen und versuchte, seiner Freundin ein
Lächeln zu schenken.
"Mir ist jetzt nicht nach Warmem zumute." Er wollte gerade wieder seinen
Kopf auf die Arme legen, als er ein unterdrücktes Lachen vernahm. Elfi
versuchte krampfhaft, ihre Heiterkeit zu verbergen.
"Was gibt es denn da zu lachen?" fragte Hagen wütend. "Reicht es nicht
schon, dass sämtliche Beziehungen, die ich eingehe, zum Witz werden? Muss
mich dann auch noch meine beste Freundin auslachen?"
"Nana, was heißt hier Beziehung?" fragte Elfi und wühlte in einer Schublade
der großen, nach Landhausstil geschreinerten Kommode. "Schließlich kanntest
du den Kerl gerade mal eine Nacht. Und da war dir jedenfalls nach etwas
Warmem."
Hagen erzwang ein Grinsen und fiel sofort wieder in seine Depression.
"Eigentlich dachte ich, er sei etwas Besonderes," erzählte er mit einem
tiefen Seufzer. "Er erzählte so romantische Dinge beim Abendessen. Er machte
mir Komplimente. Bestellte genau den Wein, den ich auch bestellt hätte und
stell dir mal vor. Er liebt Seezunge, genau wie ich. Wir wären ein
wunderbares Paar geworden."
Einen tiefen Seufzer ausstoßend, nahm er jetzt doch einen Schluck von dem
Tee.
"Ich hätte auch seine perversen Neigungen in Kauf genommen. Wäre zwar nicht
einfach gewesen, aber ich hätte es versucht."
"Perverse Neigungen?" Jetzt wurde Elfi hellhörig. Als Hure war sie es
gewöhnt, mit abnormalen Lustspielchen umzugehen, ihr fehlte aber schon von
je her das Verständnis dafür.
"Was hat er denn von dir verlangt?", fragte sie und stolzierte nackt auf
ihren Freund zu. Sie hatte noch immer nicht ihre Dienstkleidung in der alten
Kommode gefunden.
"Verlangt hat er nichts, aber getan", antwortete Hagen, hob sein Hemd und
zeigte der Dirne seinen Rücken, der über und über mit roten Striemen übersät
war.
"Dieses perverse Schwein!" zischte Elfi durch ihre Zähne. "Zuerst tut er dir
so was an und dann serviert er dich eiskalt ab?"
"Eiskalt ist gar kein Ausdruck", schluchzte Hagen. "Er hat mir ein Messer an
die Kehle gehalten und gesagt, wenn ich ihn noch einmal belästige, schlitzt
er mich auf wie ein Schwein."
Elfis Wut kannte fast keine Grenzen mehr.
"Der soll froh sein, dass ich ihn nicht aufschlitze!", schrie sie auf. "Aber
warte Bürschchen, dafür wirst du bezahlen müssen."
Es war eine ganz neue Erfahrung für ihn. Die Rolle des Opfers hatte er
bisher noch nicht einnehmen müssen. Er hatte auch aufgrund seiner Vorsicht,
die er immer bei seinen Aufträgen zu Tage legte, nie damit gerechnet. Doch
an diesem Abend hatte er merken dürfen, dass Rechnungen nicht immer
aufgingen.
Er wollte seinen letzten Tag in Deutschland noch mit einem guten Essen und
einem Besuch in einer Bar feiern. Auch gegen eine Nacht zu zweit hätte er
nichts einzuwenden gehabt. In Jamaika gäbe es zwar eine größere Auswahl, was
das sexuelle Vergnügen betraf, doch wollte er während seines Aufenthalts in
der Karibik auf Sex verzichten. Die Ansteckungsgefahr war einfach zu groß.
Eigentlich verlief alles zu seiner Zufriedenheit. Das Essen war grandios,
und in der Bar blieb er auch nicht lange allein. Ein gutgebauter Jüngling in
engen Jeans und einem durchsichtigen Hemd gesellte sich bald zu seinem Tisch
und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er diese Nacht nicht ohne ihn sein
wollte.
Nach etwa einer Stunde guten Unterhaltens und ein paar Drinks verabschiedete
er sich kurz auf die Toilette. Er hatte gerade seinen Hosenschlitz geöffnet,
als die Tür einer Kabine aufgestoßen wurde. Zwei Männer traten heraus,
ergriffen ihn und zerrten ihn in die Kabine.
Was dann geschah, war für ihn das Schlimmste, was er bisher erlebt hatte.
Nach gut einer Viertelstunde ließen die Peiniger von ihm ab und verschwanden
so schnell, wie sie aufgetaucht waren.
Das Opfer jedoch lag noch immer neben der Toilettenschüssel in seinem Blut.
Mit all seiner Kraft schleppte er sich durch den Hinterausgang aus dem
Lokal.
Nun stand er also in seinem Bad und versuchte, seine Wunden zu versorgen.
Sein Damm war gerissen und blutete immer noch. Er wusste, dass solche Wunden
normalerweise genäht werden mussten, doch ein Krankenhaus kam für ihn nicht
in Frage. Dafür stand zuviel für ihn auf dem Spiel.
