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Weiß

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20.06.2019
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Weiß

Eine leere Seite. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe. Ich weiß weder, wer ich bin, noch was ich tun soll. Ich bin vollständig verschwunden, komplett Klischee, nur Vergangenheit. Wie ist es dazu gekommen?

Irgendwann las ich nicht mehr. Nein, das ist nicht richtig. Zuerst hörte ich mit dem Schreiben auf, lange bevor ich mir das Lesen abgewöhnte. Das war nicht schwer. Das mit dem Schreiben, meine ich, beziehungsweise das mit dem Nicht-Schreiben. Und dann las ich keine Bücher mehr. Bis dahin ergab sich das alles fast von selbst. Keine Zeit, kein Interesse, keine Lust, fertig. Es ließ sich allerdings nicht vermeiden, irgendetwas Geschriebenes überhaupt zu sehen. Erst mit etwas Übung verlernte ich, das Gesehene geistig zu verarbeiten. Selbst wenn ich Worte erblickte, dachte ich nicht weiter darüber nach. Parkplatz, Unterschrift, Sonderangebot - leider ließ sich nicht jegliche Bedeutung auslöschen. Es war mir nicht möglich, zum Analphabeten zu werden. Aber das Nachdenken ließ sich erstaunlich gut vermeiden. Ich hatte sogar das Gefühl, dass ich Texte nicht einmal mehr richtig verstand. Filme fielen dieser Sache im weiteren Verlauf zum Opfer. Als die Zeit kam, in der Serien zu dem wurden, was Filme einmal waren, schaltete ich auch dort die Lichter aus. Einige fragten, ob ich nun bereit sei, mein Leben mit Haus, Frau und Kind aufzufüllen. Was für ein Unsinn. Ich hörte keine Musik mehr. Ich war nie besonders musikalisch oder an Musik interessiert, deswegen überraschte es mich, wie schwer es mir fiel, auf Melodien zu verzichten. Gespräche mit mir wurden langweilig. Ich konnte nicht einmal mehr an oberflächlichem Austausch irgendwelcher Nichtigkeiten partizipieren. Das gefiel mir. So musste ich Freunde, Bekannte und Kollegen nicht noch aktiv vor den Kopf stoßen, da sich Zwischenmenschlichkeiten quasi von selbst abschafften. Nur meine Partnerin verließ mich nicht. Hätte ich nicht mein Ziel vor Augen gehabt, dem sie beharrlich im Weg stehen blieb, wäre ihre unverständliche und mich in den Wahnsinn treibende Fürsorglichkeit beachtenswert gewesen. Diese an mich geschmiegte Nachsichtigkeit ließ mich in ohnmächtiger Ausweglosigkeit erschauern. Wie konnte ich mich dieser verbliebenen Menschlichkeit entziehen? Ich versuchte es mit Alkohol. Jeden Abend saß ich auf dem Sofa und vernichtete nicht für möglich gehaltene Mengen an Bier. Dann blieb ich zum Trinken am Küchentisch sitzen. Das fühlte sich deutlich trostloser an. Am Wochenende leerte ich auf diese Art zusätzlich eine Flasche billigen Schnaps. Sogar meine Arbeit hatte ich längst aufgegeben. Zwischenzeitlich verdingte ich mich als Aushilfskraft in Fabriken, suchte mir die unbeliebtesten Studentenjobs, verausgabte mich als Lagerarbeiter. Schließlich ließ ich es einfach ganz sein. Ich zog um. Problematische Hochhaussiedlung. Siebter Stock. Auf den Fluren unangenehme Gestalten und zu jeder Tages- und Nachtzeit Lärmbelästigung; dröhnende Fernseher, wummernde Bässe und immer wieder Geschrei. Bei Meinungsverschiedenheiten wurden Argumente entweder brüllend vorgetragen oder von Krach untermalt, der klang, als würde man eine Besteckschublade in Omas alte Vitrine schleudern. Kindergeschrei und Bummsgeräusche waren allgegenwärtig. Ich saß einfach nur da und wartete auf das allumfassende Rauschen, welches jede Nacht das Ende eines weiteren Tages markierte, wenn mein Kopf zwischen leeren Flaschen auf den Tisch sank. Erinnerungen wurden zum Problem für mich. Die Langzeitfolge fehlender Eindrücke waren erschreckend intensive Bilder der Vergangenheit, denen ich mich hilflos ausgesetzt sah und die mich echt fertigmachten.

