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Wegen Todesfalls geschlossen
Die Leute, denen der Herr im Regenmantel, mit aufgespanntem Schirm begegnete, schauten verwundert. Wie in den Vortagen war auch heute wieder ein Hitzetag ohne Aussicht auf ein abkühlendes Gewitter.
Manch einer der Passanten verzog feixend sein Gesicht, wenn Siegbert Todt an ihnen vorbeieilte. Da bemerkte er den Schirm in seiner Hand, schaute auf die leichte Sommerkleidung der andern Leute und blickte zum Himmel. Schnell entspannte er den Schirm, den Griff über den angewinkelten Arm hängend. Auch der Mantel ist deplatziert, wurde ihm klar. Er konnte sich nicht erinnern, weshalb er zu Schirm und Mantel griff, nicht einmal, was er vor Kurzem tat oder dachte.
Das Rollgitter vor der Ladenfront des Juweliergeschäfts war heruntergelassen. Er spähte durch die Glasscheibe in den Ladenraum. Trotz vormittäglicher Stunde war nur die reduzierte Beleuchtung eingeschaltet und niemand zu sehen. Da erst bemerkte er die an der Tür angebrachte Mitteilung: «Wegen Todesfalls geschlossen.»
Warum hat mein Sohn mich nicht benachrichtigt, dass jemand verschieden ist? Es kann sich nur um Frau Wittwer handeln. Ich hatte ihr ja immer geraten, weniger Süssigkeiten, dafür mehr Gemüse und Früchte. Na ja, einmal trifft es uns alle.
Sich dem Restaurant Strohhof nähernd, in dem er regelmässig im Altherrenkreis einen Frühschoppen einnahm, hörte er gedämpfte Stimmen aus dem Garten. Da sassen sie, die anderen Ruheständler, mit denen sich gut lachen und streiten liess. Irgendwas, das die Gemüter erregte, fanden sie immer.
Mit einem «Guten Morgen, meine Herren», setzte er sich auf einen freien Stuhl.
«Guten Morgen. Dies ist ein Stammtisch!», bemerkte Hartmut.
«Ich weiss, darum bin ich ja auch hier. Bin ich nicht mehr willkommen?» Was ist mit denen los, sie blicken so mürrisch?
«Wie ist Ihr Name?»
«Seit meiner Geburt, Siegbert Todt.»
Hansjörg sass ihm direkt gegenüber und starrte ihn mit halb offenem Mund an. Auch in den Gesichtern der andern war ein Ausdruck, der ihm rätselhaft vorkam. Verwirrung, Betroffenheit oder was auch immer. Zum Teufel! Wollen die mich veralbern?
«Jetzt weiss ich es, Sie sind Adelbert Todt, der Cousin von Siegbert», sagte Hartmut. «Er erzählte uns manchmal von Ihnen, Ihrem speziellen Humor, den er gerne mochte.»
Die Altherren setzten zu einem gedämpften Lacher an.
Die haben es heute wirklich auf mich abgesehen. Wahrscheinlich haben sie schon ein paar Gläser Bier intus.
«Ist das Beerdigungsdatum schon festgesetzt?»
Verwundert schaute Todt Gustav an, der ihn fragte. «Von wem?»
«Natürlich von Siegbert.» Auf Gustavs Stirn waren zwei steile Falten getreten, als ob ihn die Gegenfrage verärgerte.
Todts Verunsicherung war nun komplett. Die müssen verwirrt sein. Am besten reize ich sie nicht und antworte, wie sie es erwarten.
«Nein der Termin ist noch nicht festgesetzt.»
«Wir haben vorsorglich schon den Kranz bestellt», bemerkte Gustav. Die andern nickten bestätigend.
«Ich muss mal kurz austreten.»
Vor dem Spiegel betrachtete sich Todt intensiv. Das Gesicht ist etwas eingefallen, die Backenknochen hervorstehend. Hm, etwas fremd bin ich mir schon, aber nicht derart, dass ich mich selbst nicht erkenne. Na ja, die eine oder andere Falte ist heute ausgeprägter. Die Haut gräulich-fahl und fleckig, die Augenringe stärker, ich muss unruhig geschlafen haben.
Im Schankraum begegnete er der Serviererin. «Erika, bringst du mir bitte ein Helles. Nein besser gleich sechs, für die ganze Runde.»
«Gerne, der Herr!»
Auch sie! Was ist nur los? Sie kannten sich seit Jahren und sie nannte ihn schon lange beim Vornamen.
Am Stammtisch verstummte das Tuscheln schlagartig, als er wieder im Garten erschien. Hinter ihm kam auch schon Erika mit den sechs Gläsern Bier.
«Zum Wohl die Herren».
«Trinken wir auf Siegbert», warf Ulrich ein.
«Auf Siegbert», erklang es im Chor und sie erhoben ihre Gläser.
«Es ist schon überraschend, dass er als Erster gegangen ist», begann Hartmut. «Er war doch nicht krank?»
Alle blickten auf Todt.