Morgen früh würde er in den Flieger nach Jamaika steigen und dort der Wunde
die Zeit geben, die sie für die Heilung benötigte.
Doch er würde zurückkommen. Und wie er zurückkommen würde. Sein geschändeter
Körper würde seinen Peinigern zeigen, dass man so was nicht ungestraft mit
ihm machen konnte.
"Dein Vagabundenleben wird dich noch ins Grab bringen!"
Wieder diese Stimme. Und wie recht sie hatte. Sein Grab würde ihn bald
schlucken. Doch er hatte seinen Schwur gehalten.
In Jamaika und nach einem Besuch bei einem Arzt war seine Rache zum Schwur
gereift, als er erfahren musste, dass er sich mit dem HIV-Virus angesteckt
hatte.
Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass er sich an einem seiner
Vergewaltiger angesteckt haben musste.
Die Wut war unbeschreiblich. Er war dem Tod geweiht, nur weil sich andere
einen Spaß mit ihm gönnten. Doch er wartete. Er hatte zwar nicht mehr viel
Zeit, wollte jedoch nicht riskieren, seinen Lebensabend in einem Gefängnis
zu feiern.
Zwei Jahre wartete er, bis er nach Deutschland zurückkehrte. Zwei lange
Jahre ließ er seine Wut gedeihen.
Es war eigentlich ganz einfach.
Er hatte sich im Laufe der Jahre sehr verändert, war abgemagert und
braungebrannt. Außerdem hatte er sich einen Bart stehen lassen. Die Gefahr,
wiedererkannt zu werden, war sehr gering.
Eine Woche trieb er sich in den einschlägigen Bars und Nachtlokalen herum
und hoffte, seine Opfer zu finden. Doch leider vergebens.
Nun kam zu seiner Wut auch noch Angst hinzu. Die Angst, seinen Plan nicht
mehr ausführen zu können. Der Grund für seine Angst war sein Körper. Dieser
schien den Klimawechsel nicht sonderlich zu vertragen. Husten, Schnupfen und
Kopfschmerzen plagten ihn. Er wusste, dass dies sein angeschlagenes
Immunsystem nicht lange aushalten und er Opfer einer Lungenentzündung werden
würde. Doch er gab nicht auf. Am ganzen Leib zitternd und in kaltem Schweiß
gebadet, betrat er die Bar, in der er den Virus verabreicht bekam.
Obwohl sein Blick etwas verschleiert war, sah er sie.
Die Gesichter würde er nie vergessen. Zwei lange Jahre hatte er sie jede
Nacht im Traum gesehen. Es waren Träume voller Hass und dem Wunsch auf
Rache.
Jetzt war die Zeit der Rache angebrochen. Noch zwischen den Vorhängen
stehend, die das Lokal von der Eingangshalle abtrennten, zog er seine
Pistole aus der Innenseite seiner Jackentasche, zielte den Bruchteil einer
Sekunde und drückte zweimal ab.
Er wartete, bis er die toten Körper von den Barhockern rutschen sah, drehte
sich um und lief davon.
Er lief, so schnell ihn seine Beine trugen. In einer Seitenstrasse machte er
kurz Halt. Er schnappte nach Luft. Der Schweiß floss ihm noch mehr über die
Stirn und seine Hände wollten keine Sekunde mehr aufhören zu zittern. In
seinem Kopf machten sich überirdische Schmerzen breit, und das
Schwindelgefühl war unerträglich.
Er flüchtete weiter. Er sammelte all seine Kräfte und lief. Doch er kam
nicht mehr weit.
Sein Geist hätte noch jahrelang gekämpft, doch sein Körper hatte aufgegeben.
"Dein Vagabundenleben wird dich noch ins Grab bringen!"
Jetzt lag er also hier, auf der Intensivstation des Krankenhauses, und war
diesem Satz hilflos ausgeliefert.
Aber war er das wirklich?
Gab es nicht noch einen Weg, diesem Satz zu entfliehen?
Ein schwaches Grinsen zog sich über sein Gesicht. Er wusste, was er zu tun
hatte. Er griff vorsichtig zu seiner Nase und ertastete den Schlauch, der in
seinen Löchern steckte. Mit der letzten Kraft, die noch in ihm steckte, zog
er daran.
"Dein Vagabundenleben wird dich noch ins Grab bringen!"
Wieder zog sich ein Grinsen über sein Gesicht. Seine Augen verdrehten sich,
und die Lider zogen sich entkräftet zurück.
Die Hilfe kam leider zu spät. Auch der Polizist, der vor dem Zimmer Wache
hielt, konnte nicht mehr eingreifen. Dem Arzt blieb nichts anderes übrig,
als den Totenschein auszufüllen und wieder an seine Arbeit zu gehen. Doch
die Schwester hielt ihn am Ärmel.
"Sehen sie mal, Doktor!", sagte sie mit erschütterter Stimme. "Der Mann hat
weiße Augen!"