Manchmal dämmerte ich im Zentrum meines geistigen Rückzugs dem Morgen entgegen und dachte an früher. Der sentimentale Midlife-Crisis-Aspekt dieser Situationen ärgerte mich und war mir peinlich. Aber mit der Zeit fühlte sich dieses hilflose Versinken in Erinnerungen beinahe unaushaltbar schlimm an, und wichtiger, als Schamgefühl zu verarbeiten war, nicht wahnsinnig zu werden. Ich saß am Küchentisch oder lag auf dem gammeligen Sofa, die Klamotten genauso ungewaschen wie ich selbst und starrte ausdruckslos ins Nichts, während meine Gedanken mich ins Zimmer meiner Jugend kerkerten. Wie es dort war, die müßigen Sommernachmittage im Haus meiner Eltern, irgendwann Ende der neunziger. Ich, auf den Hinterbeinen meines Schreibtischstuhls kippelnd, in ein Buch von Stephen King vertieft. Die Rollos zum Schutz vor der sommerlichen Hitze heruntergezogen, die Fenster einen Spalt geöffnet. Von draußen wehten gedämpfte Geräusche einer mittelschichtigen Reihenhaussiedlung herein. Ein Rasenmäher, Kinder in einem aufblasbaren Plantschbecken oder sowas. Im CD-Player das neue Album von Aerosmith. Nine lives. Genau dort saß mein vielleicht vierzehnjähriges Ich, zerfetzte Jeans, ausgeleiertes Megadeth T-Shirt, keine Socken. Der Stuhl knarzte bedrohlich vor sich hin, meine Füße lagen auf dem Schreibtisch und ich war vollkommen in Geschichten aus Derry, oder Castle Rock versunken. Allein die Erinnerung an den Duft der Buchseiten macht mich verrückt. Ich rasierte mich noch nicht, benutzte kein Deo, trug zerschlissene Turnschuhe und war einfach nur zufrieden. Ich spüre die Schamesröte in mir aufsteigen, wenn ich hier in meiner würdelosen Absteige denke, dass ich einfach nur wieder dorthin zurückwill. Ich will lesen, Musik hören. Sommerduft durch den Fensterspalt des Dachzimmers. Schmetterlinge im Bauch, wenn sich in der Schule irgendein belangloses Mädchen mit mir unterhält und ja, vielleicht auch mal einen Ständer, wenn ich an den Tanga der Blondine denke, die ein Jahr wiederholen muss und im Englischunterricht vor mir sitzt. Ich will mich in den Geschichten eines Schundschriftstellers, jedenfalls betiteln meine Eltern ihn so, verlieren und das Gefühl haben, dass mir ein Rock Song die Welt erklärt. Und an den Wänden meines Zimmers hängen Poster von Metalbands neben von der Sonne ausgebleichten Bildern von Goya. Und draußen werden Nachbarskinder im Plantschbecken spielen und niemals werde ich vor einem weißen Bildschirm sitzen, in einer Welt, die nur noch Rechnen und Programmieren kann.