«Nun wer von euch hat nicht seine Zipperlein? Das ist doch normal in unserem Alter. Aber eine akut gefährliche Krankheit hatte er nicht. Auch sein Herz war robust. Klar waren die Atemzüge etwas hastiger, wenn er Treppen stieg. Aber eine Ursache, ausser der natürlichen Organalterung, ist mir nicht bekannt.» Erst als er endete, wurde ihm bewusst, dass er gesprochen hatte, als ob er ein Anderer wäre. Der Adelbert, wie die anderen meinten. Die verwirren mich noch total.
Auf dem Nachhauseweg blieb er vor einem spiegelnden Schaufenster stehen und begutachtete sich nochmals. Es muss an der Hitze liegen, die denen nicht bekommt. Dabei, mir macht diese nichts aus, ich finde es eher noch ein wenig zu kühl. Er schüttelte den Kopf. Adelbert und ich haben nur eine geringe Ähnlichkeit. Na ja, heute vielleicht mehr als auch schon. Mit den Fingern betastete er sein Gesicht, das sich leblos anfühlte. Aber, wie konnten die mich überhaupt mit ihm verwechseln? Die hatten ihn ja gar nie kennengelernt!
An der Haustür musste er klingeln, da er seinen Schlüssel nicht bei sich trug. Roswitha, die Haushälterin, öffnete. Das Dunkel der Augenringe war nicht zu übersehen. Wenn sie jünger wäre, würde ich bei ihr glattwegs auf eine ausgelassene Nacht tippen. Er grinste innerlich.
«Ja der Herr, Sie wünschen?»
Todt wollte sich schon ärgern, dass auch Roswitha anscheinend an diesem dummen Spiel ihm gegenüber teilnahm. Doch schnell überlegte er es sich anders. «Mein Name ist Todt, ich möchte gern zu Herrn Todt.»
Roswitha zeigte sich nicht überrascht.. «Ach, Sie sind ein entfernter Verwandter. Darf ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.» Ihn eintreten lassend, nahm sie ihm Schirm und Mantel ab.
Sie erkennt mich wirklich nicht und denkt auch, ich sei tot, das ist verrückt. Im Haus herrschte Totenstille. «Ist denn niemand der Familie hier?»
«Nein, der junge Herr Todt ist unterwegs und kümmert sich um die Formalitäten und die Begräbnisvorbereitung. Und seine Frau ist mit den Kindern nach Hause gegangen, da sie hier ja weiter nichts tun kann.»
«Und die übrigen Verwandten?»
«Die wurden alle über den überraschenden Hinschied orientiert und werden zur Beerdigung anreisen. Nur Herr Adelbert Todt hat seine Ankunft schon für heute Nachmittag angekündigt. Aber die genaue Zeit weiss ich nicht.»
Unschlüssig blieb Todt stehen, er kam sich im eigenen Haus wie ein Fremder vor.
«Kommen Sie, ich führe Sie hinauf. Er war so ein herzensguter Mensch.» Mit einem Taschentuch tupfte sie Tränen weg.
Todt trat in sein Schlafzimmer. Mit vor Staunen offenem Mund stand er am Bett und sah auf den Toten hinab. Kein Zweifel, da liege ich. Die Stunde war gekommen und ich merkte es nicht mal. Aber wenn es an der Zeit war, hat es schon seine Richtigkeit. Der Gedanke erheiterte ihn so sehr, dass er in ein lautes Lachen ausbrach, dies dann aber abrupt absetzte. Was muss Roswitha sich denken?
Er fühlte sich plötzlich erschöpft, wie ausgelaugt. Schwindel liess ihn schwanken. Ich brauche ein wenig Ruhe, nur einen Moment. Vorsichtig legte er sich neben dem auf dem Bett liegenden Körper. Unmöglich, es kann nicht sein, ich lebe doch! Todt überlegte, wie er sich nun verhalten, sich Roswitha und vor allem seiner Familie gegenüber erklären sollte. Seine Hand tastete nach der des Leichnams. Dessen Körper war ihm jedoch nicht fühlbar, vielmehr schoben sich seine Finger in die Hand von dessen Körperhülle. Als er seine Hand zurückziehen wollte, kam auch der Arm des Leichnams mit, als ob sie wie siamesische Zwillinge zusammengehörten. Beim heftigen Versuch sich zu lösen, vermengten sie sich mehr und mehr zu einem einzigen Körper. Todt wurde von einer unüberwindbaren Müdigkeit ergriffen, der Schlaf übermannte ihn. Er hatte den Platz des Toten eingenommen.
Roswitha klopfte leicht an die Tür und öffnete. Der Besucher war nirgends zu sehen. Er ist wohl gegangen, ohne dass ich es bemerkte. Merkwürdig. Auch wie er lachte, als er vom gnädigen Herrn Abschied nahm. Sie trat an die Totenstatt, die erloschenen Flammen der beiden Kerzen am Bettende neu entzündend. Gleichmässig und ruhig züngelten sie. Der Tote lag mit friedlichem Ausdruck da. Ach der Herr Todt war immer so ein liebenswürdiger und guter Mensch. Wenn er sich so selig dahingeschieden sehen könnte.