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Weglaufen
Sie wollte weglaufen. Ja das war das was sie sich vorgenommen hatte. Jeden Tag aufs Neue hatte sie es sich überlegt. Was wäre wohl wenn sie eines Morgens nicht mehr in ihrem Zimmer war? Wer würde nach ihr suchen? Niemand. Da war sie sich sicher. Einfach loslaufen. Das wäre doch was. Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihren düsteren Gedanken. „Margarita was machst du eigentlich schon wieder die ganze Zeit in deinem Zimmer?“ Margarita. Sie hasste diesen Namen. Was hatten sich ihre Eltern nur dabei gedacht? Es erinnerte sie immer an eine Art Butter. „Margarita, ich rede mit dir!“, ertönte die Stimme ihrer Mutter erneut. „Meggi! Sag nicht immer Margarita. Und ich lerne. Soll ich doch sagst du immer!“ Meggi hörte wie ihre Mutter genervt schnaubte und dann über die quietschenden Dielen davon ging. Es war das alte Spiel. Immer war es so. Jeden Tag aufs Neue. Sie konnte es so oder so keinem Recht machen dachte Meggi. Wenn sie in ihrem Zimmer saß und lernte oder ihren Gedanken nachhing kam ihre Mutter und beschwerte sich dass sie bei „diesem wunderschönen Sonnenschein“, wie ihre Mutter immer so gern sagte, im Haus saß. War sie dann einige Tage hintereinander nicht zuhause weil sie mit Freunden unterwegs war dann hieß es: „Setz dich mal wieder an deine Bücher oder willst du später mal auf der Strasse landen?“ So war es immer und Meggi war sicher dass es auch immer so sein würde.
Da traf sie endgültig den Entschluss. Sie würde hier nicht bleiben. Klar sie war erst gerade 15 geworden aber was machte das schon? Sie war alt genug um selbst zu entscheiden und so entschied sie. Morgen würde sie nicht mehr hier sein. Dieser Gedanke zauberte ein kleines Lächeln auf ihre Züge. Dann wurde sie wieder ernst. Vielleicht war es falsch. Vielleicht war sie zu empfindlich. Sie eilte aus ihrem Zimmer. Die Treppe hinunter. Vielleicht sollte sie mit ihrer Mutter noch mal reden. Noch mal versuchen zu erklären was in ihr vorging. Dann würde alles gut werden. Sie sprang die letzten Stufen hinunter und wollte gerade nach ihrer Mutter rufen als diese verwundert aus der Küche schaute. Missbilligend musterte sie ihre Tochter. „Was ist denn nun schon wieder dass du hier durch das Haus rennst wie eine Verrückte?“, fragte sie genervt. „Ich wollte mit dir reden wegen…“, setzte Meggi an „Über was denn schon wieder? Mehr Taschengeld? Oder was passt dir wieder nicht? Du bist wie dein Vater du kannst immer nur meckern. Du…“, unterbrach ihre Mutter sie. Dann brach sie den Satz ab. Vater war nach Hause gekommen. „Hallo Margarita.“, sagte er als er achtlos an ihr vorbei in die Küche schlappte. Meggi murmelte ein kleines Hallo und zog es dann vor sich außer Reichweite zu bringen. Der Streit würde gleich wieder losgehen. Das wusste sie. Und kaum hatte sie das gedacht hörte sie auch schon wie die Stimmen ihrer Eltern immer lauter wurden. Es war immer so. Vater kam nach Hause und Mutter meckerte an irgendetwas herum. Das er den Müll nicht hinausgetragen hatte oder das er immer noch die gleiche schlechte Stelle in seiner Firma hatte. Er hätte keinen Ehrgeiz sagte sie dann. Vater hörte sich meist die Vorwürfe an und wartete ab. Dann erhob auch er seine Stimme und begann auf Meggi´s Mutter einzuschimpfen. Sie könne sich ja selbst einen Job suchen schließlich seien die Kinder längst alt genug. Die Kinder. Ja dachte Meggi. Die Kinder. Das waren sie und ihr älterer Bruder. Er war schon 18 und sowieso nie zuhause. Wieso auch? Er hatte seit fast zwei Jahren eine Freundin und Meggi war sicher er würde bald ganz zu ihr ziehen. Früher hatten sie sich gut verstanden. Als sie noch Kinder waren. Nicht so wie es normalerweise zwischen Geschwistern war mit den ständigen Zickerein und solchen Dingen. Nein richtig wie Freunde. Aber das war nun schon längst vorbei. Zu ihm konnte sie nicht gehen. Und zu sonst auch keinem dachte Meggi. Ihre einzige wirkliche Freundin war vor einem Jahr weg gezogen und auch wenn sie gesagt hatte es würde sich nichts ändern hatte es sich natürlich doch geändert. Sie sahen sich höchstens an den Geburtstagen der gemeinsamen Freunde und auch da war es wie als wäre eine neue unbekannte Wand zwischen ihnen. Auch zu ihr würde sie nicht gehen. Aber hier bleibe ich nicht, dachte sie wieder.
