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Weiß
Eine leere Seite. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe. Ich weiß weder, wer ich bin, noch was ich tun soll. Ich bin vollständig verschwunden, komplett Klischee, nur Vergangenheit. Wie ist es dazu gekommen?
Irgendwann las ich nicht mehr. Nein, das ist nicht richtig. Zuerst hörte ich mit dem Schreiben auf, lange bevor ich mir das Lesen abgewöhnte. Das war nicht schwer. Das mit dem Schreiben, meine ich, beziehungsweise das mit dem Nicht-Schreiben. Und dann las ich keine Bücher mehr. Bis dahin ergab sich das alles fast von selbst. Keine Zeit, kein Interesse, keine Lust, fertig. Es ließ sich allerdings nicht vermeiden, irgendetwas Geschriebenes überhaupt zu sehen. Erst mit etwas Übung verlernte ich, das Gesehene geistig zu verarbeiten. Selbst wenn ich Worte erblickte, dachte ich nicht weiter darüber nach. Parkplatz, Unterschrift, Sonderangebot - leider ließ sich nicht jegliche Bedeutung auslöschen. Es war mir nicht möglich, zum Analphabeten zu werden. Aber das Nachdenken ließ sich erstaunlich gut vermeiden. Ich hatte sogar das Gefühl, dass ich Texte nicht einmal mehr richtig verstand. Filme fielen dieser Sache im weiteren Verlauf zum Opfer. Als die Zeit kam, in der Serien zu dem wurden, was Filme einmal waren, schaltete ich auch dort die Lichter aus. Einige fragten, ob ich nun bereit sei, mein Leben mit Haus, Frau und Kind aufzufüllen. Was für ein Unsinn. Ich hörte keine Musik mehr. Ich war nie besonders musikalisch oder an Musik interessiert, deswegen überraschte es mich, wie schwer es mir fiel, auf Melodien zu verzichten. Gespräche mit mir wurden langweilig. Ich konnte nicht einmal mehr an oberflächlichem Austausch irgendwelcher Nichtigkeiten partizipieren. Das gefiel mir. So musste ich Freunde, Bekannte und Kollegen nicht noch aktiv vor den Kopf stoßen, da sich Zwischenmenschlichkeiten quasi von selbst abschafften. Nur meine Partnerin verließ mich nicht. Hätte ich nicht mein Ziel vor Augen gehabt, dem sie beharrlich im Weg stehen blieb, wäre ihre unverständliche und mich in den Wahnsinn treibende Fürsorglichkeit beachtenswert gewesen. Diese an mich geschmiegte Nachsichtigkeit ließ mich in ohnmächtiger Ausweglosigkeit erschauern. Wie konnte ich mich dieser verbliebenen Menschlichkeit entziehen? Ich versuchte es mit Alkohol. Jeden Abend saß ich auf dem Sofa und vernichtete nicht für möglich gehaltene Mengen an Bier. Dann blieb ich zum Trinken am Küchentisch sitzen. Das fühlte sich deutlich trostloser an. Am Wochenende leerte ich auf diese Art zusätzlich eine Flasche billigen Schnaps. Sogar meine Arbeit hatte ich längst aufgegeben. Zwischenzeitlich verdingte ich mich als Aushilfskraft in Fabriken, suchte mir die unbeliebtesten Studentenjobs, verausgabte mich als Lagerarbeiter. Schließlich ließ ich es einfach ganz sein. Ich zog um. Problematische Hochhaussiedlung. Siebter Stock. Auf den Fluren unangenehme Gestalten und zu jeder Tages- und Nachtzeit Lärmbelästigung; dröhnende Fernseher, wummernde Bässe und immer wieder Geschrei. Bei Meinungsverschiedenheiten wurden Argumente entweder brüllend vorgetragen oder von Krach untermalt, der klang, als würde man eine Besteckschublade in Omas alte Vitrine schleudern. Kindergeschrei und Bummsgeräusche waren allgegenwärtig. Ich saß einfach nur da und wartete auf das allumfassende Rauschen, welches jede Nacht das Ende eines weiteren Tages markierte, wenn mein Kopf zwischen leeren Flaschen auf den Tisch sank. Erinnerungen wurden zum Problem für mich. Die Langzeitfolge fehlender Eindrücke waren erschreckend intensive Bilder der Vergangenheit, denen ich mich hilflos ausgesetzt sah und die mich echt fertigmachten.