An einem grauen Tag im November ist das Ende erreicht. Es ist ein Mittwoch. Ich stehe auf dem schäbigen Balkon meiner Wohnung und blicke hinunter auf die parkenden Autos, die kahlen Bäume, die beinahe menschenleeren Straßen. Es ist etwa eine Woche lang bitterkalt gewesen. Ungewöhnlich eigentlich, denn um diese Jahreszeit ist es sonst nur verregnet und viel zu warm, sodass man sich wünscht, es würde endlich schneien oder sowas. Aber die Temperaturen waren bereits deutlich unter den Gefrierpunkt gefallen und jeden Vormittag hatte mich eine penetrant blendende Sonne genervt, die aus einem stahlblauen Himmel herab schien. Heute ist es endlich grau und windig. Nicht mehr ganz so kalt, aber es fühlt sich sehr viel ungemütlicher an. Dass ist der Grund, warum ich überhaupt auf dem Balkon stehe. Ich halte mich eigentlich nie hier auf. Die wenigen Menschen, die ich sehe, gehen schnell, gebeugt, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Dann erblicke ich meine Partnerin. Schon von Weitem erkenne ich sie, wie sie mit festen Schritten auf den grauen Betonblock zugeht, in dem ich meine ereignislosen Tage absitze. Sie läuft bestimmt, aber keineswegs hastig, wie die anderen. Mit ihrer linken Hand umfasst sie auf Brusthöhe den Riemen ihrer Handtasche, ihre Rechte liegt etwas neurotisch auf besagter Handtasche. Aber sie macht absolut keinen unsicheren Eindruck. Ihre Haltung ist aufrecht, der Blick herausfordernd nach vorn gerichtet und sie scheint weder von der asozialen Gegend noch dem unfreundlichen Wetter beeindruckt. Sogar ihr langes, dunkelblondes Haar trotzt dem Wind. Wie so oft hat sie es geflochten und zu einem strengen Dutt gedreht. Sie trägt einen hellbraunen Daunenmantel, darunter eine hellblaue Jeans und einfache schwarze Schuhe. Ich weiß, dass es Stiefel sind, aber sie trägt sie unter ihrer Jeans. Außerdem haben sie keine Absätze. Sie ist relativ groß und möchte ungern alle anderen überragen.
So warte ich also auf meinem Balkon im soundsovielten Stock, schaue auf die Welt und die Frau meines Lebens herab, als mir ganz plötzlich etwas klar wird. Und was wird das schon für eine erstaunliche Erkenntnis sein? Sie wird sich von mir trennen. Natürlich wird sie das. Ich habe mich immer über ihre anhaltende Treue gewundert, mich schon zu Beginn gefragt, was sie überhaupt an mir findet. Bin ich ein soziales Experiment für sie? Ich habe diesen Gefühlen immer relativ gleichgültig gegenübergestanden, vielleicht sogar eher mit erwartungsvoller Spannung. Und jetzt, da es so weit ist, fühlt es sich so an, als fiele ich in ein schwarzes Loch. Lächerlich. Mir wird schwindelig, Übelkeit ist auch dabei. Die Gewissheit ändert alles. Sie wird ganz gemächlich die verbleibenden fünfundzwanzig Meter bis zur Haustür gehen, genauso wie die hundertfünfundzwanzig davor. Sie wird zweimal klingeln, wie immer. Wie immer nur, damit ich weiß, dass sie kommt, denn sie hat einen Schlüssel. Dann wird es zwei oder drei Minuten dauern, je nachdem, wo der Aufzug steckt. Dann ihre Schritte im Flur. Gleichmäßig, beruhigend. Aber diesmal werde ich nervös sein, Angst haben und bereits an der Tür stehen. Sie wird um die Ecke kommen, den Blick heben, und wir werden uns in die Augen sehen. Trotz ihrer Absichten ein mildes Lächeln. Wie so oft wird sie ihre Hand an meine Wange legen und mich sanft auf den Mund küssen, während ich einen Schritt zur Seite machen werde, um sie in die Wohnung zu lassen. Dann werde ich die Tür schließen und wir werden uns gegenüberstehen. Und dann wird es anders sein. Sie wird ihre Handtasche weiterhin festhalten, ihre Stiefel nicht ausziehen und den Mantel nicht ablegen. Ein sachlicher Augenaufschlag und mit fester Stimme die entscheidenden Worte. Aber was genau wird sie sagen? Wie wird sie es mir mitteilen? Ich weiß es nicht. In jedem Fall ohne Theater, ohne Vorwürfe, irgendwie plausibel und vernünftig. Diese Szene spielt sich vor mir ab und ich stehe immer noch irgendwo auf einem Balkon mitten im Nichts und alles ist einfach weg. Der Wind, der Tag, die Worte, ich. Und sie. Ich kann an nichts mehr denken, alles bröckelt und stürzt in den Abgrund. Das hätte ich nicht erwartet. Das kennen wir ja auch alles schon, ist doch immer derselbe alte Quatsch. Was soll dazu noch geschrieben werden? Ich schwindle an einem grauen Novembertag zwischen Plattenbau Balkon und der uninspirierten Idee irgendeines Trennungsschmerzes herum. Ist doch egal. Interessiert nach Ablauf einer beliebigen Zeitspanne kein Schwein mehr, ist mir eigentlich jetzt schon wieder egal, egal, egal. Ist doch wunderbar! Als mir der Gedanke kommt, dass ich mich auch einfach damit abfinden könnte, mit ihrem Wunsch, mich zu verlassen, meine ich, fühle ich mich von einem Augenblick zum nächsten wie befreit, ja nahezu euphorisch. Eine mir beinahe unbekannte gute Laune beflügelt all mein Denken, gibt mir Kraft, lässt mich ohne Zögern in die Zukunft blicken. Ich richte mich auf, trete einen Schritt nach vorn, lege beide Hände auf das Geländer des Balkons und grinse dämlich in die Welt hinaus. Und ich weiß überhaupt nicht, wie lange ich dort stehe und auf einmal ist sie schon in meiner Wohnung, sagt einfach „hi“ auf den Balkon hinaus, ich drehe mich um, sie sieht mich mit ihrem milden Lächeln an, eventuell leicht verwundert, ihre Hand am silbernen Griff der Balkontür; sie hat schöne Hände, perfekt unaufdringlich manikürte Fingernägel und sie hat ihren Mantel und die Stiefel bereits ausgezogen, zu ihrer hellblauen Jeans trägt sie einen cremefarbenen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt; ich lache etwas verlegen, gehe die zwei Schritte zu ihr und wir küssen uns sanft. Dann stehe ich in meiner Wohnung, draußen ist es bereits dunkel. Sie muss das Licht im Flur angelassen haben, die Tür ist nicht ganz geschlossen und das Wohnzimmer breitet sich in gemütlicher Stimmung um uns herum aus. Sie liegt so gut wie nackt (halterlose Seidenstrümpfe) und komplett tot (erwürgt) auf dem Teppich, während ich im Kopf den Inhalt meiner Besteckschublade durchgehe, auf der Suche nach einem Werkzeug für mehr Dramatik. Das ist einfach nicht drastisch genug. Kein Blut ist nicht gut. Sie trägt sowas nicht, weil sie es für besonders verführerisch hält, sondern ganz sachlich. Die Strümpfe meine ich. Zu kalt für normale Socken, alle Strumpfhosen in der Wäsche und außerdem die Stiefel. Nachdenklich gehe ich in Richtung Küche. Mein Sperma rinnt träge an der Innenseite ihres toten linken Oberschenkels herunter auf den Teppich. Ich komme zu dem Schluss, dass ich erstmal was Entspannendes machen sollte. Duschen, Rauchen oder sowas. Und dann werde ich endlich Schreiben.