Sie hatte sich zurück in ihr Zimmer verzogen und die Tür hinter sich geschlossen. Wie war sie eigentlich drauf gekommen mit ihrer Mutter noch mal sprechen zu wollen? Das wusste sie selbst nicht so genau. Vielleicht dachte sie ihre Mutter gäbe ihr einen Grund um doch zu bleiben. Das sie sie in den Arm nahm und sagte sie wäre froh dass sie hier wäre? Nein das gab es hier nicht. Meggi holte ein Stück Papier hervor. Vielleicht sollte sie etwas hinterlassen wenn sie schon einfach ging. Damit sich niemand sorgte überlegte sie. Sie setzte sich mit angezogenen Knien auf ihr Bett und begann zu schreiben. Liebe Mama lieber Papa… nein das war ein dummer Anfang. Mit der Zeit stapelten sich die zerknüllten Blätter neben ihrem Bett. Mit keinem Satz war sie zufrieden. Als ihre Mutter sie zum Abendessen rief war sie immer noch nicht weiter gekommen. Sie gab es auf. Beim Essen brachte sie fast keinen Bissen hinunter. Die Aufregung war zu groß. Ihre Mutter betrachtete dies mit einem missbilligenden Blick. Sie sagte nichts. Insgesamt sagte niemand etwas. Alle waren still heute. Auch als Meggi´s Bruder verspätet zum essen eintraf sagte niemand etwas. Ben wie Meggi ihn nannte setzte sich still auf seinen Platz und begann zu essen. „Benjamin, schling nicht so!“, ermahnte ihn Mutter. Benjamin, der seinen Namen genauso fürchterlich fand wie Meggi ihren nickte kurz und nahm sich das nächste Brot. Sollte sie es ihm sagen? Er würde sich doch Sorgen machen oder? Meggi blickte ihren Bruder nachdenklich an. Nein sie würde nichts sagen. Niemandem. Sollten sie doch suchen. Sollten sie sich doch wundern. Meggi würgte den letzten Bissen hinunter und stand dann wortlos auf. Vater blickte kurz von seiner Zeitung auf, die er immer zum Abendbrot las. Aber er sagte nichts und widmete sich wieder voll und ganz seiner Lektüre.
Kurz nachdem Meggi sich zurück in ihr Zimmer verkrochen hatte hörte sie schon die Schritte ihres Bruders. Kurz darauf ging seine Zimmertür. Unten wurden die Stimmen wieder lauter. Meggi betrachtete den Stapel aus zerknülltem Papier. Machte es überhaupt einen Sinn einen Brief zu schreiben? Würde ihn jemand lesen? Sie legte ihren Block neben sich. Nein das würde niemand entschied sie. Nur noch ein paar Stunden und sie war endlich weg von hier. Sie holte ihren Rucksack hervor und packte ein paar Dinge ein die ihr wichtig waren. Auf Kleider verzichtete sie großteils. Unten wurden die Stimmen leiser. Der Streit war vorbei. Wenigstens für den Moment. Sie hörte wie ihre Mutter mit schnellen Schritten die Stufen herauf kam und kurze Zeit später mit einem Knall die Badezimmertür hinter sich zuwarf. Dann hörte sie die energischen Schritte ihres Vaters auf der Treppe. Er ging ins Schlafzimmer. Wie immer dachte Meggi. Nun wurde es ruhig im Haus. Die Zeit schien immer langsamer zu vergehen. Meggi wollte um 5 Uhr aufbrechen. Noch bevor die Nachbarn aus dem Haus gingen. Das war der Plan. Sie schlief in dieser Nacht nicht. Immer wieder schaute sie auf den Wecker. Die Minuten schienen Stunden zu dauern und als es endlich kurz vor fünf war, war Meggi längst angezogen und hatte alles fertig gepackt. Die zerknüllten Papiere hatte sie unters Bett verschwinden lassen. Auf dem Block stand einfach nur: „ich halte es nicht mehr aus!“ Meggi schnappte ihren Rucksack und schlich aus ihrem Zimmer. Die Treppe runter. Aus der Haustür. Die kalte Nachtluft schlug ihr entgegen. Die Laternen waren gedimmt und nicht alle brannten. Es war düster. Meggi war noch nie um diese Uhrzeit allein draußen gewesen. Noch nie. Es war irgendwie unheimlich. So einsam. So einsam wie sie selbst. Plötzlich kamen ihr Zweifel. Hätte sie mit ihrer Mutter sprechen sollen? Mit ihrem Vater? Mit Ben? Hatte sie es einfach nicht versucht? Doch das hatte sie. Oft genug. Heute erst. Und wieder hatte ihr niemand zugehört. Wieder wollte niemand sehen wie sie sich fühlte. Sie lief schneller. Vielleicht hatte jemand die Tür gehört. Vielleicht war ihre Mutter hinter ihr. Waren da nicht Schritte? Sie begann zu rennen. Immer weiter. Wohin eigentlich? Einfach weit weg. Die Straße runter. Als sie die Hauptstraße erreichte blieb sie stehen. Niemand war zu sehen. Nicht mal hier. Sie drehte sich um. Niemand. Es war kalt. Aber nicht nur die Luft lies sie frösteln. Auch innerlich hatte sie eine Kälte ergriffen die sie nicht kannte. Sie hatte gedacht sie würde sich besser fühlen. Aber sie fühlte sich nur einsam. Aber jetzt war es zu spät. Sie hatte entschieden. Sie lief weiter. Sie würde nicht umdrehen. Sie würde nicht wieder zurückkehren. Ihr Blick fiel auf die U-Bahn Station. Das war die Idee. Bevor jemand merkte dass sie nicht mehr da war, war sie weg von hier. Eine andere Stadt. Etwas Größeres als diese Vorstadt hier. Mehr Menschen. Neue Leute. Neue Chancen. Sie stieg in die nächst beste Bahn und lies sich auf einen Sitz fallen. Nun holte sie die Müdigkeit ein und ehe sie es sich versah war sie eingeschlafen.