Manchmal dämmerte ich im Zentrum meines geistigen Rückzugs dem Morgen entgegen und dachte an früher. Der sentimentale Midlife-Crisis-Aspekt dieser Situationen ärgerte mich und war mir peinlich. Aber mit der Zeit fühlte sich dieses hilflose Versinken in Erinnerungen beinahe unaushaltbar schlimm an, und wichtiger, als Schamgefühl zu verarbeiten war, nicht wahnsinnig zu werden. Ich saß am Küchentisch oder lag auf dem gammeligen Sofa, die Klamotten genauso ungewaschen wie ich selbst und starrte ausdruckslos ins Nichts, während meine Gedanken mich ins Zimmer meiner Jugend kerkerten. Wie es dort war, die müßigen Sommernachmittage im Haus meiner Eltern, irgendwann Ende der neunziger. Ich, auf den Hinterbeinen meines Schreibtischstuhls kippelnd, in ein Buch von Stephen King vertieft. Die Rollos zum Schutz vor der sommerlichen Hitze heruntergezogen, die Fenster einen Spalt geöffnet. Von draußen wehten gedämpfte Geräusche einer mittelschichtigen Reihenhaussiedlung herein. Ein Rasenmäher, Kinder in einem aufblasbaren Plantschbecken oder sowas. Im CD-Player das neue Album von Aerosmith. Nine lives. Genau dort saß mein vielleicht vierzehnjähriges Ich, zerfetzte Jeans, ausgeleiertes Megadeth T-Shirt, keine Socken. Der Stuhl knarzte bedrohlich vor sich hin, meine Füße lagen auf dem Schreibtisch und ich war vollkommen in Geschichten aus Derry, oder Castle Rock versunken. Allein die Erinnerung an den Duft der Buchseiten macht mich verrückt. Ich rasierte mich noch nicht, benutzte kein Deo, trug zerschlissene Turnschuhe und war einfach nur zufrieden. Ich spüre die Schamesröte in mir aufsteigen, wenn ich hier in meiner würdelosen Absteige denke, dass ich einfach nur wieder dorthin zurückwill. Ich will lesen, Musik hören. Sommerduft durch den Fensterspalt des Dachzimmers. Schmetterlinge im Bauch, wenn sich in der Schule irgendein belangloses Mädchen mit mir unterhält und ja, vielleicht auch mal einen Ständer, wenn ich an den Tanga der Blondine denke, die ein Jahr wiederholen muss und im Englischunterricht vor mir sitzt. Ich will mich in den Geschichten eines Schundschriftstellers, jedenfalls betiteln meine Eltern ihn so, verlieren und das Gefühl haben, dass mir ein Rock Song die Welt erklärt. Und an den Wänden meines Zimmers hängen Poster von Metalbands neben von der Sonne ausgebleichten Bildern von Goya. Und draußen werden Nachbarskinder im Plantschbecken spielen und niemals werde ich vor einem weißen Bildschirm sitzen, in einer Welt, die nur noch Rechnen und Programmieren kann.
An einem grauen Tag im November ist das Ende erreicht. Es ist ein Mittwoch. Ich stehe auf dem schäbigen Balkon meiner Wohnung und blicke hinunter auf die parkenden Autos, die kahlen Bäume, die beinahe menschenleeren Straßen. Es ist etwa eine Woche lang bitterkalt gewesen. Ungewöhnlich eigentlich, denn um diese Jahreszeit ist es sonst nur verregnet und viel zu warm, sodass man sich wünscht, es würde endlich schneien oder sowas. Aber die Temperaturen waren bereits deutlich unter den Gefrierpunkt gefallen und jeden Vormittag hatte mich eine penetrant blendende Sonne genervt, die aus einem stahlblauen Himmel herab schien. Heute ist es endlich grau und windig. Nicht mehr ganz so kalt, aber es fühlt sich sehr viel ungemütlicher an. Dass ist der Grund, warum ich überhaupt auf dem Balkon stehe. Ich halte mich eigentlich nie hier auf. Die wenigen Menschen, die ich sehe, gehen schnell, gebeugt, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Dann erblicke ich meine Partnerin. Schon von Weitem erkenne ich sie, wie sie mit festen Schritten auf den grauen Betonblock zugeht, in dem ich meine ereignislosen Tage absitze. Sie läuft bestimmt, aber keineswegs hastig, wie die anderen. Mit ihrer linken Hand umfasst sie auf Brusthöhe den Riemen ihrer Handtasche, ihre Rechte liegt etwas neurotisch auf besagter Handtasche. Aber sie macht absolut keinen unsicheren Eindruck. Ihre Haltung ist aufrecht, der Blick herausfordernd nach vorn gerichtet und sie scheint weder von der asozialen Gegend noch dem unfreundlichen Wetter beeindruckt. Sogar ihr langes, dunkelblondes Haar trotzt dem Wind. Wie so oft hat sie es geflochten und zu einem strengen Dutt gedreht. Sie trägt einen hellbraunen Daunenmantel, darunter eine hellblaue Jeans und einfache schwarze Schuhe. Ich weiß, dass es Stiefel sind, aber sie trägt sie unter ihrer Jeans. Außerdem haben sie keine Absätze. Sie ist relativ groß und möchte ungern alle anderen überragen.