Eine leere Seite. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe. Ich weiß weder, wer ich bin, noch was ich tun soll. Ich bin vollständig verschwunden, komplett Klischee, nur Vergangenheit. Wie ist es dazu gekommen?

 

@sodrecas,

Ich kann nicht sagen, dass mir deine Geschichte gefällt, dafür stößt sie mich zu sehr ab, dennoch hat sie etwas, das mich beschäftigt. Die Idee der Reduktion des Lebens, des Abschneidens aller liebgewonnenen Gewohnheiten und der radikalen Askese, damit der Neuanfang wie auf einem weißen Blatt Papier quasi bei Null starten kann, birgt in sich eine große Chance, die du mMn in allzu viel Nihilismus ertränkst. Ich kann mit deinem Prota nicht mitfühlen, finde seine Wahrnehmungen und den verstörend blutigen Schluss eklig. Mir ist die Geschichte zu dumpf.
Mich würde viel mehr interessieren, was nach der Metamorphose geschieht, wie der Prota neu geboren wird, was er fühlt, wenn er sich die Welt wieder erobert und alles neu erlebt.

Peace, linktofink

 

Hey linktofink,

vielen Dank für das Lesen meiner Geschichte und Deinen, wie ich finde, treffenden Kommentar! Es war zwar nicht direkt meine Absicht, ein abstoßendes Ekelgefühl hervorzurufen, aber sympathisch ist der Protagonist mit Sicherheit nicht. Inhaltlich wollte ich allerdings wirklich nur bis zum Moment des Neuanfangs gehen und nicht darüber hinaus, insofern wäre das dann vielleicht eher was für den nächsten Text.

Liebe Grüße
s.

 

Hola @sodrecas,

ich lese nach dem ersten Überfliegen Deines Textes in Deinem Profil:

Ich würde gerne Geschichten schreiben, die mir gefallen
und erhoffe mir, durch den Austausch über eigene Texte oder Texte anderer, dem näher zu kommen.
Da weiß ich gar nicht, wie ich das verstehen soll. Wenn Du Geschichten schreiben willst, die Dir gefallen, dann frage ich, was dem im Wege steht.
Aus meiner Sicht braucht es zuvörderst einen gescheiten Plot. Ich verstehe Dich dahingehend, dass es genau daran hapert (das weiße Papier :cool: ) – zumal Du mit der Schreiberei selbst keine erkennbaren Schwierigkeiten hast. Beispiel:
Diese an mich geschmiegte Nachsichtigkeit ließ mich in ohnmächtiger Ausweglosigkeit erschauern.