„Endstation Kleine!“, ertönte eine Stimme. Meggi blickte auf und sah sich dem verständnislosen Gesicht des Schaffners gegenüber. Sie nickte packte ihre Sachen und stieg aus. Hier war sie noch nie gewesen. Es war gerade hell geworden. Die ersten Menschen kamen aus ihren Häusern. Eilten umher. Achtlos. Niemand sah sie. War sie unsichtbar? Ziellos irrte sie umher. Eine Straße glich der anderen. Die Zeit begann zu rasen. Sie sah fremde Menschen mit steinernen Gesichtern. Und vereinzelt, ganz selten, Eltern mit ihren Kindern. Sie lachten nicht. Sie hatte früher oft gelacht mit ihren Eltern. Es war schön gewesen. Sie, Ben und ihre Eltern. Und plötzlich wurde es ihr klar. Das hier war schlimmer als ihr zuhause. Schlimmer als alles vor dem sie weggelaufen war. Die Menschen hier waren kalt. Ihre Herzen verschlossen. Diese Leere hatte sie bei ihren Eltern nie gesehen. Diese kalten leeren Augen der Menschen hier. Der Mütter und Väter, die der Kinder. Das kannte sie nicht. Da war kein Gefühl. Nichts. Nur Leere. Leere düstere Augen. Ihr Handy klingelte. Es war ihre Mutter. Sie suchte nach ihr! Sie vermisste sie! Meggi wollte nach Hause. Hier weg. Schnell. Sie rannte los. Reifen quietschten. Jemand hupte. Eine Woge aus Lärm umschloss sie. Glas splitterte. Irgendjemand rief etwas. Sie konnte es nicht verstehen. Alles drang an ihr Ohr wie durch eine dicke Schicht aus Watte. Sie lag auf dem Boden. Warum? Was war passiert? Sie erinnerte sich nicht. Ihr Kopf tat weh. Ihr Kopf und ihre Beine. Und Arme. Alles. Sie schmeckte Blut. Sie erkannte nichts. Sirenen. Irgendwo waren Sirenen. Sie kamen näher. Alles drehte sich. Dann wurde es still. Sehr still. Zu still. Sie hörte nichts mehr.
Aufgeregte Stimmen. Verschwommene Gesichter. Helles Licht. Das war alles. Mehr erkannte Meggi nicht. Wo war ihre Mutter? Ben! Wo waren denn alle? Wo war sie selbst? Sie wollte rufen. Es ging nicht. Es war zu spät.
„Verzeih mir, Mama.“, flüsterte sie.
Es war Freitagnachmittag. Alle trugen schwarz. Es regnete wie es lange nicht mehr geregnet hatte. Meggi´s Mutter musste gestützt werden. Vater ging alleine. Ben hielt Meggi´s Teddy im Arm. Alle waren sie gekommen. Meggi´s Freunde. Ihre beste Freundin. Ben. Ihre Eltern. Sogar ihre Lehrer und die Nachbarn. Alle schwiegen. Männer im Anzug trugen einen weißen Sarg. Geschmückt mit Rosen. Meggi liebte Rosen. Still wurde der Sarg hinab gelassen. Keiner sagte ein Wort aber alle versuchten leise das Gefühl von Schuld mit den Rosen ins Grab zu werfen. Alle gingen. Nur Ben blieb. Er warf den Teddy in das Grab. „Wärst du doch nur zu mir gekommen.“, sagte er leise und mit Tränen in den Augen.