So warte ich also auf meinem Balkon im soundsovielten Stock, schaue auf die Welt und die Frau meines Lebens herab, als mir ganz plötzlich etwas klar wird. Und was wird das schon für eine erstaunliche Erkenntnis sein? Sie wird sich von mir trennen. Natürlich wird sie das. Ich habe mich immer über ihre anhaltende Treue gewundert, mich schon zu Beginn gefragt, was sie überhaupt an mir findet. Bin ich ein soziales Experiment für sie? Ich habe diesen Gefühlen immer relativ gleichgültig gegenübergestanden, vielleicht sogar eher mit erwartungsvoller Spannung. Und jetzt, da es so weit ist, fühlt es sich so an, als fiele ich in ein schwarzes Loch. Lächerlich. Mir wird schwindelig, Übelkeit ist auch dabei. Die Gewissheit ändert alles. Sie wird ganz gemächlich die verbleibenden fünfundzwanzig Meter bis zur Haustür gehen, genauso wie die hundertfünfundzwanzig davor. Sie wird zweimal klingeln, wie immer. Wie immer nur, damit ich weiß, dass sie kommt, denn sie hat einen Schlüssel. Dann wird es zwei oder drei Minuten dauern, je nachdem, wo der Aufzug steckt. Dann ihre Schritte im Flur. Gleichmäßig, beruhigend. Aber diesmal werde ich nervös sein, Angst haben und bereits an der Tür stehen. Sie wird um die Ecke kommen, den Blick heben, und wir werden uns in die Augen sehen. Trotz ihrer Absichten ein mildes Lächeln. Wie so oft wird sie ihre Hand an meine Wange legen und mich sanft auf den Mund küssen, während ich einen Schritt zur Seite machen werde, um sie in die Wohnung zu lassen. Dann werde ich die Tür schließen und wir werden uns gegenüberstehen. Und dann wird es anders sein. Sie wird ihre Handtasche weiterhin festhalten, ihre Stiefel nicht ausziehen und den Mantel nicht ablegen. Ein sachlicher Augenaufschlag und mit fester Stimme die entscheidenden Worte. Aber was genau wird sie sagen? Wie wird sie es mir mitteilen? Ich weiß es nicht. In jedem Fall ohne Theater, ohne Vorwürfe, irgendwie plausibel und vernünftig. Diese Szene spielt sich vor mir ab und ich stehe immer noch irgendwo auf einem Balkon mitten im Nichts und alles ist einfach weg. Der Wind, der Tag, die Worte, ich. Und sie. Ich kann an nichts mehr denken, alles bröckelt und stürzt in den Abgrund. Das hätte ich nicht erwartet. Das kennen wir ja auch alles schon, ist doch immer derselbe alte Quatsch. Was soll dazu noch geschrieben werden? Ich schwindle an einem grauen Novembertag zwischen Plattenbau Balkon und der uninspirierten Idee irgendeines Trennungsschmerzes herum. Ist doch egal. Interessiert nach Ablauf einer beliebigen Zeitspanne kein Schwein mehr, ist mir eigentlich jetzt schon wieder egal, egal, egal. Ist doch wunderbar! Als mir der Gedanke kommt, dass ich mich auch einfach damit abfinden könnte, mit ihrem Wunsch, mich zu verlassen, meine ich, fühle ich mich von einem Augenblick zum nächsten wie befreit, ja nahezu euphorisch. Eine mir beinahe unbekannte gute Laune beflügelt all mein Denken, gibt mir Kraft, lässt mich ohne Zögern in die Zukunft blicken. Ich richte mich auf, trete einen Schritt nach vorn, lege beide Hände auf das Geländer des Balkons und grinse dämlich in die Welt hinaus. Und ich weiß überhaupt nicht, wie lange ich dort stehe und auf einmal ist sie schon in meiner Wohnung, sagt einfach „hi“ auf den Balkon hinaus, ich drehe mich um, sie sieht mich mit ihrem milden Lächeln an, eventuell leicht verwundert, ihre Hand am silbernen Griff der Balkontür; sie hat schöne Hände, perfekt unaufdringlich manikürte Fingernägel und sie hat ihren Mantel und die Stiefel bereits ausgezogen, zu ihrer hellblauen Jeans trägt sie einen cremefarbenen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt; ich lache etwas verlegen, gehe die zwei Schritte zu ihr und wir küssen uns sanft. Dann stehe ich in meiner Wohnung, draußen ist es bereits dunkel. Sie muss das Licht im Flur angelassen haben, die Tür ist nicht ganz geschlossen und das Wohnzimmer breitet sich in gemütlicher Stimmung um uns herum aus. Sie liegt so gut wie nackt (halterlose Seidenstrümpfe) und komplett tot (erwürgt) auf dem Teppich, während ich im Kopf den Inhalt meiner Besteckschublade durchgehe, auf der Suche nach einem Werkzeug für mehr Dramatik. Das ist einfach nicht drastisch genug. Kein Blut ist nicht gut. Sie trägt sowas nicht, weil sie es für besonders verführerisch hält, sondern ganz sachlich. Die Strümpfe meine ich. Zu kalt für normale Socken, alle Strumpfhosen in der Wäsche und außerdem die Stiefel. Nachdenklich gehe ich in Richtung Küche. Mein Sperma rinnt träge an der Innenseite ihres toten linken Oberschenkels herunter auf den Teppich. Ich komme zu dem Schluss, dass ich erstmal was Entspannendes machen sollte. Duschen, Rauchen oder sowas. Und dann werde ich endlich Schreiben.
Eine leere Seite. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe. Ich weiß weder, wer ich bin, noch was ich tun soll. Ich bin vollständig verschwunden, komplett Klischee, nur Vergangenheit. Wie ist es dazu gekommen?