... ich ... möchte Schreiben und dann kommt nie das dabei heraus, was ich erzählen will.
Auch das klingt, als ob Dir die Idee, der Plot, fehlt.
Schwieriger Fall, weil Idee/Handlung/Plot der Kern einer Geschichte sind.
Schreiben zu wollen, diese innere Bewegtheit, kennen wir alle. Gut haben es diejenigen, die ein (Lieblinglings)thema haben, die etwas hinausschreien wollen, die etwas bedrückt oder entzückt – da fliegen die Finger automatisch über die Tastatur. Ich allerdings bin ratlos, wenn Du schreibst:
Ich weiß weder wer ich bin noch was ich tun soll. Ich bin vollständig verschwunden, komplett Klischee, nur Vergangenheit.
Verschwunden / nur Vergangenheit ... und trotzdem Klischee (das ja durchaus gegenständlich sein kann)?

Bin mitten im Text. Langsam wird mir das Lamento zu viel:

die müßigen Sommernachmittage ... Ich war, auf den Hinterbeinen meines Schreibtischstuhls kippelnd, in ein Buch von Stephen King vertieft gewesen. Die Rollos hatte ich zum Schutz vor der sommerlichen Hitze heruntergezogen, die Fenster einen Spalt geöffnet.
Andere sind im Freibad. Der Stubenhocker liest King; schwieriges Kind. Der Protagonist erscheint mir, dem Leser, durch das endlos vorangegangene Gejammer mehr krank als unsympathisch – was ja wiederum Empathie auslösen könnte. Trotzdem jammert’s jetzt schon eine ganze Weile in allen Tonlagen, von Schamgefühl gibt’s eine Andeutung – insgesamt dreht sich das Ding im Kreis, doch wenn Du etwas im Forum verweilst, passiert Dir das kein zweites Mal (Ich schrieb beim Lesen mit, da kannte ich das Ende noch nicht).

einer mittelschichtigen Reihenhaussiedlung
Kreativ, aber arrogant wertend – für meinen Geschmack. Und überhaupt: mittelschichtig?

Und draußen werden Nachbarskinder im Plantschbecken spielen und niemals werde ich vor einem weißen Bildschirm sitzen, in einer Welt, die nur noch Rechnen und Programmieren kann.
Tja, was soll ich sagen? Das weiße Blatt ist weg. Die Entwicklung bzw. Veränderung des Prota kann ich nicht nachvollziehen: Er lässt sich total gehen, stinkt aus dem Maul; als seine Freundin unerklärlicherweise wieder auftaucht, bringt er sie um. Tja.
Mir ist das zu willkürlich. Beim Lesen ist mir nicht klargeworden, warum das alles geschieht. Einen schlimmen Verdacht habe ich selbstverständlich: Du hast ins Blaue hineingeschrieben, der Plot war nicht zu Ende gedacht. Aber schreiben kannste.
Dass der Text gewinnt, wenn sich Anfang und Ende ähneln / oder gar gleichen wie hier, glaube ich nicht. Auf mich wirkt das eher wie das brave Befolgen eines Lehrsatzes – doch das ist Sache des Autors und nicht des Kommentators:dozey:.
Auf jeden Fall scheinst Du mir handwerklich gut gerüstet, auch Dein Schreibstil sagt mir zu.

Willkommen im Forum und schöne Grüße!
José

 
Zuletzt bearbeitet:

@sodrecas, wenn du in deinem Anschreiben ein @ vor den Namen des jeweiligen Mitglieds setzt, erhält es eine Nachricht, dass du geantwortet hast. ?

 

@linktofink, danke für den Hinweis!

Hallo @josefelipe und ein herzliches Dankeschön für Deinen äußerst umfangreichen Kommentar! Du hast mit Deinem schlimmen Verdacht insofern Recht, weil der Text wirklich mit einem spontanen Fünfzeiler angefangen hat. Allerdings ist der Rest nicht in einem Rutsch entstanden und ich habe dann relativ lange daran herumgebastelt/umgeschrieben - was etwas ist, womit ich wenig Erfahrung habe. Deswegen auch die Anmeldung hier im Forum. Ich war lange Zeit der Meinung, Schreiben sei so eine Art magische Sache (Stichwort Genie), bei der man sich hinsetzt und dann fliegen die Finger über die Tastatur und fertig ist der Bestseller, oder besser noch das unverstandene Werk eines echten Künstlers:rolleyes:. Mit etwas Abstand stellt man dann aber fest, dass so ein Geschreibsel nicht gerade fantastisch ist und dass die bewunderten Autoren tatsächlich konstruiert und an Formulierungen gefeilt haben und die Sache mit dem Genie wahrscheinlich eher Marketingstrategie ist.
Lange Rede, kurzer Sinn: ein bisschen Theorie würde ich gerne abschauen und da waren die Kommentare schonmal hilfreich (Stichworte nachvollziehbarer Plot und Chrakterzeichnung).

Danke und Grüße
s.

 

@linktofink,

danke Dir! Hab mich tatsächlich schon ein bisschen im Forum umgeschaut, nur momentan leider viel zu wenig Zeit (deswegen auch meine verspätete Antwort). Naja, abwarten und Tee trinken - oder so ähnlich:)

 

„In der abendlichen Sonne
sitzen wir gebeugten Rückens
auf den Bänken in dem Grünen.
Unsere Arme hängen nieder,
unsere Augen linzeln traurig.“*​

Ich saß einfach nur da und wartete auf das allumfassende Rauschen, welches jede Nacht das Ende eines weiteren Tages markierte, wenn mein Kopf zwischen leeren Flaschen auf den Tisch sank. Erinnerungen wurden zum Problem für mich. Die Langzeitfolge fehlender Eindrücke waren erschreckend intensive Bilder der Vergangenheit, denen ich mich hilflos ausgesetzt sah und die mich echt fertigmachten.

Warum nimmt der das Debüt,

wirstu Dich wahrscheinlich fragen,

lieber sodrecas,

wo Du doch in der Farbentwicklung schon auf halbem Weg zwischen weiß und schwarz angekommen ist.

Die Antwort ist einfach, denn am Anfang sind wir alle ein unbeschriebenes Blatt, gespannt, wie die ersten Zeichen darauf ausfallen und ob wir vor dem Herbst noch abfallen oder den ersten Stürmen hierorts oder wo auch immer widerstehn.

Zudem erinnert mich die Erzählung an meine Anfänge hierorts („Epitaph auf einen Vrîdel“), in dem ich den eigenen Ver- und Zerfall incl. verpasster Liebe an der Sprache festmachte (bis hinab zu uralten und zugleich kindlichen Formen) und zum andern, weil das Debüt mehr über seinen Verfasser verrät als spätere Werke, die ja hierorts – nur als Beispiel – durch die Auseinandersetzung mit andern „geschliffen“, manchmal sogar „abgeschliffen“ werden.

Wissen musstu aber, dass ich nicht dazu neige, Geschichte nachzuerzählen – die Nacherzählung gehört auf die harte Schulbank, Erinnerung, Gedanken und Sprache zu sortieren und trainieren. Da sollten wir hierorts schon drüber weg sein.

Was aber sofort auffällt, ist eine gewisse Schwäche in der Zeichensetzung, wie schon zu Anfang, wenn es heißt

Ich weiß weder[,] wer ich bin[,] noch was ich tun soll.
Der nächste Satz zeigt nämlich, dass die ausgefallene Zeichensetzung kein Stilmittel – etwa des Ver-/Zerfalls - ist (was ja das Eingangszitat auch schon belegt.)
Ich bin vollständig verschwunden, komplett Klischee, nur Vergangenheit.
Absicht wird der zunächst zitierte Satz also nicht sein ...

Es klappt also mit gleichrangigen Aufzählungen mehr oder weniger ...

Das mit dem Schreiben[,] meine ich, beziehungsweise vielmehr das mit dem Nicht-Schreiben.
Das Komma wird durch den Einschub „meine ich“ erzwungen, denn die Konjunktion „bzw.“ allein verlangt nach keinem Komma, „vielmehr“ sehe ich als entbehrlich an (eigentlich eine Verdoppelung der vorhergehenden Konjunktion, "vielmehr" kann ja auch selbst als Konjunktion genutzt werden)

Die vollständigen und aktuellen Regeln zur Zeichensetzung findestu unter Duden.de, Stichwort „Komma“.
Warum empfehl ich Duden.de?
Die Rechtschreibreform ist keineswegs beendet, vor kurzem wurde noch an den Kommaregeln zu Infinitivgruppen geschraubt und – um auch aus dem Kuriositätenkabinett zu berichten – das „ß“ als Großbuchstabe eingeführt zum Wohle eines Brauers zu D‘dorf und seiner Leuchtreklame in GROSSBUCHSTABEN …

Und mit diesem kleinen Hinweis auf den Stand der Rechtschreibreform (der weder Scherz noch Ironie, Parodie oder Satire ist),

erst einmal herzlich willkommen hierorts!,

und weiter im Programm

… Parkplatz, Unterschrift, Sonderangebot,[...]- leider ließ sich nicht jegliche Bedeutung auslöschen.
Warum der Gedankenstrich? Oder andersrum, warum Komma – eins von beidem genügt an sich – und wenn nicht, dann bitte eine Leerstelle nach dem Komma …

Was für ein Unsinn.
Das klingt doch nach mehr als einer bloßen Aussage! Oder?

Und dann folgt im Kleinen, was nachher Überhand nimmt in der Diktatur der Hilfsverben und der Partizipienreiterei

Ich hörte keine Musik mehr. Ich war nie besonders musikalisch oder an Musik interessiert gewesen, deswegen überraschte es mich, wie schwer es mir fiel, auf Melodien zu verzichten.
Warum eine derart sich schwertuende Rückblende?

Unsere Grammatik kennt nur zwo einstellige Zeiten, Vergangenheit und Gegenwart. Selbst die einfache Zukunft ist zwostellig, wenn es etwa heißt „ich werde kommen“, liefert aber gleichzeitig ein ganz brauchbares Modell, Kombinationen aus Hilfsverb + Vollverb einzuschränken, indem ein bestimmter Zeitpunkt/-raum angegeben wird, so dass aus „ich werde morgen kommen“ ein „ich komme morgen“ („historisches Futur“) wird. Und dieses Modell lässt sich m. E. auch rückwärts anwenden, dass ich mal behaupte, der aktuelle Stand

Ich hörte keine Musik mehr
(eben jetzt zum Zeitpunkt der Erzählung) erspart uns das Partizip, also "Ich hörte keine Musik mehr. Ich war nie besonders musikalisch oder an Musik interessiert … , deswegen überraschte es mich, wie schwer es mir fiel, auf Melodien zu verzichten."

Wäre dies ein „gelegentlicher“ Fall geblieben, ich hätte keinen Pips über die Zeitenfolge verloren, Schulgrammatik ist – wenn auch gelegentlich langatmig und in der Folge langweilend - nicht falsch, selbst wenn „gewesen“ stark nach „verwesen“ riecht und heideggert, dass das Sein wese -
und hier nimmt mir dann die Herrschaft der Hilfsverben und der Partizipienreiterei überhand – nebenbei gesagt – nebst anderen Schwächen

Manchmal dämmerte ich im Zentrum meines geistigen Rückzugs dem Morgen entgegen und dachte daran zurück, wie es in meiner Kindheit gewesen war.

Hier entscheidet die Passage des Zurückdenkens an die Kindheit – eindeutig eine vergangene Phase noch hinter der eigentlichen Gedankenfolge – dass das Partizip m. E. ausrangiert werden kann. Und welche Kindheit meinstu? Alles, was bei mir vor der Einschulung war, weiß ich nur durch Fotos und den zugehörigrn Mythen ...

Aber mit der Zeit fühlte sich dieses hilflose Versinken in Erinnerungen beinahe unaushaltbar schlimm an, …
Adjektivitis verdreifacht – vor allem widersprüchlich, denn „beinahe“ schränkt ja das „unsaushaltbare“ positiv gewendet als „gerade noch“ auszuhalten ein. „Schlimm“ sind „schlimme“ Erinnerungen allemal, aber doch nicht lebensgefährlich. Die überlebte Situation vielleicht ...

Versuch‘s mal selber hier den Aufstand wider Macht des Hilfsverbs und Partizipienreiterei

Wie es dort gewesen war, die müßigen Sommernachmittage im Haus meiner Eltern, irgendwann Ende der Neunziger.
bieten sich ja Elternhaus und Jahrzehnt geradezu aufdringlich an, wobei ich die „neunziger“ als Attribut der 1990er Jahre ansehe, schließlich gab es zuvor schon „90er“ Jahre in anderen Jahrhunderten ...

Bei Meinungsverschiedenheiten wurden Argumente entweder brüllend vorgetragen, oder von Krach untermalt, …
auffällig auch, dass Du bei der vergleichend-ausschließenden Konjunktion „oder“ ein Komma grundsätzlich setzt. Bei gleichrangigen Aufzählungen ersetzt es das Komma ganz gut.
Also Komma weg!

Genau dort hatte mein vielleicht vierzehnjähriges Ich gesessen, zerfetzte Jeans, ausgeleiertes Megadeth T-Shirt, …
“Megadeath“ vermut ich mal. Ich hab noch ein Original T-Shirt – das mir sogar noch passt - „Keine Macht den Doofen“, das ich gern bei entsprechender Temperatur zu Wahlen anzieh ...

Dann die Gegenwart, weg aus der Vergangenheit, der mich veranlasste, den ollen Kafka auszugraben, und zugleich die Frage aufwirft: Warum nicht von Anfang an die Erinnerung als Gedankenstrom … im Präsens, schließlich umfasst der gegenwärtige Gedankenstrom die länger werdende Vergangenheit mit der entsprechend kürzer werdenden Zukunft … mit der Gegenwart – dem Hier und Jetzt – als einzig möglichem, realen Zeitpunkt. Und grammatisch einwandfrei, bis hier

Und jetzt, da es soweit ist, fühlt es sich so an, als fiele ich in ein schwarzes Loch
(muss ja bei jedem, nicht nur einem schwarzen Loch passieren ...) „so weit“ wurde „früher“ immer zusammengeschrieben – bis zum Reformatiönchen.
Nun wird allein die Konjunktion zusammen-, und alle unbestimmten örtlichen/zeitlichen Angaben – eben wie im Zitat – auseinandergeschrieben – und die Konjunktion taucht wahrlich selten auf, soweit ich weiß, dass ich rate, im Zweifel immer auseinander, was die Fehlerquote auf 0,1 senkt.

Die Gewissheit ändert alles.

Dass ich jetzt nahe dran bin, die „vergangenen“ Zeilen als verhindertes Stilmittel anzusehen … bis zur „Beseelung“ des Aufzugs!

Dann wird es zwei oder drei Minuten dauern, je nachdem, wo sich der Aufzug rumtreibt.
Gut, Literatur lebt von der Übertreibung, aber ein Aufzug hat nun mal a) nicht das Bedürfnis und b) die Möglichkeit, sich rumzutreiben. Er führt ein ausgesprochen passives Dasein (Leben kann man es schwerlich nennen).

Und ist bei dem Inhalt der Geschichte diese „lockere“ Haltung nicht eher kontraproduktiv?
Was soll dazu noch geschrieben werden?

Und dann doch die erste Fluse im Präsens präsentiert:

Als mir der Gedanke kommt, dass ich mich auch einfach damit abfinden könnte, mit ihrem Wunsch[,] mich zu verlassen[,] meine ich, fühle ich mich von einem Augenblick zum nächsten wie befreit, ja nahezu euphorisch.
Und der Witz ist, wie zuvor in der Vergangenheit – den Einschub, „meine ich“ - wiewohl das erste Komma schon allein durch die Regel erzwungen wird, dass Infinitivgruppen mit Komma versehen werden, die von einem Substantiv abhängig sind. Jetzt magstu ein Substantiv nicht zu erkennen - aber stammt nicht das Pr-Nomen von einem Namen/Nomen ab - eben "mir" (selbst als Akkusativ, der im Ruhrdeutsch angefangen hat, den Dativ zu ermorden ...

Eine leere Seite. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe. Ich weiß weder[,] wer ich bin[,] noch was ich tun soll. Ich bin vollständig verschwunden, komplett Klischee, nur Vergangenheit. Wie ist es dazu gekommen?

Frag * Kafka

„Und die Menschen gehn in Kleidern
schwankend auf dem Kies spazieren
unter diesem großen Himmel,
der von Hügeln in der Ferne
sich zu fernen Hügeln breitet.“*​

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieben Dank @Friedrichard! Ich weiß Deine Arbeit an meinem Text sehr zu schätzen, denn mit Senor Duden stehe ich dummerweise wirklich etwas auf Kriegsfuß.
Leider ist die Freizeit etwas knapp bemessen und wurde heute bereits fürs Kommentieren meines anderen Textes aufgebraucht.
Aber ich werde die Korrekturen gerne übernhemen und „Epitaph auf einen Vrîdel“ ist ebenfalls notiert.

So, Korrekturen dankend angenommen. Die Rückblende bearbeite ich gleich noch. Die Idee hinter der Anwendung der unschönen Schulgrammatik war, auch grammatikalisch darauf hinzuweisen, wie tief der Protagonist in sich selbst vergraben ist - er versucht ja, sich komplett von seiner Umwelt zu lösen, bis sein Innerstes sein Universum ist, wo nichts anderes mehr existiert. Wie auch immer, den Abschnitt habe ich vor Veröffentlichung hier bereits mehrfach umgeschrieben und bin mittlerweile auch der Meinung, dass die "Holprigkeit" das nicht rechtfertigt.

"beinahe unaushaltbar schlimm"
Soll eine umgangssprachliche Übertreibung sein. Klingt wirklich etwas dumm, aber ist schon das, was der Protagonist hier denken soll.
Ein bisschen wie Leute, die auf: "Wie stark sind die Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn?" mit "Zwölf" antworten.

Megadeth ist eine amerikanische Metal Band und wird wirklich so geschrieben.

Danke und Grüße!

 

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